Kapitel 1

Willi Bredemeier/Gerda Bredemeier

Der andere Heimatroman

Bildungsreisen durch ein unbekanntes Land

1943–2018

 

2020

Simon Verlag für Bibliothekswissen

© 2. überarbeitete Auflage 2020 Simon Verlag für Biibliothekswissen, Berlin

 
Simon Verlag für Bibliothekswissen

Riehlstr. 13

                                                     14057 Berlin Deutschland www.simon­bw.de

ISBN 978­3­945610­52­7

 

 

Meiner Tante und meinem Onkel, Sophie und Heinrich Meier in Steinbrink, gewidmet.

Sie retteten mein Leben und ich wusste es nicht.


 


Inhalt

 

1.   KAPITEL 1626–2018

Erinnerungen eines Mamakindes 

 

2.  KAPITEL 1943–2013

1000 tote Geschichten von der Liebe zum Land
 

3.  KAPITEL 1945–1950

Eine andere Welt aus Worten, Bildern und Geschichten

 

4.  KAPITEL 1957 UND VORHER

Nazis und Juden (1)

5. Kapitel

Das proletarische Ruhrgebiet vor dem Untergang


6. KAPITEL 1954 ff.

Der Untergang des proletarischen Ruhrgebiets


7. Kapitel 1955-1958

Versicherungswirtschaft im Ruhrgebiet: Die umfassende 

Unterforderung


8. Kapitel 1955-1958

Die Versicherungswirtschaft im Dreifrontenkrieg gegen 

Innendienst, Außendienst und Versicherungsnehmern

 

9.   KAPITEL 1958

Am Abgrund

 

10.  KAPITEL 1958–1965

Die letzte Zuflucht 

 

11.   KAPITEL 1965–2013

Schere im Kopf, Langeweile im Nacken


12. Kapitel 1968 - 1982

Die Verdreifachung des Lebens: Revolution, Planstelle, 

Wissenschaftskonsumption

 

13.  KAPITEL 1971–1980

Politikberichterstattung auf Kosten des Ruhrgebiets

 

14.  KAPITEL 2018 UND FRÜHER

Nazis und Juden (2)

15. Kapitel 2018

Alle diese Geschichten 


Die Autoren

 

 

VORWORT

 

Heimat – die Renaissance eines Begriffes schlägt sich in bäuerlich romantischen Filmchen zur besten Sendezeit im ARD und ZDF nieder. Heimat – eine heile Welt, in der der Ehrliche immer siegt und es keine Niederlagen der guten Tradition (der guten alten Zeit) gibt. Fleiß wird belohnt, Faulheit bestraft und grade Wege führen immer zum Erfolg. Gut zum Träumen!

 

Dieser andere Heimatroman ist nicht zum Träumen. Er zeigt die Ent wicklung eines Bundeslandes an Hand eines Romans unter Herausziehung biografischer Elemente, von der Kriegs­, Nachkriegs­, Aufbau zeit zur gegenwärtigen Krise – politisch, sozial und kulturell. Trotz der Hilfe für Migranten und der Ruhrfestspiele ein leiser, sich schon früh ankündigender Niedergang, den nichts aufzuhalten scheint und der doch verschwiegen und verdrängt wurde. Es geschah nichts und es geschieht nichts, um diesen leisen Tod aufzuhalten. So scheint es. Dieses Resümee eines Lebens ist die Hoffnung für die Zukunft, Hoffnung für ein Land in der Bundesrepublik Deutschland, Hoffnung wegen dieses Menschen, dessen Biografie den Untergrund dieses Buches bildet.

 

Hier wächst ein Kind auf, ohne Mutter, ein unterdrücktes, aber nie vergessenes Trauma. Eine Nachfolgefamilie und eine Stiefmutter, die nur aus wirtschaftlichen Gründen sich mit dem Vater zusammengetan hat und dessen Sensibilität ausnutzend nur versucht, ihr Leben auf eine bessere wirtschaftliche Grundlage zu stellen. Dieses wird nicht verurteilt in einer Zeit, in der Überleben die Leitlinie jedes Handelns wurde. Aber in dieses Leben wird dieser Junge gestellt, der seine Kindheit unter Verwandten auf dem Land verbracht hat, bei dem andere Strukturen seinen Tag bestimmten. Ohne es zu definieren, spürt man die große Einsamkeit dieses Jungen. Nicht wegen der kargen materiellen Grundlage, sondern wegen des Mangels seiner Umgebung an Hingabe. Nicht Eltern, Lehrer, Freunde und Ver wandte sind Ansprechpartner und Freunde dieses Jungen, sondern Bücher und diese werden besorgt, gekauft (wenn es möglich ist) und auch gestohlen. Dadurch lernt er, seine Umgebung genau zu beobachten. Winkelzüge, Ausreden, Märchen des täglichen Lebens sind bei ihm verloren, er hat sich Lebenserfahrung angelesen.

 

Über 70 Jahre dauernde Beobachtung eines Landes, das in der deutschen wechselvollen Geschichte eine große Rolle spielt, hat einen Menschenschlag hervorgebracht, den die Hauptperson aufs Schönste verwirklicht. Witzig, ironisch, ohne Selbstmitleid und aufs äußerte entschlossen zu überleben – trotz alledem.

 

Bei der Überarbeitung des 2014 erstmalig erschienenen Romans ge wann die Mitwirkung von Gerda Bredemeier derart an Bedeutung, dass Willi und Gerda Bredemeier nunmehr gemeinsam als Autoren zeichnen.

 

Berlin 2020

Elisabeth Simon

Simon Verlag für Bibliothekswissen


 

1. KAPITEL 1626–2018

 

 

Erinnerungen eines Mamakindes

 

Als Kind habe ich meine Mama gesucht und nicht wiedergefunden. Als Erwachsener suchte ich weiter, obgleich ich wusste, ich würde erfolglos sein. Später dachte ich, ich könne allmählich beginnen, neue Beziehungen zu knüpfen. Das habe ich mit wechselnden Erfolgen versucht. So geht in vier Sätzen meine Geschichte.

 

Drumherum lassen sich Fragen stellen: Warum sehe ich die Dinge anders als andere Leute? Bin ich traumatisiert? Habe ich mich nicht aus eigener Kraft aus dem Sumpf in das Licht gezogen? Oder bin ich als einziger in der Lage zu erkennen, wie die Verhältnisse sind? Offenbarte ich mich, wie ich mich gelegentlich überschätze, schriebe man mir eine schwerwiegende Variante des Wahnsinns zu.

 

Ich kann meine Geschichte auch in vielen Sätzen erzählen. Dann be gänne ich damit, dass ich ein doppeltes Mamakind bin. Einfache Mamakinder sind Kinder, die sich an die perfekte Symbiose mit ihrer Mutter im Mutterleib erinnern. Wir nennen diese Symbiose das Urparadies.

