Kapitel 3

3. KAPITEL 1945–1950

 

Eine andere Welt aus Worten, Bildern und Geschichten

 

 

Ich stehe am Zaun und schaue mir die Luftkämpfe über dem Großen Moor an. Ein deutscher Flieger hat sich in die Lüfte gewagt. Kaum habe ich ihn entdeckt, wird er von vier, fünf britischen Flugzeugen umkreist. Der kurze Kampf endet damit, dass der deutsche Flieger, einen Streifen aus Qualm hinter sich herziehend, ins Moor stürzt. Ich bin enttäuscht, dass die Deutschen immer verlieren.

 

 

Einmal geschieht es doch, dass ein britisches Flugzeug abgeschossen wird. Einige haben gesehen, wie der britische Pilot an einem Fallschirm über dem Großen Moor niederging. Die Landbevölkerung ist verrückt vor Sorge um die eigenen Söhne. Obgleich das eine mit dem anderen wenig zu tun hat, bricht sie auf, den Piloten gefangen zu nehmen. Wie sie herausfindet, ist der Brite in einen Baum gefallen. Er hat sich am eigenen Fallschirm aufgehängt und erdrosselt.

 

 

„Bist du dabei gewesen?“ fragt mein Onkel, als der alte Breukelsiep die offizielle Version über den Ausgang der Suche nach dem britischen Piloten weitergibt. Auf den großen Höfen haben die Zwangsarbeiter Widerworte gegeben. Das hätten sie sich früher nicht getraut. Sie glauben, dass die Herrschaft der Deutschen über sie bald zu Ende gehen wird. Der alte Grotemeier hält seinen Zwangsarbeiter schlimmer als ein wildes Tier. Sogar die Bauern im Brauk sagen, es sei eine Schande, wie er mit seinem Arbeiter verfahre. An unserem Hof grenzt der Acker eines Hofes, der im Preußischen liegt. Wenn immer derselbe Mann ein Pferd seine Furchen ziehen lässt, begleite ich ihn. Ich spreche an, was mir durch den Kopf geht. Er hört mir zu, sagt aber nicht viel. Von meinen Leuten auf unserem Hof schnappe ich auf, dass dieser Mann ein Zwangsarbeiter aus dem Französischen ist. Ich laufe auf das Feld und stelle den Mann zur Rede. „Stimmt das, dass du einer unserer Feinde bist?“ frage ich ihn. Der Mann antwortet nicht. „Hast du gegen uns Deutsche Krieg geführt?“ bohre ich nach. „Ja“, sagt der Mann. Ich schlage ihn. Der Mann tut, als ob er nichts gemerkt habe und lässt das Pferd seine Furchen ziehen. Ich laufe davon.

 

 

Deutsche Soldaten kommen quer über die Wiesen. Sie sind allein, allenfalls zu zweit oder dritt. Ihre Uniformen sind abgerissen. Oder sie tragen zivil. Die Karabiner haben sie vor einigen Tagen weggeworfen. Die Soldaten sprechen bei den Höfen vor und bitten um Wasser. Meine Tante gibt den Soldaten zu essen und zu trinken. Einen jungen Soldaten, der seine Schulzeit gerade hinter sich hat, lässt sie im Ehebett schlafen. „Mein Sohn ist auch im Feld“, sagt sie ihm. „Zuletzt schrieb er uns aus Frankreich. Jahrelang war es dort ruhig, aber jetzt geht dort alles drunter und drüber.“

 

 

Als keine Soldaten mehr kommen, wird in den Gemeinden am Großen Moor leiser gesprochen. Mein Onkel holt Bettlaken aus dem Schlafzimmer und knüpft sie zusammen. Er lässt die weißen Fahnen vom Heuboden flattern. Damit hat unser Hof vor General Montgomery kapituliert. Ich meine, ein entferntes Geräusch zu hören. Nach einer Weile höre ich wieder hin. Das Geräusch ist lauter geworden. Von unserem Hof aus kann man von weitem die asphaltierte Chaussee sehen. Der erste britische Panzer kommt in Sicht. Weitere Panzer folgen. Ich hätte nie gedacht, dass es so viele Panzer gibt. Die britische Armee übernimmt die Gemeindeverwaltung von Grotebühl. Die anderen Gemeinden am Großen Moor sind zu klein als dass sich die Militärregierung direkt um sie kümmern könnte. Im Brauk bleiben die Bauern auf dem Hofgelände und gehen nicht auf ihre Felder. Nur der alte Dürkopp versucht seinen Geschäften wie gewohnt nachzugehen. Als er mit seinem Fahrrad den Pattweg hinunterfährt, ertönt Geknatter aus Gewehren. Dürkopp wirft sich in den Graben zur Rechten des Weges und zieht den Kopf ein.

 

 

Ein Panzer nach dem anderen rollt an dem Hof des alten Grotemeier vorüber. Der steht am Hofeingang und sieht sich die britischen Panzer an. Als die Panzer in der Ferne verschwinden, weiß er, was ihn erwartet. Der alte Grotemeier versteckt sich im Stroh. Aber der Zwangsarbeiter kennt sich zu gut auf dem Hof seines Peinigers aus, als dass er ihn nicht zu finden wüsste. Als der alte Grotemeier in seinem Blut gefunden ist, nicken die Bauern im Brauk einander zu und sagen: „Das musste so kommen.“ Der Zwangsarbeiter hat die Frau und Kinder des alten Grotemeier am Leben gelassen. „Ihr habt mir nichts getan“, hat er gesagt.

 

Die Zwangsarbeiter werden von den Briten im Verwaltungsgebäude des Torfwerks kaserniert. Von dort brechen sie angeblich auf, um die Höfe auszurauben. Mein Onkel rüstet sich wie die anderen Bauern im Brauk zur Verteidigung. Mein Hund hat Wichtigeres zu tun als mit mir zu spielen. Wie die anderen Hunde hält er Tag und Nacht Wache und umrundet den Hof. Wenn einer der Höfe im Brauk überfallen wird, soll der Bauer dort eine Laterne schwenken. Dann eilen die anderen Bauern zur Hilfe.

 

 

Der Zwangsarbeiter auf Drekamps Hof will den Hof nicht verlassen. Jetzt stellt sich heraus, dass die Bäuerin mit ihm ein Verhältnis hat. Wir nennen sie nur noch die „lustige Witwe“. Diesen Mann werden wir als Nachbarn nie akzeptieren. „Das ist ein Litauer“, sagt meine Tante. Damit meint sie, dass so einer nicht zu uns gehören kann. Viele Zwangsarbeiter, die auf den Feldern um Grotebühl gearbeitet haben, kommen aus der Sowjetunion. Dort gilt als schweres Verbrechen, sich deutschen Soldaten ergeben zu haben. Kaum versuchen sie sich zu artikulieren und zu organisieren, da haben die Briten sie unter strikter Bewachung in die Züge zu den sowjetischen Konzentrationslagern gesetzt. Der Litauer stellt die Ausnahme dar, da er die lustige Witwe gerade noch rechtzeitig vor der ihm drohenden Deportation geheiratet hat.

 

 

Die britische Regierung schickt deutsche oder deutschsprachige Be auftragte zu den Höfen, um die vielen Nazis im Kirchspiel zu finden. Aber in unseren Gemeinden gibt es die nicht, seit die britischen Panzer durch Grotebühl fuhren. Was anderes wäre es, wenn wir den Krieg gewonnen hätten. Ein britischer Beauftragter entdeckt im Hause der Breukelsieps ein Führerbild. Die Breukelsieps kommen mit einer strengen Verwarnung davon. Wie kann man nur so blöd sein, findet sogar meine Tante. „Das Bild kam damals von selbst ins Haus“, sagt der alte Breukelsiep. „Wir haben es an die Wand gehängt und nie hingeschaut. Ich wusste nicht einmal, dass es dort war.“

 

 

Die Militärregierung wird vor große Herausforderungen gestellt. Millionen Menschen sind vor der sowjetischen Soldateska geflüchtet. In Grotebühl kreuzen sich zwei größere Trecks, der eine aus Ostpreußen, der andere aus Schlesien. Beamte kommen auf die Höfe und legen fest, wer wen aufnehmen muss. Wir sind im Brauk der einzige Hof, der keine Flüchtlinge aufnimmt. Zum einen ist unser Haus sehr klein. „Zum anderen habt ihr schon zwei Flüchtlinge“, sagt der Beamte bei der Inspektion und streicht mir, aber nicht meiner Schwester über den Kopf. Binnen Wochenfrist hat sich die Einwohnerzahl im Kirchspiel beinahe verdoppelt.

 

Ich stehe am Zaun und schaue zu, wie eine Flüchtlingsfamilie auf den Breukelsiep`schen Hof einzieht. Bubi Dürkopp steht am Zaun seines Hofes und sieht gleichfalls zu. Wie sich herausstellen wird, ist die Flüchtlingsfamilie katholischen Glaubens. Demnach müsste sie aus Schlesien kommen. Katholiken essen freitags nur Fisch und tun alles, was der Papst ihnen sagt. Da läuft es uns Lutheranern kalt über den Rücken, auch wenn diese Leute keine Litauer sind.

 

 

Zur Flüchtlingsfamilie gehören zwei Jungen ungefähr in meinem Alter. „Was sind das für Hosen?“ frage ich meine Tante. Meine Tante sieht scharf hin und sagt: „Das müssen Lederhosen sein.“ Sie muss lachen. Sie hat gehört, dass es Lederhosen gibt. Aber es ist etwas anderes, sie tatsächlich zu sehen. Ich winke Bubi Dürkopp zu. Damit will ich ihn fragen, ob wir zu den beiden Jungen auf dem Breukelsiep`schen Hof gehen und mit ihnen spielen sollen. Bubi Dürkopp winkt zurück. Er scheint der gleichen Meinung zu sein.

 

 

2.

 

Ich trete in ein paralleles Universum aus Buchstaben, Worten, Bildern und Geschichten ein. So verdoppele ich mein bisheriges Leben. 1945 bleiben die Schulen im Kirchspiel Grotebühl geschlossen. Das Land liegt danieder und muss neu aufgebaut werden. Da kann man sich um weniger wichtige Dinge wie Bildung nicht kümmern.

 

 

1946 komme ich in eine Klasse mit Jungen, die meistens ein Jahr älter und einen Kopf größer als ich sind. Ihnen wird nie durch den Kopf gehen, dass Lernen eine Lust sein kann. Ich freue mich auf die Schule, obgleich sie mir keiner erklärt hat. Meine Tante macht mich für meinen ersten Schultag fertig. Ich pfeife nach meinem Hund. Gemeinsam gehen wir zur Schule. Wir haben getrödelt, weil es auf dem Schulweg viel zu sehen gibt. Selbst wenn ich flott ausschreite, benötige ich mindestens eine Stunde. Ich schaffe es gerade, das Schulgebäude zu Beginn der ersten Stunde zu betreten. Ich lasse meinen Hund auf dem Pausenhof zurück.