 

Unsere Vorstellungen von der umfassenden harmonischen Gemeinschaft und vom Sozialismus, der mit eherner Notwendigkeit wiederkommen muss, stammen aus dieser Zeit. Während der Studentenrevolte debattierten wir in verräucherten Nächten, wie die perfekte Gesellschaft durch uns wiederherzustellen sei. Tatsächlich meinten wir immer nur die umfassende Einheit mit unseren Müttern. Als wir uns im Mutterleib befanden, waren wir glücklich. Wir gaben das empfangene Glück an unsere Mütter zurück. Wir kommunizierten höchst differenziert auf vegetativer Ebene.

 

Das fürchterlichste aller Erlebnisse ist die Geburt. Die Trennung von der Mutter zerreißt dem Kinde das Herz. Wie können wir glücklich werden, nachdem wir solches erlebt haben?

 

Ein doppeltes Mamakind ist ein Kind, das seine Mama zweimal ver loren hat. Wie das geschehen ist, daran erinnert es sich nur in Fragmenten. Oder es bildet sich diese Splitter ein, weil es sich ganz ohne Erinnerungen an möglichst plastische Bilder schwer aushalten lässt. Ein doppeltes Mamakind ist nicht damit einverstanden, dass es seine Mama verloren hat. Das ist allerdings so, als ob man ununterbrochen protestierte, dass man irgendwann stirbt. Da es seine Mutter nicht wiederhaben kann, verbringt es sein Leben damit, die Bruchstücke seiner womöglich nur eingebildeten Erinnerungen zu­ sam menzukitten. Sollte daraus ein vollständiges Bild entstehen, möchte es einen Altar errichten und das Bild daraufstellen. Dazu wird es nicht kommen.

 

Eines allerdings weiß ich mit Sicherheit: Was immer geschehen sein mag, meine Mutter kann nichts falsch gemacht haben.

 

2.

 

Ein Mamakind darf nicht mit einem Muttersöhnchen verwechselt werden. Muttersöhnchen sind auch traumatisiert, aber so, dass sie sich nicht an das Urparadies mit ihrer Mutter erinnern. Sie sind unfähig, die Liebe, die sie durch ihre Mutter erfahren, an sie oder einen anderen Menschen zurückzugeben. Vielmehr nutzen sie erst die Mutter und danach die gesamte Welt aus. Muttersöhnchen werden für ihr späteres Leben nicht durch das Urparadies, sondern durch die Ursituation am Wickeltisch determiniert. Kaum ist das künftige Muttersöhnchen auf die Welt gekommen, liegt es auf dem Tisch und schreit sich die Seele aus dem Leib. Rund um den Wickeltisch findet sich eine Gesellschaft zusammen, um das Baby zu versorgen. Keiner will wissen, in was für ein Monster das Baby sich später verwandeln mag.  Sobald sich die Gesellschaft am Wickeltisch kümmert, liefert das Baby eine Gegenleistung ab, indem es nur da ist. Dadurch wird die Gesellschaft erfreut. Diese Gegenleistung wird mit den Jahren auf null reduziert. Wer könnte einen Zwei­Zentner­Moloch süß finden? Das Baby lernt in den kommenden Monaten vor allem zwei Dinge: Es kann selbst nichts Konkretes bewirken. Es ist ein Leichtes, die Umwelt zu bewegen, etwas für das Baby zu tun. Es muss nur ein Geschrei machen. Sobald sich die Gesellschaft rund um den Wickeltisch (oder später den Chefsessel) auf vorauseilenden Gehorsam eingestellt hat, reicht ein Gequengel.

 

Innerhalb der Gesellschaft zur Versorgung des Wickelkindes steht an vorderster Front herrschend, koordinierend und aus vollem Herzen liebend die Mutter. Wenn ein „Du, du“ nicht reicht, nimmt sie das Baby auf den Arm und gibt es womöglich in andere Arme weiter. Es ist ein Privileg und ein besonderes Glück, das Baby halten zu dürfen. Wenn alles nicht hilft, legt die Mutter das Baby an die Brust. Oder sie gibt ihm das Fläschchen. Gierig nuckelt und schaufelt das Baby Welt in sich hinein. Anders als im Mutterleib geht es weniger um die Entwicklung und Entfaltung von Potenzialen, vielmehr um die Lösung des Mengenproblems, also das Gewinnen von Pfunden. Die gleichförmig wiederkehrenden Situationen am Wickeltisch prägen sich dem künftigen Muttersöhnchen ein. Es glaubt sein Leben lang, es gäbe nichts anderes. Oder es dürfte nichts anderes geben. Wenn Muttersöhnchen zu Pickelträgern, Couch Potatoes und Nervensägen  herangewachsen sind, konstituieren sich neue Gesellschaften für sie um den nunmehr hypothetisch gewordenen, aber mit realer Macht ausgestatteten Wickeltisch.

 

Wie schafft es ein Muttersöhnchen, seine Umwelt immer wieder aufs Neue zu unterwerfen? Das Muttersöhnchen ist auf dem Wickeltisch liegen geblieben und hat sich so seinen kindlichen Charme bewahrt. Da schmelzen ganz andere Frauen als die Mutter dahin. Wollten sie sich nicht ohnehin kümmern?

 

So lernt das Muttersöhnchen nie, verpflichtungsfähig zu werden. Bald ist von der wundervollen Symbiose zwischen Mutter und Kind nichts außer Vorhaltungen, Beschwerden und kleinlichen Wünschen übriggeblieben. Ein Muttersöhnchen bleibt ein solches, selbst wenn es vierzig Jahre und älter geworden ist, da es immer wieder neue Dienstboten findet. Mittlerweile hat das Muttersöhnchen Menschen  kenneng elernt, die sich seinem Herrschaftsanspruch nur be dingt unterwerfen. Da hilft auch kein Quengeln. Also kehrt das Mutter söhnchen zu seiner Mutter zurück. Auf sie, das weiß es seit Babytagen, ist immer Verlass. Sie hat sich ihrem Baby auf ewig dienstbar gemacht.  Spätestens dann, wenn die Mutter hinfällig wird, hält das Muttersöhnchen nach Ersatzmüttern Ausschau. Zum Glück gibt es viele Gefährtinnen, die, auch wenn sie es nicht wissen und bestreiten, unterworfen sein wollen. Da hilft auch die feministische Literatur nicht.

 

Mamakinder möchten weder zornig werden noch eingreifen, wenn sie die Erniedrigung von Müttern und Ersatzmüttern durch Muttersöhnchen beobachten. Aber leicht fällt ihnen das nicht. Andererseits packt sie die Wut, wenn man sie, was gelegentlich vorkommt, mit Muttersöhnchen verwechselt.

 

3.