 

Die Schule verfügt über einen Klassenraum. In den kommenden Jahren wird über Umbauten ein zweiter Klassenraum entstehen. Derzeit stellen wir mit schätzungsweise 120 Schülern von der Klasse 1 bis 8 eine Zwergschule nach der Begriffsbildung künftiger Kultusministerien dar. Vor der großen Pause schreibt sich der Lehrer die Namen der neuen Schüler auf. Als ich an die Reihe komme, sieht er mich an und sagt ausnahmsweise auf Platt: „Du biss Mürkers Dieter.“ Ich stehe auf, wie es die anderen Kinder tun, wenn sie angesprochen werden, und sage, ja, der sei ich.

 

 

Als es zur großen Pause geschellt hat, gehe ich auf den Schulhof und spiele mit meinem Hund. Die anderen Kinder schauen mir aus dem Fenster des Klassenraumes zu. Als die Glocke ertönt, gehe ich in den Klassenraum zurück. Der Lehrer sagt zu mir: „Du nimmst am besten deinen Hund und gehst nach Hause.“ Ich nehme meinen Hund und tue wie mir gesagt worden ist.

 

 

Am nächsten Morgen wird nicht getrödelt. Als ich den Schulhof weit vor der Zeit betrete, stieben die Kinder, die wie ich früher gekommen sind, auseinander, weil sie Angst vor meinem Hund haben. Der Lehrer wohnt in unmittelbarer Nähe der Schule. Er kommt aus seiner Wohnung und schickt mich mit meinem Hund ein weiteres Mal nach Hause. Am Nachmittag besucht der Lehrer uns auf dem Hof. Am nächsten Morgen sperrt der Onkel meinen Hund im Kuhstall ein, während ich von meiner Tante in die Schule geschickt werde. Nachdem er das mehrere Tage hintereinander gemacht hat, haben mein Hund und ich uns daran gewöhnt, dass ich in die Schule gehöre, mein Hund jedoch nicht.

 

 

Auf der Wandtafel im Klassenraum steht ein geschwungenes i. Wir vom ersten Schuljahr haben unsere eigenen Tafeln mit i´s zu füllen. Wenn unsere Tafeln vollgeschrieben sind, nehmen wir den Schwamm und wischen den Buchstaben weg. Dann beginnen wir mit dem Schreiben des Buchstabens von vorn. Ich beginne zu ahnen, dass das Lerntempo an meiner Schule unerträglich langsam sein wird und sich Langeweile nicht ausrotten lässt, solange man mit Lehrern zu tun hat.

 

 

Zweimal in der Woche kommt das Fach Schönschreiben an die Reihe. Dafür besitzt jeder von uns ein eigenes Heft. Papier ist so kostbar, dass die Hefte in einem Schulschrank aufbewahrt werden. Für das schöne Schreiben werden sie an uns ausgeteilt.

 

 

Für unsere Schönschreibhefte lernen wir nicht die lateinische, sondern die deutsche Schrift. Im Vergleich zu den gerundeten Formen der lateinischen Schreibweise sehen die spitzwangigen Sütterlinge wie Wegelagerer aus, die den verfetteten Lateinern ans Leder wollen. Die Frage, wozu wir die Sütterlin­Schrift benötigen, wird nicht einmal unter Lehrern gestellt. Nach dem i kommt das n, dann das m und das o. Wir lernen das a. Es gibt Buchstaben, die in Texten nie vorkommen und dennoch zu lernen sind, beispielsweise das y. Buchstaben bilden Laute ab.

 

 

Wenn man Buchstaben zusammenführt, mögen Worte entstehen. Wenn man Worte kombiniert, hat man vielleicht Sätze geschaffen. Am Ende mögen aus Buchstaben Welten, ja Universen und Galaxien, erstehen, die glücklicherweise mit dem realen Leben und seiner Langeweile wenig zu tun haben. Was für eine Zauberei, staune ich. Ich wische mit dem Schwamm alles Geschriebene auf der Tafel aus und beginne neu zu schreiben. „Mama“, schreibe ich. „Nanu“. „Nanu Mama“.

 

 

3.

 

Ich habe mich auf meine zweite Fibel gefreut. Die erste hatte sich auf eine Wiedergabe von Buchstaben und einfachsten Worten beschränkt. Aber in der zweiten Fibel sollen vollständige Geschichten stehen. Das haben mir Schüler aus den oberen Klassen erzählt.

 

 

Ich habe meine zweite Fibel bekommen. Ich blättere sie in den Schulstunden durch. Zu Hause angekommen, ziehe ich mich unter meine Rhabarberblätter zurück. Ich beginne in der zweiten Fibel zu lesen. Meine Tante findet mich sogar unter Rhabarbersträuchern. „Teil dir die Geschichten auf, dann hast du mehr von dem Buch“, sagt sie. „Aber ja“, sage ich und wende das Blatt.

 

 

Die Geschichten, die ich in meiner Fibel vorfinde, sind kurz. Im Nachhinein waren sie unerträglichen pädagogisch. In dem Gedicht „Die Mutter“ wird beschrieben, wie diese von einer Arbeit zu der anderen übergeht und sich keine Pause gönnt. Am Ende hat sie sich totgearbeitet, ohne einmal mit ihren Kindern gesprochen zu haben. Ich habe meine zweite Fibel an einem Nachmittag durchgelesen. Ich klappe sie zu und denke: Mehr davon!