 

Viktoria ist das erste Mädchen, mit dem ich es über längere Zeit aushalte. Die alten Geschichten sind solange her, dass ich nicht mehr an sie denke. Ich erinnere mich nicht einmal. Was für ein Risiko ginge ich ein, falls ich in alte Zeiten zurückkehrte? Für heute habe ich beschlossen, mich näher an mein Geburtshaus zu wagen. Wir haben meinen Wagen oben am Zechenberg geparkt. Das Tor und die Zeche dahinter haben aufgehört zu existieren. Hinter der Mauer wuchern, vom ständigen Fieseln in unserem Regenloch gedüngt, Pflanzen, die unter Naturschutzverdacht stehen. Da wir die Böden seit Ewigkeiten durch Entsorgung von Industrieabfällen vergiftet haben, gibt es weit und breit keinen Gewerbepark, weil eine Entgiftung der Böden zu teuer würde. Viktoria und ich gehen den Berg hinunter. Früher gingen die Kumpels zu Hunderten vor Schichtbeginn in düsterem Schweigemarsch diesen Berg herauf. Ich müsste mich kaum anstrengen und sähe sie doch, wie sie mir entgegenkommen.

 

Die Fassaden meines Geburtshauses sind die alten geblieben. Ich kam als Hausgeburt oberhalb einer Kneipe mit Dortmunder Kronen Bier zur Welt, während die Kumpels im Erdgeschoss ihren Zehntageslohn vertranken. Ich gehe am Haus vorbei, ohne einen Blick seitwärts oder zurück zu werfen. Ich drehe mich um und kehre zurück.

 

Der Gastwirt hat seine Kneipe vor langer Zeit dichtgemacht. Mit der Bergbaukrise sind ihm die durstigen Seelen abhandengekommen. Ein Mann kommt aus dem Haus und ballert die Tür hinter sich zu. Er geht an mir vorbei die Straße herunter.  Die Tür zu meinem Geburtshaus ist wieder geschlossen. Man benötigte einen Schlüssel, um das Haus zu betreten. Das gab es in den Vielfamilienhäusern in Bergarbeiterkolonien nicht. Die Besucher stiefelten die Treppen hoch und klopften an meistens nicht abgeschlossenen Türen. Oder sie gingen stracks durch die sich öffnende Tür: „Ey, Dieter, bist du da? Komm inne Puschen.“

 

Mittlerweile dürfte der Vermieter die Toiletten aus den Zwischenstocks in die Wohnungen der Mieter verlegt haben. Er hat seinen Mietern eine Badewanne gestiftet. Wenn er mit den Sanierungsarbeiten zu Rande gekommen ist, will er die Mieten erhöhen. Allerdings bekommt er die Bergschäden mit ihren schräg gewordenen Wänden und den größer werdenden Flecken an den Decken nicht so leicht weg. Er kann nur hoffen, dass sein Haus unter Denkmalsschutz gestellt wird und dafür die Fördergelder fließen. 

 

Irgendwie komme ich den Berg hoch und kehre zu meinem Auto zurück. Während ich mich auf dem Fahrersitz niederlasse, wimmere ich. Ich habe mich in das Kind, das ich damals war, zurückverwandelt. „Was ist los mit dir?“ fragt Viktoria. Damit meint sie, dass sie sich einen anderen Freund suchen wird, damit ich von ihr ungestört mit meinen frühen Jahren zu Potte komme.

 

4.

 

Niemand verbietet uns, von meiner Mama zu reden. Dennoch halten sich alle, die von meiner Familie übriggeblieben sind, an dieses Gebot. Zwischen uns gibt es wenige Gemeinsamkeiten, außer dass wir uns anschweigen.

 

Wir haben unser Bestes gegeben, uns auseinander zu leben. Mein Bruder kommt mir irgendwann abhanden. Meine Schwester hat aus dem Wenigen, was ihr die Welt bot, das Bestmögliche gemacht. Wenn wir uns sehen, was selten genug vorkommt, vermeiden wir alles in unseren Gesprächen, was die Leichen in unseren Kellern verführte, nach oben in unsere Betten zu kommen, um sich zu wälzen, zu knarren und mit uns zu flüstern.

 

Mittlerweile scheine ich der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der sich für meine Mutter interessiert. Man hat sie vergessen. Aber manchmal unterläuft meiner Schwester ein verdächtiger Satz. Sie sagt, dass sie zur Ungeduld neigte. „O ja“, bekräftigt sie, als habe die Angst des kleinen Mädchens vor ihrer Mutter nach all den Jahren weiter Bestand. Oder sie sagt, dass sie sehr liebevoll war. Dafür könnte ich sie knuddeln.

 

Mitten im Sommer kehre ich aus der Badeanstalt zurück. Ich hätte den Bus nehmen sollen, aber mir fehlte das Geld. Während ich von einer Straße in die andere biege, knallt auf mich die Sonne.  Sobald ich in unsere Wohnung zurückgekehrt bin, eile ich ins Badezimmer und hänge mich unter den Wasserhahn. Mein Vater beobachtet mich durch die offene Tür. Er schüttelt den Kopf und sagt: „Deine Mutter war ähnlich hastig. Für sie musste alles schnell, schnell gehen.“ Wut kommt in mir hoch und verflüchtigt sich wieder, sobald ich ihn ansehe. Mein Vater ist von der Rolle, wenn es um mich geht. Abermals bedauere ich, dass ich ihm nicht weiter entgegenkommen kann. Ich haue mich auf die Couch und wende mein Gesicht der Wand zu. Ein anstrengender Tag ist vorübergegangen.

 

5.

 

Meine Eltern wanderten getrennt voneinander ins Ruhrgebiet ein. Sie fühlen sich in den Städten verloren. Die Romantiker der Arbeiterliteratur bedachten nicht, dass fast alle Einwanderer Kinder von Bauern waren. Sie wollten im Grunde nicht in die Hölle der Städte, obgleich auch das Dorf eine Hölle sein konnte.

 

Als meine Eltern einander kennenlernen, stellen sie fest, dass sie aus benachbarten Dörfern gekommen sind. Sie dürften über drei oder vier Ecken verwandt sein. Das ist ein weiterer Grund, sich aneinander zu klammern. Die Menschen im Ruhrgebiet sollten wissen, dass sie nicht ins Landleben zurückkehren können. Das verdrängen sie zum Teil. Warum sollte man, wenn einem die Maloche eine halbe freie Stunde übriggelassen hat, nicht zu träumen beginnen?