 

 

Der Winter ist über uns hereingebrochen. Dieser ist härter als die vorangegangenen. Oder so kommt mir das vor. Meine Tante hat mich in zusätzliche Lagen an Kleidern gesteckt, bevor sie mich auf den Weg zur Schule geschickt hat. Ich stapfe durch den Schnee. Ich friere entsetzlich. Ich nehme mir vor, erst zu weinen, wenn ich am nächsten Telegrafenmasten angekommen bin.

 

 

Als ich das Schulgebäude erreiche, bin ich eingefroren. Meine Schwester und ihre beste Freundin stürzen sich auf mich, sobald ich den Klassenraum betreten habe. Sie reiben meine erfrorenen Händchen und rufen in aufmunterndem Ton: „Och, och.“ Der Lehrer erlaubt mir, bei den Mädchen der obersten Klasse zu bleiben, weil es draußen so kalt gewesen ist. Ich erhole mich wieder. Ich hole meine Tafel aus dem Tornister und beginne, Bilder zu malen. Diese halte ich klein, weil sie zusammengehören und alles auf eine Tafel soll. Links oben stehen Sonne, Mond und Sterne über einem Dorf und beschenken es mit Strahlen. Diese stelle ich als unterbrochene Striche dar. Da kommt Sturm auf, ich weiß nicht woher. Er bläst aus vollen Wangen. Regen und Hagel gesellen sich als Bundesgenossen hinzu. Schneetreiben setzt ein. Von Sonne, Mond und Sterne ist nichts mehr zu sehen. Als die bösen Elemente meinen, gewonnen zu haben, schlägt die Sonne zurück. Sie fährt die Tafel herauf und herunter. Sie schüttelt den Sturm und rüttelt an ihm, bis ihm die Luft ausgegangen ist. Das letzte Bild rechts unten ist ein Idyll und sieht fast aus wie das erste.

 

 

„Watt hesse dor mohlt?“ fragt die Freundin meiner Schwester. Gleich hat sie mir die Tafel entwendet und an die anderen Mädchen herumgereicht. „Datt ist over schön“, rufen die. Ich durchschaue sie. Sie nehmen mich nicht ernst. Oder vielleicht doch? „Ick well miene Tofel weierhem“, rufe ich. „Da hast du eine schöne Geschichte gemalt“, sagt die Freundin meiner Schwester auf Hochdeutsch, während sie mir die Tafel zurückgibt.

 

 

„Haltet euren Mund und macht eure Arbeiten!“ ruft der Lehrer aus der anderen Hälfte des Klassenraumes, wo er sich mit den unteren Klassen abgeben muss. Die Mädchen beugen die Köpfe über ihre Hefte. In den oberen Klassen wird nicht mehr auf Tafeln geschrieben. „Ick hewwe hörd, datt du jümmer weia in`n Busk gahs“, sagt eines der Mädchen, nachdem sich der Lehrer abermals einer unteren Klasse zugewandt hat. „Datt dau ick“, bestätige ich. „Und?“ fragt das Mädchen. „Hesse Hexen seihn?“ „Ganz fierle“, bestätige ich. „Und dann?“ rufen die Mädchen. „Vertell us.“ „Mien Hund hätt sie ohle friätten“, sage ich.

 

 

Die Mädchen kreischen so leise, dass der Lehrer nichts hört. Sie tun als gruselten sie sich. Dann rufen sie: „Vertell uus ne annere Geschichte!“ „Nee“, sage ich. „Vertell uus eine Geschichte!“ rufen die Mädchen. „Kumm, Dieter.“ Und zum Teil auf Hochdeutsch: „Mürkers Dieter, sei ein guter Junge.“

 

 

Ich erzähle den Mädchen eine weitere Geschichte. Diesmal handelt sie nicht von Hexen, obgleich sie im Busk spielt. Bubi Dürkopp und ich wollen im Busch ein Baumhaus errichten. Irgendwann beginnt er mich wieder zu schlagen. Auf getrennten Wegen kehren wir auf unsere Höfe zurück.

 

 

Bubi und ich haben unser Baumhaus fertiggestellt. Wir besuchen es wieder. Auf unserem Weg begegnen wir Heino Stengelmann. Der grinst tückisch. „Ich wollte mir immer schon euren Busch ansehen“, sagt er. Heino Stengelmann wohnt in Schwattenhusen, einer kleinen Ansammlung von Höfen zwischen Brauk und dem Dorfzentrum. Er ist einer der Flüchtlingsjungen und breiter als andere Kinder. Mit einem wie ihm würde sich Bubi Dürkopp nicht anlegen, es sei denn, ein halbes Dutzend weiterer Kinder stünde bereit, für ihn einzugreifen. Bubi überkommt eine Ahnung. Er klettert den Baum hoch und schaut in das Baumhaus. Heino Stengelmann hat in unser Baumhaus geschissen.

 

 

„Warum hast du das getan?“ frage ich Heino Stengelmann. Der lächelt leer vor sich hin. Er ist nicht darauf eingestellt, Fragen zu beantworten. Bubi Dürkopp turnt den Baum herunter und macht sich auf den Weg aus dem Busk. „Wo wutte henn?“ rufe ich hinter ihm her. „Ich hurl datt Gewehr von mie´em Foohder!“ ruft Bubi Dürkopp fast schluchzend über seine Schulter. Heino Stengelmann hat Bubi gehört und verkrümelt sich.

 

Aber Bubi kehrt nicht in den Busk zurück. Der alte Dürkopp hat auf gepasst und Bubi das geschulterte Gewehr weggenommen. An anderen Tagen passt der alte Dürkopp weniger auf. Dann verschanzt sich Bubi am Rande des Busks und schießt mit dem Luftgewehr auf Flüchtl ingskinder, die kleiner als Heino Stengelmann sind. Das verletzt sie nicht wirklich, selbst wenn er sie trifft, aber es tut ziemlich weh. Wir Kinder von den unteren Klassen dürfen die Schule früher verlassen, um trotz des Schnees gut nach Hause zu kommen. Ich mache mich mit den anderen Kindern aus dem Brauk auf den Weg. Wir zielen mit unseren Zwillen auf die Porzellantassen an den Telegrafenmasten. Wenn einem von uns ein Treffer in der Mitte einer Tasse gelingt, fällt das Köppcken herunter. Ich habe die anderen Kinder aus dem Brauk aus den Augen verloren. Es wird dunkel. Ich sehe nichts mehr, was mir bekannt vorkommt. Ich gehe auf spiegelglatter Fläche im Kreis. Mein Hund ist gekommen. Er hechelt mich an. „Dor bisse jo“, sage ich. Ich umfange den Leib meines Hundes. Das habe ich mir gedacht, dass er mich irgendwann finden würde. Mein Onkel ist mitgekommen. Er hat sich gemeinsam mit meinem Hund auf den Weg gemacht, als es dunkel wurde und ich dennoch nicht heimkam. „Wo büsse blooß wäsen?“ fragt meine Tante, während sie mich mit heißem Wasser auftaut und dickwollenen Handtüchern abreibt. „Ich hewwe fonndaage ne Geschichte moolt and twei Geschichten vertellt“, sage ich. „Dei musse mie uk vertellen“, sagt meine Tante. Aber sie erzählt lieber selbst.

 

 

Im Nachbardorf ist ein Mädchen im Schneetreiben auf dem Nachhauseweg vom Weg abgekommen. Sie wird von vielen Leuten gesucht und erst nach Stunden gefunden. Aber als sie ins Haus gebracht und dort aufgetaut wird, geschieht das zu schnell. Da fällt ihr die eingepökelte Nase ab. Ogottogott. Jetzt klagen alle. Wie konnte das passieren? Was für einen Mann kriegt das Mädchen noch ab, wenn überhaupt einen? „Kricht se keinen Hoff?“ frage ich. Wenn sie eine Hoferbin ist, würde eine abgefallene Nase nichts ausmachen.

 

 

4.

 

Auf Kreisebene wird ein Regionalblatt herausgegeben. Sie heißt „Die Harke“. Zur Karnevalszeit benennt sie sich in „Die Forke“ um. Als ob wir im Königreich Hannover wüssten, wie man Karneval feiert. Der Redakteur in der Kreisstadt versucht, sich aus den Meldungen der Presseagenturen ein Bild zu machen. Er gibt seine Auswahl an uns weiter. Die „Harke“ verfügt über Exklusivmeldungen aus dem Kreis, beispielsweise wenn ein Pferd in Grotebühl beschlagen wird. Das „Mindener Tageblatt“ kommt aus dem Preußischen. Es müht sich, in den Hannoveraner Grenzgemeinden Fuß zu fassen. Der Gemeinderat von Grotebühl hat getagt. Er hat richtige Worte gewählt und wichtige Entscheidungen getroffen. Welche waren es? Hier haben die freien Mitarbeiter der „Harke“ und des „Mindener Tageblatts“ nicht aufgepasst.

 

 

Der verlorene Sohn ist auf den Hof zurückgekehrt. Das ist der beste Tag für Onkel und Tante seit Jahren. Mein Hund und ich riechen, wie sich die unerträglichen Sorgen meines Onkels und meiner Tante um ihren Jüngsten verflüchtigen. Der Sohn geriet in der Nähe von Reims in französische Kriegs gefangenschaft. Das bewahrt ihn davor, in weiteren Kampfhandlungen erschossen zu werden. Während der Transporte wird er von der französischen Bevölkerung angespuckt. Der Sohn schüttelt den Kopf, als er solches erzählt. Er hat keinem Franzosen etwas zuleide getan. Er hätte das nicht mal gemacht, wenn sich eine Gelegenheit ergeben hätte. Warum wird er dann angespuckt?

 

 

Der Sohn muss nicht fürchten, ich könnte seine Stelle einnehmen. Oder fürchtet er es doch? Während wir am Mittagstisch sitzen, sagt er zu mir: „Wenn du weiter so zappelst, wirst du in den Keller gesperrt.“ Es belustigt mich, dass ich das als Drohung verstehen soll. Also zappele ich weiter. Der Sohn bedauert, dass er eine Drohung ausgesprochen hat. Jetzt muss er sie einlösen, wenn ich ihn ernst nehmen soll. Er nimmt mich am Kragen und trägt mich in den Keller. Ganz dunkel wird es nicht, weil der Keller ein Fenster fast in Deckenhöhe besitzt. Ich setze mich an die Wand gegenüber der Treppe. Draußen ist sowieso nicht viel los. Wer mich in den Keller gesperrt hat, muss mich wieder herausholen.