 

Für die kommenden Jahrzehnte, in der sie weder der Stadt noch dem

 

Land angehören, richten sich die Einwanderer mit Kaninchen und Tauben eine Kleingartenidylle ein. Wenn sie zu Familienfeiern in die Dörfer zurückkehren, sprechen sie gebrochenes Platt. Sie gehören nicht mehr aufs Land und nicht mehr dazu und wollen es nicht wahrhaben. Also reden sie ihren Verwandten nach dem Munde, während sie sich aus Heimweh nach dem Lande verzehren. Dafür schämen sie sich. Aber näher an die alte Heimat kommen sie nicht. Auf dem Land kommt die Propaganda des Ruhrgebiets gegen sich selbst prächtig an. In Grotebühl hat sich herumgesprochen, wie tierisch im Ruhrgebiet malocht werden muss. Das soll schlimmer sein als im Großen Moor Torf zu stechen. Haben nicht alle gesehen, wie verdreckt wir sind, wenn wir in die Waschkaue müssen? Wenn wir ein weißes Hemd angezogen und uns einmal umgedreht haben, ist es vom Kokereistaub grau. In den Städten ist uns das Nationalgefühl abhandengekommen. So lassen wir zu, dass die Agitatoren unter uns wühlen. Die verlangen, dass man den Bauern ihre Höfe wegnimmt. Allerdings staunen die Grotebühler, wenn sie hören, was im Ruhrgebiet verdient wird. Aber sie staunen noch mehr, wenn man ihnen sagt, was das Gemüse kostet, das sie sich am Rande des Großen Moors umsonst aus dem Gar ten holen.

 

Meine Schwester hat die Begeisterung meiner Eltern für das Land übernommen. Ich sage ihr, dass sich das Leben hüben wie drüben nicht lohnt. So sehr die Leute sich abmühen, es reicht nur für ein Einkommen, nicht für ein Auskommen. Da gehen sie her und sterben dahin. So etwas will weder meine Schwester noch ein anderer hören. Die geleckten Broschüren über das Ruhrgebiet mit ihren flotten fast inhaltsleeren Sprüchen gibt es noch nicht. Gleichwohl sind wir, dass kann ich nicht abstreiten, mit den Leuten in der Knüste verwandt. Die Stimme des Blutes darf es nicht geben, aber Blut mag dicker als Wasser sein.

 

 

6.

 

Soweit mein Bruder zur Erstellung eines Ariernachweises das feststellen kann, stammen alle unsere Vorfahren aus Grotebühl. Oder sie kommen aus den umliegenden Ortschaften oder seltener aus Gemeinden, die auf der anderen Seite des Großen Moores liegen. Das gilt zumindest nach dem Jahr 1626, als die Kirchen und mit ihnen die Kirchenbücher brannten.

 

Damals lagerte Tilly unter der heute so genannten Tilly­Linde im Zentrum von Grotebühl. Der gibt seinen Landsknechten freien Lauf, weil die Grotebühler seiner Forderung nach Herausgabe ihrer Reichtümer nicht nachkommen. Vielmehr behaupten sie frech, sie besäßen nichts. Erst nehmen sich die Landsknechte die Dorfmitte vor. Später machen sich kleine Trupps zu den Höfen an der Peripherie auf. Einige Familien sind zuvor ins Große Moor geflohen. Als die Flüchtlinge zurückkehren, sind die Höfe niedergebrannt und die zurückgebliebenen Bewohner gefoltert und erschlagen. Bei uns zu Hause ging es schlimmer als im Simplicissimus zu. Spätestens seit Tilly weiß man in den Dörfern am Großen Moor, dass die nächste Katastrophe um die Ecke lauert. Es kann nicht lange dauern, sagen sie sich, dann kommt sie über uns. Das wird von Generation zu Generation weitergetragen. Leider bekommen sie in den meisten Fällen recht. Als wenn die grassierende Armut in normalen Zeiten nicht schon eine Katastrophe wäre. Auch in den folgenden Jahrhunderten bleibt man für die Zeugung geografisch zusammen, weil die Fortbewegungsmittel wenig entwickelt sind. Im besten Fall schwingt man sich aufs Pferd oder lässt sich von ihm ziehen. Das reicht, um einmal im Leben in die nächste Stadt zu kommen. Einige Grotebühler gehen im 17. und 18. Jahrhundert aus Verzweiflung ins Große Moor, weil seit Tilly nichts in ihrer Gemeinde passiert ist. Sie ertragen nicht, Spökenkieker, die sie sind, mit Gespenstern zusammenzuleben, und kehren nicht wieder. Mein Urgroßvater väterlicherseits steigt zu einem der Paten im Tabakschmuggel zwischen den Königreichen Hannover und Preußen auf. Deshalb hält er vom Zollverein nichts und schon gar nichts von der Entstehung des Deutschen Reiches. Während die junge Generation in seinem Auftrag die Grenze überschreitet, wirft sie verstohlene Blicke auf die fremdländisch blickenden exotisch blühenden Mädchen aus dem Westfälischen.

 

Gegen Ende de 19. Jahrhunderts kommen die Jungen aus dem west fälischen Petershagen, um mit den Grotebühler Mädchen zu tan zen. Das schaffen sie, weil mittlerweile das Fahrrad erfunden ist und sich rasch auf den Höfen verbreitet. Jahr für Jahr holen sich die Petershagener bei uns blutige Nasen, bis das Heiraten zwischen den Dörfern grenzüberschreitend üblich geworden ist.

 

Zu differenzierteren Geschichten komme ich, als meine Frau 2017 in die Familienforschung einsteigt und die Stockumer und Grotebühler Kirchenbücher durchforstet. Sie entdeckt einen Cousin von mir mütterlicherseits, von dessen Existenz ich bislang nichts gewusst habe. Er wohnt keine 15 Kilometer Luftlinie entfernt und lebt jetzt allein. Wir adoptieren ihn und gehen mit ihm zum Fußball.

 

7.

 

Mein Großvater väterlicherseits hat den größten Hof in Grotebühl besessen und vertrunken. Alle seine Vorfahren und Nachgeborenen waren anständige Menschen. Aber wir erinnern uns ausschließlich an ihn. Mein Großvater lässt sich in einem benachbarten Dorf nieder. Sollte er seine bescheidenere Heimstadt als Bestrafung empfinden, lässt er sich nichts anmerken. Vielmehr ist er unternehmungslustig geblieben. Zu den drei Kindern, die ihm seine erste Frau geschenkt  hat – die wollte aus Scham über den Verlust eines Hofes nicht mehr leben und hustete sich darüber die Schwindsucht an –, gesellen sich fünf von der zweiten. Jetzt hat er fünf Jungen und drei Mädchen.

 

Der älteste Sohn, der folglich der Hoferbe ist, würde sich sorgen, selbst wenn er keinen Grund dazu hätte. Er nimmt sich eine Frau, die ausschließlich in möglichen Katastrophen denkt. Andererseits sollten sie sich Sorgen machen. Hat der Großvater nicht gerade auch den neuen Hof mit einer größeren Hypothek belegt? Noch ein solcher Schritt und eine schlechte Ernte, und er müsste Wucherzinsen an den Juden zahlen. Immerhin braucht der älteste Sohn keine Angst vor dem heraufziehenden Krieg zu haben. Er ist zu alt, um eingezogen zu werden. Die Mädchen müssen zusehen, einen Hoferben abzubekommen. Wenn ihnen das nicht gelingt, geistern sie als Magd auf dem Hof ihres ältesten Bruders und werden für den Rest ihres Lebens nicht wahrgenommen, insbesondere nicht von der angeheirateten Frau. Einer der Söhne heiratet auf einen Hof in der Nachbarschaft ein. Die drei anderen Söhne wandern nach Hamburg, ins Ruhrgebiet und nach Sachsen.