 

 

Der Sohn des Hauses holt mich aus dem Keller. „Na, war es schlimm?“ erkundigt er sich. „Nö“, sage ich. Aber ihm zuliebe verzichte ich fürs erste aufs Zappeln.

 

 

Der Sohn des Hauses hat sich eine 125er DKW angeschafft. „Wutte mitkurm?“ fragt er mich. Was gäbe es Besseres, als in die Welt hinauszufahren? Also nimmt er mich auf dem Soziussitz mit.

 

 

Wenn man von der Futterküche in den Stall kommt, stehen rechts die Kühe und liegen links die Schweine. Die Ställe für die Schweine sind nach der Sau mit den Ferkeln, den Stangen und den Schweinen, die sich in Maschinen zur Fleischakkumulation verwandelt haben, unterteilt. Letztere dürfen eine Weile hoffen, dass die Schweinepreise im Fallen, nicht im Anstieg begriffen sind. Zwischen den Ställen für die

 

Schweine hat mein Onkel das Plumpsklo gebaut. Wenn der Sohn des Hauses am Morgen das Vieh versorgt und den Stall ausgemistet hat, zieht er sich auf das Plumpsklo zurück. Dort liest er „Die Harke“. Ich stehe in der Tür zur Futterküche und warte, dass der Sohn mit seinen Geschäften zu Rande kommt. Mein Hund tröstet mich: Nicht einmal der Sohn des Hauses kann den ganzen Morgen auf dem Donnerbalken sitzen, zumal er irgendwann wieder arbeiten muss. „Sei ruhig“, antworte ich. „Du bist nur ein Hund. Du kannst nicht wissen und willst nicht erfahren, was in der „Harke“ steht.“

 

„Die Harke“ erscheint jeden Morgen, aber erreicht sie uns auch? Die Zeitungsboten wechseln zu häufig. Oder sie treffen einen unserer Nachbarn und geben ihm unsere Zeitung auf dem Weg. Die zeigen keine Eile, die Zeitung an uns weiterzugeben. Im Grunde ist eine Zeitung, da sind sich alle einig, etwas Unnützes. Fast muss man sich bei den Bauern in Grotebühl entschuldigen, sofern man sich eine Zeitung hält. Es ist tiefer Nachmittag geworden und wir haben nach wie vor keine Zeitung. In meiner Not laufe ich den Pattweg hinunter. Der alte Dürkopp hat unsere Zeitung in seinen Zaun gesteckt. „Mensch, kannst du uns nicht wenigstens sagen, dass du unsere Zeitung hast?“ rufe ich. Der alte Dürkopp tut, als wolle er einen Satz über seinen Zaun machen und über mich kommen. Ich nehme meine Zeitung und flüchte nach Hause. Als der Bote die Zeitung direkt bei uns abliefert, sage ich: „Du sollst unsere Zeitung nicht unseren Nachbarn geben.“ „Du Gernegroß willst mir sagen, wie ich meine Arbeit machen soll“, stellt der Zeitungsbote fest. Meine Tante lacht mit dem Zeitungsboten. Ist das nicht lustig, was den Kindern durch die kleinen Köpfe flutet, während sie rein gar nichts verstehen?

 

Der chinesische Bürgerkrieg ist in seine letzte Phase getreten. Schanghai, Kanton und Nanking fallen in die Hände der kommunistischen Truppen. Ich versuche, mir an den Zeichnungen in der „Harke“ ein Bild von den sich täglich verändernden Frontverläufen zu machen. Ich mache mich auf meiner Schiefertafel an eine Rekonstruktion des Landes. Ich wische die Landkarte aus und zeichne eine neue. Die kommunistischen Truppen sind an der britischen Kronkolonie Hongkong vorbeigezogen, obgleich diese im Grunde zu China gehört. Das bestreiten nicht einmal die Briten. Aber die Chinesen haben wie wir Deutschen verstanden, dass man sich vor den Tommies hüten muss. General Tschiang Kai Scheck verlässt mit dem Rest seiner Truppen das chinesische Festland und setzt mit ihnen auf die Insel Taiwan über.

 

 

In Korea ist ein neuer Krieg ausgebrochen. An den von der „Harke“ mitgelieferten Lageskizzen vollziehe ich seine Entwicklungen nach. Die Truppen der Alliierten werden zurückgeworfen. Bald halten sie einen letzten Zipfel im äußersten Südosten. Die Belagerung der Hafenstadt Pusan durch die kommunistischen Truppen schreitet voran. Der amerikanische General McArthur holt zu einem entscheidenden Schlag aus. Er landet im Rücken der nordkoreanischen Truppen. Die nordkoreanische Armee wird von hinten aufgerollt. In kürzester Zeit ist Südkorea befreit und Nordkorea erobert. Die alliierten Truppen stehen an der chinesischen Grenze. Der nordkoreanische Diktator Kim Il Sung verwandelt sich in einen historischen Witz. Nun greift die chinesische Armee in die Kämpfe ein. Die Truppen der Alliierten werden zurückgeworfen. Erst in der Nähe der früheren Grenze leisten sie erfolgreichen Widerstand. Kim Il Sung wird wieder zu einem ernstzunehmenden Tyrannen. Am Ende wird Korea ein weiteres Mal in Höhe des 38. Breitengrades geteilt. Es hat sich nichts verändert, außer dass ich einiges in fernöstlicher Geo grafie gelernt habe.