 

Dem Ältesten ergeht es in Hamburg besser als meinem Vater im Ruhr gebiet, aber schlechter als seinem Bruder in Sachsen. Zwar bleibt es eine Plackerei, die Schiffe im Hamburger Hafen zu entladen und zu beschicken. Aber der ältere Bruder hat das Glück, eine Frau aus dem Bürgertum kennenzulernen. Die Familie der Frau ist nicht begeistert, bis der Hamburger Senior seine Leute daran erinnert, dass er als Schauermann angefangen und sich hochgearbeitet hat. Der Frau des Hamburger Bruders wird in unserem Dorf übelgenommen, dass sie glaubt, etwas Besseres zu sein. Oder sie glaubt das nicht. Dann ist es ihr selbst unter Norddeutschen schwer zu ertragender Hamburger Dialekt. Wenn sie durch ihre Nase spitzer als der spitzeste Stein spricht, weiß keiner im Dorf, was er antworten soll. Allenfalls lässt sich etwas sagen, wenn man hinter ihrem Rücken spricht. Der Schwiegervater ist beruflich ein Pfeffersack und in der Lage, weiter zu blicken. Deshalb weiß er nicht nur, dass der heraufziehende Krieg unvermeidlich ist. Vielmehr versteht er, wie man an ihm verdient oder heil aus ihm herauskommt. Wenn sein Schwiegersohn nicht an der Front erschossen werden will, sollte er sich rechtzeitig freiwillig bei der Wehrmacht melden. So würde er sich einen Druckposten sichern. Sofern er sich militärisch verpflichtet, kommt er von seiner Arbeit im Hafen weg. Die passt sowieso nicht mehr in seine Familie.

 

Also das Militär wäre gut für ihn, vergewissert sich der Hamburger Bruder, weil er es seinem Schwiegervater und der Familie, in die er eingeheiratet hat, recht machen will. „Wenn du in deiner Uniform an der Binnenalster marschierst und „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ singst, gefiele das meiner Tochter und sogar meiner Frau“, sagt der Schwiegervater. „Sie fänden es schick. Es muss ja nicht gleich die schwarze Uniform der SS sein.“ Als der Krieg ausbricht, hat sich der Hamburger Bruder zum Feldwebel hochgedient. Er lehrt die zwangsverpflichteten Rekruten, an immer neuen Fronten zu kämpfen. Die Soldaten, die vom Ham burger Bruder zum Kämpfen gedrillt sind, eilen von einem Sieg zum nächsten, bis sich das Kriegsglück gewendet hat. Danach werden die Ausbildungszeiten kürzer. Der Feldwebel kann den Soldaten man eben das richtige Grüßen der Vorgesetzten beibringen, bevor der Oberbefehlshaber sie an die Front schicken muss. Als sich der Krieg seinem Ende nähert, werden pubertierende Jugendliche ohne Ausbildung und fast ohne Bewaffnung an die Front geworfen. Wenn man falsch grüßt, wird darüber hinweggesehen, weil sowieso bald alles vorbei ist.

 

„Ihr müsst sehen, wie ihr mit der Panzerfaust zurechtkommt“, sagt der Feldwebel. „Hier habt ihr ein Merkblatt. Lasst sie euch gegebenenfalls von einem Spieß mit Fronterfahrung erklären, sollte genügend Zeit vor den Kampfhandlungen geblieben sein.“

 

Am Ende ist der Feldwebel als Ausbildungsleiter überflüssig geworden. In den letzten Wochen des Krieges muss er selbst an die Front. „Untersteh dich, von unseren Feinden erschossen zu werden“, sagt der Schwiegervater. „Dafür gab ich dir nicht meine Tochter zur Frau.“ Der Bruder aus Hamburg wird von den heranrückenden britischen Truppen ins Bein geschossen. Das ist Glück im Unglück, da seine Kameraden zur Rechten und Linken tot umfallen werden. Nachdem sein verwundetes Bein unterhalb des Knies amputiert worden ist, humpelt er mit einem Holzbein einher.

 

Nach Kriegsende weiß die Hansestadt Hamburg die Verdienste des Bruders um unser Volk zu würdigen. Hat er nicht genügend junge Menschen in den Tod geschickt? Also vertraut ihm die Senatsver wal­ tung eine Position als Gerichtsvollzieher an. In dieser Eigens chaft entdeckt er ein Schnäppchen in Uhlenhorst und ersteigert das Haus. So kann er seiner Frau ein schöneres Zuhause bieten als in Grotebühl jemals erbaut worden ist. Er überlegt, ob er seine Verwandtschaft vom Großen Moor einladen soll.

 

„Bist du endlich zufrieden?“ fragt seine Frau. „Deine Familie wird mich nie akzeptieren“, antwortet der Hamburger Bruder, „und wenn ich dir ein Schloss geschenkt hätte.“ „Solches hättest du bei mir nicht nötig gehabt“, sagt die Frau. „Das hätte ich hören wollen, als ich Hafenarbeiter war“, sagt der Bruder aus Hamburg. „Damals hättest du nicht einmal Hochdeutsch verstanden“, sagt die Frau.

 

In einem Punkt trifft mein Vater es besser als seine Brüder in Hamburg und Sachsen. Als Bergmann muss er nur auf die siebente Sohle und nicht an die Front. Ohne den laufenden Abbau der Kohle würde man die Kriegsmaschinerie nicht in Gang halten können.

 

Der jüngste Bruder ist der Liebling seiner Schwestern. Haben sie ihn nicht vom Tage seiner Geburt an gepäppelt? Zusätzlich ist er der Liebling seines Vaters. Das kommt, weil er von allen der Jüngste ist. Den jüngsten Sohn trifft es in Sachsen am besten. Er heiratet nicht in die bürgerliche Gesellschaft ein. Er bedient sie. Als Kellner hat sich der jüngste Bruder schick anzuziehen. Er stolziert mit Schwalbenschößen über die Weiden des Kirchspiels. Er zeigt den Bewohnern unserer Gemeinde so viel Geld, wie sie noch niemals gesehen haben. „Das ist alles Trinkgeld, das mir die Großen der Gesellschaft in die Hand gegeben haben“, erklärt er. Die Mädchen des Dorfes himmeln ihn an. So hätte er jede von ihnen bekommen können. Aber er zieht ein sächsisches Mädel vor. Als dieses zu Besuch nach Grotebühl kommt und ein kleines Mädchen vorzeigen möchte, sind alle gespannt. Kaum trifft sie ein, fällt die Verwandtschaft des Kirchspiels vor ihr auf die Knie. So was von Arbeitsamkeit, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Herzenswärme, sagen sie, und grenzen sie so von ihrer Hamburger Schwägerin ab. Die Frau aus Sachsen könnte beinahe eine von uns sein. Selbst der sächsische Zungenschlag ist weniger schlimm als er sich anhört.

 

Kaum bricht der Krieg aus, wird der Bruder in Sachsen für die kommenden Kriegshandlungen in der Wehrmacht geschliffen. Bald marschiert er mehrere tausend Kilometer gen Osten. Dort wird er bis zum heutigen Tage vermisst.

 

Der Besuch meiner Schwester hat sich länger hingezogen als ich vorhatte. „Was sind das für Geschichten, die keinen was angehen?“ frage ich. „Das sind alles deine Verwandten“, sagt meine Schwester, die mir wieder zu viel von Menschen erzählt hat, die mich nicht interessieren.

 

8.

 

Mein Großvater genießt weiter seine Tage, was auf dem Lande grundsätzlich verboten ist. Seine Kinder haben ihn zum vielfachen Großvater gemacht. Mittlerweile hat er derart viele Enkel, dass er sich ihre Namen nicht merken kann. Überall, wo er hinkommt, wird er von Enkelkindern erwartet. Was das alles kostet, sagt der älteste Sohn verbittert zu seiner Frau. Es sind nicht nur die Reisekosten, die dermaßen ins Geld gehen. Der Großvater muss seinen Enkeln was mitbringen. Für die Enkelkinder stimmt nicht, dass der Großvater zu Weihnachten kommt. Vielmehr findet Weihnachten statt, wenn der Großvater kommt. So wird das große Fest für seine Familien mehrere Male im Jahr gefeiert.

 

Mein Großvater fährt zu seinen Enkeln, wann er dazu Lust hat. Die Arbeiten auf dem Hof überlässt er seinen späteren Erben. „Ne, ne, dat schöne Geld“, sagt die Schwiegertochter. Das wichtigste Ritual großväterlicher Besuche findet unmittelbar nach Ankunft des Großvaters statt. Mein Großvater hat an die Tür geklopft. Ihm wird aufgemacht. Der Großvater stellt sich in die Tür und lacht, weil er in Wahrheit der Weihnachtsmann ist. Wir Kinder stoßen uns mit den Ellenbogen an. Das ist eine Überraschung, dass der Großvater zu uns gekommen ist. So tun wir das, was unsere Eltern von uns erwarten. Wir erfahren nicht, ob die Eltern wussten, dass der Großvater kommen wird. So oder so spielen sie das Spiel des Großvaters mit. Mit übertriebenen Gebärden weisen sie ihre Kinder daraufhin, dass der Großvater gekommen ist. „Das hätten wir selbst nie herausgefunden!“ rufen wir. Die Eltern fragen uns, was gleich passieren mag. „Überraschung, Überraschung!“ rufen wir, obgleich wir wissen, was uns erwartet. Der Großvater holt hinter seinem Rücken einen Sack hervor. Er ist prall gefüllt. „Ho, ho, der war nicht einfach zu schleppen“, ruft er. Mit großer Gebärde schüttet der Großvater seinen Sack vor uns aus. Ich sehe viele kleine Süßigkeiten. Dazu kommt eine Tafel Schokolade. Das eine und andere Spielzeug aus Holz und Blech sind auch mit dabei.

 

Die Geschenke springen in alle Ecken. Unter den Enkelkindern des Großvaters setzt ein Gebalge ein. Der Großvater sieht auf das Drüber und Drunter und das Holterdiepolter und erkennt statt seiner Enkelkinder nur einen Wirbel.

 

In unserer Familie wird das Einsammeln der Geschenke von meinem Bruder gewonnen. Während er seine Ellenbogen streckt, vergisst er, dass er seine Beute später in Teilen wieder herausrücken muss. Damit verdient er sich ein Sonderlob, so dass Vater und Großvater sagen, mein Bruder habe gezeigt, dass er ein richtiger Junge sei.

 

„Das ist eine Geschichte über meinen Großvater“, sage ich. „Es ist keine Geschichte über uns. Wenn der Großvater war, wie du ihn beschrieben hast, hat er nicht einmal die Namen der einzelnen Kinder gekannt.“ „Als du ein Kind warst, konntest du dich über seine Schoko ladenkugeln freuen“, hält meine Schwester dagegen. „Ich fand es schade, dass unser Opa zu früh gestorben ist.“

 

„Wäre er seltener gereist und hätte er weniger für seine Enkelkinder ausgegeben, hätte ihn seine Schwiegertochter nicht mit Rattengift umgebracht“, mutmaße ich. Das sei eine Verleumdung des alten Dürkopp vom Nachbarhof gewesen, wendet meine Schwester ein. Der habe es nicht verknusen können, dass sein Hof noch kleiner als der vom Großvater gewesen sei. Alle Mitglieder unserer Familie hätten das so gesehen und nicht mehr mit dem alten Dürkopp gesprochen. Aber unsere Familie hatte ein Interesse daran, ein Vorkommnis wie dieses unter den Teppich zu kehren, sage ich. Gleichwohl erkenne ich an, dass sich mein Großvater von den Zwängen des Dorfes so weit wie ihm möglich war freigemacht hat. Allerdings hat ihm das sein Leben gekostet.

 

9.

 

Meine Eltern ziehen häufig im Ruhrgebiet um. Sie werdem hierhin und dorthin geworfen. Das wundert uns Nachgeborene nicht. Mein Vater arbeitet auf der Zeche Siebenplaneten, dann auf Minister Stein und Neu­Iserlohn und dann wieder auf Siebenplaneten. Die Kumpels hauen in den Sack, sobald sie eine Möglichkeit sehen, dem Pütt zu entkommen. Oder sie werden in den Sack gehauen, weil die Nachfrage nach Kohle zurückgegangen ist. So kommt es, dass mein Bruder und meine Schwester in Stockum geboren werden, aber dort nicht lange bleiben. 1936 oder 1937 könnte meine Familie nach Somborn direkt an der Grenze zu Bochum­Langendreer in das Gasthaus mit Kronen­ Bier gezogen sein.

 

1937 wird meine Mutter abermals schwanger. Die Hausgeburt klappt diesmal nicht. Die Hebamme taucht ihre Hände in Blut. Das Mädchen schreit einmal auf, als es geboren ist, und dann niemals wieder. Meine Mutter erholt sich von dieser Geburt. Aber sie nimmt merkwürdige Züge an, meinen einige Leute.