 

 

Der Sohn des Hauses kommt von der Arbeit auf den Feldern nach Hause. Er hat viel zu tun, weil Erntezeit ist. Er wirft seine Mütze auf den Stuhl. „Wie kürnt de Zeitung abbestellen“, sagt er. „Die läst doch keiner.“ „Doch“, protestiere ich. „Ick läse se.“ Abermals hat mir keiner zugehört. Der Sohn des Hauses holt sein Motorrad seltener aus der Scheune und fährt kürzere Strecken als rund um das Große Moor. Er hat sich an das Leben in Grotebühl wieder gewöhnt.

 

 

5.

 

In der Erntezeit müssen alle Hände mit anpacken. Das sehe ich ein. Wollte man abends die Zeitung aufschlagen, fielen einem vorher die Augen zu. Andererseits gibt es ruhigere Zeiten, da man sich auf parallele Welten in schriftlicher Form konzentrieren darf. Hier ist der Rest der Welt anderer Meinung als ich.

 

Mit den Leuten um mich herum bin ich in einen unerklärten Krieg eingetreten. Meine Feinde versuchen mir den Lesestoff zu entziehen. Ich kämpfe darum, neuen Lesestoff zu finden und mir anzueignen. List, Umsicht, Ideenreichtum, Mut, Ausdauer, Unbeirrbarkeit, rasches Handeln, die Bereitschaft, zu lügen und zu betrügen und notfalls zu morden, sind vonnöten, um zu gelegentlichen Erfolgen zu kommen. Ich tröste mich mit der Vorstellung, dass es in Hongkong, Djibouti, Trinidad und woanders Menschen geben könnte, die den gleichen einsamen Kampf wie ich führen. Auch sie wollen nicht ausschließlich in der langweiligsten aller Welten gefangen sein, ohne die kleinste Chance auf Entkommen zu ergreifen.

 

 

Viele Jahre später sind die Feinde meines parallelen Universums geschickter, geradezu belesen geworden. Sie geben sich als meine  Freunde aus. Man kann ruhig etwas lesen, finden sie, aber doch nicht dies und nicht das. Sie hören mir nicht zu, wenn ich sage, dass mich meine Lektüre niemals enttäuscht hat. Ich rufe nach meinen Freunden, von denen ich nicht weiß, ob es sie gibt oder jemals gegeben hat. Hörst du mich, Hongkong? Bist du tapfer geblieben, Djibouti? Was machst du unter deinem Kopfkissen, Trinidad?

 

 

6.

 

Abermals fallen Menschenmassen ins Kirchspiel ein. Ich lehne am Zaun unseres Hofes und schaue auf die ferne Straße. Auf der Chaussee ist ein Bus stehen geblieben. Ein Meer aus dunkelgekleideten Männern und Frauen quillt heraus. In ihren Händen halten sie Koffer. Ein weiterer Hungerwinter, der von 1947/48, kommt allmählich ans Ende. Nach der Produktion ist in Deutschland die Verteilung von Gütern zusammengebrochen. Sie kommt durch die gut gemeinten Bemühungen der Alliierten nicht wieder in Gang. Geld ist so wenig wert, dass es mir als Spielgeld von geizigen Bauern in die Hände gedrückt wird. Wenn ein Handel zustande kommen soll, heißt es immer nur „Ware gegen Ware“.

 

 

In den Städten schaut man sich die eigenen Bezugsscheine an. Einer dieser Scheine berechtigt zum Bezug bestimmter Lebensmittel in geringen Mengen. Freilich sind die Regale in den Geschäften leer. Sollten wider Erwarten Nahrungsmittel eintreffen, entstehen im Nu lange Schlangen. Selbst wenn man alle Bezugsscheine einzulösen imstande wäre, lebte man unterhalb seines Existenzminimums.

 

 

Die Städter suchen die Ecken ihrer Haushalte nach letzten verbliebenen Wertsachen aus besseren Zeiten ab. Sie bepacken ihr Köffer chen und fahren aufs Land. Sie hoffen, mit Brot, Butter, Eier, Schinken und Speck nach Hause zurückzukehren. Sie träumen davon, wenigstens ein einziges Mal in ihrem ferneren Leben wieder satt zu werden. Die Reisen aufs Land werden Hamsterfahrten genannt. Die Bauern aus den Gemeinden am Großen Moor sehen sich die Angebote der Stadtmenschen von Omas Sofa aus an. Sollten sie in ein Handelsgespräch eintreten, befinden sie sich in einer überleg enen Position, weil sie den angebotenen Kram nicht benötigen. Aber womöglich macht sich das eine oder andere Bild über dem Sofa gut. Vielleicht der röhrende Hirsch? Oder die Volkstanzgruppe in historischen Trachten? Wenn ein Bauer einen Preis und damit eine Einigung vorschlägt, kann ein ausgehungerter Großstädter nur zustimmen.

 

 

Von den Hamsterfahrten wird ein Unbehagen in den Städten gegen alle Bauern zurückbleiben. Man beginnt, vom „dummen Bauern“ zu reden. Als ob dieser seinen Vorteil seinerzeit nicht wahrzunehmen gewusst hätte. Das einst auf engen verwandtschaftlichen Beziehungen beruhende Bündnis zwischen Stadt und Land beginnt sich zu lockern. Kein Ruhrgebietsmensch gäbe sich mehr als verhinderter Landwirt aus. Käme einer mit Blut­und­Boden­Parolen in unsere Städte, tippten wir uns gegen die Stirn.