 

1939  wird meine Mutter abermals schwanger. Meine Eltern suchen den Knappschaftsarzt auf. Sie tragen ihre Bedenken vor. Sie verweisen auf die fehlgeschlagene Geburt zwei Jahre zuvor. Müsste meine Mutter nicht, wenn es soweit ist, ins Krankenhaus kommen? Der Knappschaftsarzt hört nur mit halbem Ohr zu. Was reden ihm die Patienten die Hucke voll, obgleich ihm die Knappschaftsversicherung ein Gebietsmonopol geschenkt hat? „Haben wir nicht eine tüchtige Hebamme in der Kolonie?“ fragt er, als meine baldigen Eltern immer noch drucksen und nicht aufstehen möchten.

 

1940  werde ich ohne Komplikationen geboren. In meinem Fall hat der Knappschaftsarzt recht behalten. Die paternalistische Gesundheitsversorgung, in der nur Befehle befolgt und keine Fragen gestellt werden dürfen, hat, wie die steigende Geburtenrate zeigt, nicht nur bei mir funktioniert. Von 1941 und 1942 ist mir nichts haften geblieben. Es dürfte mir wie den Kurzgeratenen in anderen Familien ergangen sein. Wir schwingen die Rassel. Wir machen ein Bäuerchen. Wir gestatten uns einen Pup. Meine Schwester sieht das später ganz anders. Ihre Geschichten über mich haben drei Merkmale: Ich komme gut weg. Mein Vater tut immer das Richtige. Meine Mutter steht als gefürchteter Schatten im Hintergrund, um gelegentlich in Liebe in den Vordergrund zu treten. Mein Bruder versteht nichts von kleineren Kindern. In seiner Jugendorganisation wird er gedrillt, sich gegen schwächere Kinder durchzusetzen. Im Gegenzug wird er von seinen Oberen gefördert.

 

Abermals hat mich mein großer Bruder geärgert. Ich klettere von meinem Stuhl herunter. Als ich auf dem Boden stehe, halte ich mich am Stuhl fest, weil ich nicht umfallen will. Derweil bin ich weiter empört. Mein Bruder begibt sich nur scheinbar auf die Flucht, während er mich gleichzeitig auslacht. Als ich ihn nicht einhole, verhöhnt er mich: „Bist du zu dumm oder zu klein, dass du nie was verstehst?“ Ich verstehe dennoch. Er hat die langen Beine, ich die ganz kurzen.

 

Also breite ich die Arme aus und rufe: „Wer kommt in meine Arme?“ Mein Bruder kehrt in meine Arme ein. Ich verhaue ihn kraftlos. Mein Vater wird vom Pütt viel zu müde gemacht. Dennoch ringt er sich um seiner Familie willen ein Lächeln ab. Ich bin Odysseus, der, knapp dem Kinderwagen entronnen, ein erstes Mal nachweislich von seinem Verstand bewegt worden ist.

 

10.

 

1943 meinen die Leute, dass meine Mutter noch merkwürdiger wird. Sie zieht mir des Öfteren Mädchenkleider an. Sie schenkt mir Puppen statt Panzer zum Spielen. Gelegentlich spricht sie so zärtlich zu mir, als sei ich ein Mädchen. Sie herzt mich, als ob sie von Sinnen sei. Mein Vater sagt meiner Mutter: „Wie soll aus dem Kind ein richtiger Junge werden, wenn du ihn derart verzärtelst?“ Ich werfe ihm böse Blicke zu. Nicht, dass er solches bemerken würde.

 

Ich habe drei Erinnerungen an meine Mama, die möglicherweise nicht durch die späteren Erzählungen meiner Schwester verfälscht worden sind. Oder ich glaube, sie zu haben. Diese ist die erste: Ich sitze im Wohnzimmer und spiele mit Klötzchen. Meine Mama wuselt im Wohnzimmer um mich herum. Dann merke ich, dass sie nicht mehr im Wohnzimmer ist. Ich stehe auf und laufe auf wackeligen Beinen ins Nebenzimmer. Das ist unser Schlafzimmer. Dort finde ich sie. Sie nimmt mich auf den Arm und lacht. Sie fragt: „Hast du mich gesucht?“ Ich schmiege mich an sie. Meine Mama redet weiter. Mir genügt der Klang ihrer Stimme, zumal ich sowieso nichts verstehen kann. Ich atme ihren Duft ein. Meine Mama war nicht da. Ich habe sie gesucht und wiedergefunden.

 

Dies ist die zweite Erinnerung an meine Mutter: Wir sitzen im Keller und rücken zusammen. Über uns bombardieren die Flotten der Alliierten solange das Ruhrgebiet, bis nichts übrigbleiben wird. Die Leute sind auch außerhalb des Bombenkellers freundlich zu mir. Aber jetzt sind sie noch freundlicher, weil ich sie von ihrer Furcht ablenke. Eine Person nach der anderen kommt vorbei, sagt „Du, Du“ und kneift mir die Wange. Ich spiele mit meinen Puppen Theater im Bombenkeller. So entsteht die eine und andere Geschichte. Die Leute im Keller haben sich um mich gruppiert. Am Ende gibt es Beifall. Anschließend nimmt mich meine Mama auf den Schoß. Bald gehen wir gemeinsam nach oben.

 

Das ist die dritte Erinnerung an meine Mutter. Diese wird durch die späteren Erzählungen meiner Stiefmutter vergiftet. Ich kann nicht unterscheiden, was von ihr kommt und was ich ohne sie wüsste. Auf unserer Etage wohnen vier Parteien. Frau Bondzio ist eine von ihnen. Herr Bondzio tut, als erweise ihm seine Frau einen Gefallen, wenn er bei ihr wohnen darf. Den spräche keiner an, wenn er etwas von den Bondzios will. Der Mann hat genug damit zu tun, in den Schacht einzufahren und lebendig zurückzukehren, sagen die Kumpels. Ist das nicht der Mann mit zwei linken Händen, der auf jeder Schicht vom Unfall bedroht ist und uns mit in den Tod reißen könnte? Bondzio wird von der Zeche entlassen, damit er nicht mehr sich und andere gefährdet. Als er ohne Lohntüte nach Hause zu kommen versucht, wirft ihn seine Frau aus der gemeinsamen Wohnung. Bis dahin scheint eine Art Gleichgewicht zwischen ihrem Mann und dem Kostgänger bestanden zu haben. Als der Ehemann aus dem Rennen geschieden ist, geht Frau Bondzio allein mit ihrem Kostgänger aus. Wer regelmäßig in die Gaststätte mit Dortmunder Kronen­Bier einkehrt, müsste sie kennen. Wer hätte nicht ihr lautes Lachen gehört?

 

Frau Bondzio fährt ihren Kostgänger in der Kneipe im Erdgeschoss schroff über den Mund. Sie scherzt mit einem anderen Mann an der Theke. „Das muss ich mir nicht ein Leben lang antun“, sagt der Kostgänger und zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus.

 

Unsere Nachbarin bleibt guter Dinge und lädt zu Feierlichkeiten auf unserer Etage ein. Wer bald zur Schicht muss, ärgert sich, weil er bei diesem Lärmen auf der anderen Seite des Flurs nicht zum Schlafen kommt. Frau Bondzio umschmeichelt meine Mutter. Mein Vater sieht nicht gern, dass die beiden sich anfreunden. Er grummelt, Frau Bondzio führe ein leichtfertiges Leben. Ab und an ein Plausch an der Treppe – was soll daran schlimm sein? Das hat vielleicht meine Mutter gesagt. Frau Bondzio deutet an, das Geld liege heutzutage auf der Straße. Einmal mit den Leuten lachen und scherzen, schon habe man sich einen wunderbaren Abend gemacht. Danach könne man sich ein schönes Teil kaufen. Wie das? Meine Mutter ist verwundert. Frau Bondzio lacht. Schöne Sachen kaufen, sagt sie, wer möchte das nicht? Meine Mutter sieht Frau Bondzio aus großen Augen an. Sie träumt von einem Leben in der Stadt, das aus mehr als zwei Zimmern auf der dritten Etage oberhalb einer Kneipe mit Dortmunder Kronen­ Bier besteht. So stelle ich sie mir mitunter vor.

 

Komm mit, sagt Frau Bondzio. Wir machen uns einen schönen Tag. Hat nicht dein Mann Mittagsschicht? Dann fällt keinem was auf. Die anderen Kinder sind versorgt, sagt meine Mutter. Aber was mache ich mit meinem kleinen Jungen? Den nehmen wir mit, sagt Frau Bondzio. Ich sitze in Mädchenkleidern in der Kneipe mit Dortmunder KronenBier. „Der fängt ja früh an“, könnte einer der Gäste gesagt haben. Ein anderer fragt: „Was, ist das ein Junge?“ Ansonsten sind alle Gäste freundlich zu mir.

 

„Gibt es nicht viele Sachen, die man sich kaufen möchte?“ fragt Frau Bondzio anlässlich ihres morgendlichen Plausches. „Hast du das wunderschöne Teil im Fenster gesehen?“ „Ich fand unseren gemeinsamen Abend auch lustig“, sagt meine Mutter. „Komm, ich beteilige dich an meinen Einkünften“, sagt Frau Bondzio. „Wir gehen gemeinsam einkaufen. Aber frage mich nicht, wie ich an das Geld gekommen bin.“ „Wenn du darüber nichts sagen willst, musst du auch nicht“, sagt meine Mutter. „Du bist gar nicht neugierig, wie?“ fragt Frau Bondzio.

 

Über meine Mutter wird getuschelt. Was hat sie mit Gottfried Vacek im Sinn? Ein Kumpel sagt zum anderen: „Oberhalb der Kneipe mit Dortmunder Kronen­Bier leben zwei Frauen.“ Mein Vater ist der Letzte, der etwas erfahren wird. Das sind alles nur Andeutungen. Aber als er misstrauisch geworden ist, meint er, dass er Bescheid wissen müsse. „Steiger“, sagt er, „kannst du dafür sorgen, dass ich vor Schichtende rauskomme?“ Mein Vater hat selten gefehlt. Er ist nur widerwillig in die Gewerkschaft gegangen, als man noch durfte. Wenn der Steiger ausnahmsweise eine Ausnahme macht, dann womöglich bei ihm. Andererseits kennt der auf Massenproduktion fixierte Bergbau keine abweichenden Fälle.

 

Mein Vater kommt unverhofft früher nach Hause. Ausnahmsweise ist die Wohnungstür abgeschlossen. So muss er den eigenen Schlüssel nehmen. Im Wohnzimmer ist keiner. Er macht die Tür zum Schlafzimmer auf. Dort ist auch niemand. Wo sind nur wir Kinder? Sollten wir uns in der Wohnung aufhalten, dann sieht uns mein Vater nicht. Ein Mann kommt aus dem Kabuff hinter dem Wohnzimmer. Er grinst meinen Vater an und geht an ihm vorbei. Er verlässt die Wohnung. Es ist zu hören, wie er die Treppe hinunterläuft.

 

Mein Vater geht in den Kabuff hinter dem Wohnzimmer. Dort ist meine Mutter. Sie nestelt an ihrer Kleidung. Es gibt ein Geschrei. Mein Vater reißt meiner Mutter die Klamotten vom Leib. Er will sehen, ob er Samenspuren des Mannes am Unterleib meiner Mutter erkennen kann. „Es ist nichts passiert, es ist nichts passiert“, schreit meine Mutter. Sollte sie mit ihrem Widerspruch nicht recht haben? Meine Schwester und ich kommen ins Spiel oder auch nicht. Jedenfalls sitzen wir im Wohnzimmer. Meine Mutter ist in das Schlafzimmer geflüchtet und hat die Tür zum Schlafzimmer abgeschlossen. Mein Vater hockt vor der Tür. Ich schaue auf sein Gesicht, das vor Wut und Schmerz verzerrt ist.

 

Meine Mutter schreit, mein Vater möge ihr verzeihen. Oder er möge wieder gut zu ihr sein. Mein Vater ruft zurück: „Nein!“ Meine Mutter schreit, dann springe sie aus dem Fenster. Mein Vater sagt: „Dann tu´s doch.“

 

 

11.

 

Man hat mich aus dem Ruhrgebiet auf das Land katapultiert. So schlimm ist es dort nicht, nachdem ich mich an die neuen Leute ge wöhnt habe. Meine Tante hat den Ofen im Wohnzimmer angemacht, weil Besuch erwartet wird. Jetzt bullert er kräftig.

 

Als der Besuch gekommen ist, nimmt mich mein Onkel auf den Schoß. Ich werde schläfrig. Die Leute unterhalten sich. Ich wundere mich, weil ich auf einmal alles verstehe. Bald werde ich selbst Plattdeutsch sprechen. Mit diesem Gedanken schlafe ich ein.

 

Am nächsten Morgen sitze ich am Fenster. Ich schaue hinaus auf den vielen Schnee. Mein Onkel kommt herein. Sonst spricht er selten mit mir. Diesmal haben sich um seine Augen Fältchen gebildet. Ich bin sicher, dass er einen Scherz machen will. Mein Onkel behauptet, ein Zigeuner befinde sich im Anmarsch. Der wolle mit mir sprechen. Er fragt: „Wutte mol kieken?“

 

Mein Herz rast. Ich springe vom Stuhl herunter und laufe nach draußen. Zwischen dem dritten und vierten Telegrafenmast kämpft sich eine Person durch die Schneewehen in meine Richtung. Sie ist zurückgekommen, denke ich. Ich laufe ihr entgegen. Zwischen dem ersten und zweiten Telegrafenmast bleibe ich stehen. Die Enttäuschung schnürt mir den Hals ab. Es ist nur mein Vater.

 

Die rote Wut steigt in mir hoch. Sie verfliegt wieder. Ich habe vergessen, was ich gerade gedacht habe. Langsam gehe ich meinem Vater entgegen.