 

 

Es gibt in den Läden auf dem Land nichts zu kaufen. Deshalb produzieren die Höfe immer mehr für sich selbst. Es wird wieder Flachs angebaut, um sich eigene Kleider zu weben. Nur den Bäcker beliefern wir mit Mehl, damit er uns Brot backt.

 

 

Die Militärregierung hat das Brennen von Schnaps strikt verboten. Dennoch gibt es im Kirchspiel kaum etwas Wichtigeres als das Brennen von Schnaps. In mehreren Dörfern verlieren junge Männer ihr Augenlicht, nachdem sie das selbst hergestellte Gesöff in sich hinein geschüttet haben. Die Militärregierung hat auch das Schlachten von Schweinen verboten. Diese wurden wegen des grassierenden Hungers in den Städten unter staatliche Bewirtschaftung gestellt. Deshalb wird auf den Höfen ohne Trichinenschau geschlachtet. Mein Onkel versucht, direkt neben meinen Rhabarberblättern Tabak anzubauen. Alles darf man ihm nehmen, hat er gesagt, aber nicht seinen Hof, seine Arbeit und seinen Prüm.

 

Zwischen den Bauern­ und Flüchtlingsfamilien hat sich auf einigen Höfen eine arbeitsteilige Gesellschaft entwickelt. Wenn die Flüchtlinge den Bauern geholfen haben, werden ihnen Naturalien zugesteckt. Allerdings mag die gute Mettwurst weggeschlossen werden, bevor die Flüchtlingsfamilie ins Wohnzimmer darf. Das mag die Verwandtschaft auf ihren Besuchen ähnlich treffen. Auf einigen Höfen bleibt für jene, die nicht zur Kernfamilie gehören, nur die Blutwurst übrig.

 

 

Kaum ist bei den Dürkopps eine Flüchtlingsfamilie eingezogen, da wogt zwischen beiden Familienvorständen der Streit. Der alte Dür kopp fährt zur Polizeiwache nach Grotebühl. Er meldet, dass er auf seinem eigenen Hof mit Erschlagen bedroht werde. Der Polizeiwacht meister wiegt den Kopf, als er das hört. „Morde hat es in den Gemeinden am Großen Moor immer gegeben“, sagt er. „Unsere Chro niken sind voll davon. Aber diese Morde wurden der Polizei niemals gemeldet.“ „Dieser hier wird vorab gemeldet!“ schreit der alte Dürkopp. Der Polizeiwachtmeister besteigt seufzend sein Fahrrad und fährt drei Dörfer weiter zum Dürkopp´schen Hof. Dort erwartet ihn der Vater aus der Flüchtlingsfamilie, ein drahtiger Mann mit fremdländischem Blick. Dieser berichtet, dass er vom alten Dürkopp mit Erschlagen bedroht wurde. Während der Wachtmeister die wenig zusammenpassenden Aussagen der beiden Männer wägt, gibt ein Wort das andere. Alsbald stehen sich der alte Dürkopp und der Flüchtling mit Eisenstangen gegenüber. Der Polizeiwachtmeister steigt wieder aufs Fahrrad. „Hey, wo wutte henn?“ ruft Dürkopp, während er die Eisenstange senkt. Der Wachtmeister tritt in die Pedale. „Ick mott en Bericht schriem!“ ruft er. Dabei denkt er, Junge, Junge, wie soll ich das formulieren?

 

 

Als die ersten Hamsterer unseren Hof betreten, erinnere ich mich, woher ich gekommen bin und wohin ich womöglich irgendwann wieder gehöre. Es tut mir weh zu erfahren, dass man im Ruhrgebiet hungern muss. Die Männer, die mit meinen Leuten in Verhandlungen eintreten, sind vom Fleisch gefallen. Sie haben Angst, dass sie den langen Weg umsonst gekommen sind. Als erstes klappen sie ihre Köfferchen auf. Die Anzüge, die sie den Koffern entnehmen, sehen wie neu aus. Die Männer weisen auf positive Merkmale der Anzüge hin, beispielsweise die dazugehörigen Westen. Als Dreingabe werden Krawattentüchlein versprochen.

 

 

Meine Leute sitzen ihren Verhandlungspartnern aus der Stadt steif gegenüber. Die Tante nimmt einen Anzugsstoff zwischen Daumen und Zeigefinger und reibt ihn. Damit will sie wohl seine Qualität prüfen. Der Sohn des Hauses hat begonnen, Fragen zu stellen. Die Leute aus der Stadt leben auf, weil eine erste Konversation in Gang gekommen ist. Da verlassen meine Leute mit Ausnahme meiner Tante die Wohnstube, um Arbeiten in den Ställen und auf den Feldern zu verrichten. Die Städter werfen sich hilflose Blicke zu. Was hat das zu bedeuten? Sollte ihnen ein Fehler unterlaufen sein? Meine Tante beruhigt unsere Gäste: „Dei kummt trügge.“ Um die Situation für sie verständlicher zu machen, beginnt sie Hochdeutsch zu reden: „Bei uns wird die Arbeit nicht von selber fertig.“ Doch kann meine Tante nicht anders als gutherzig sein, sobald sie direkte Not sieht. Sie kocht unseren Gästen Muckefuck und schmiert ihnen Brote.

 

 

„Hebbt jii freuer feerl Bohnenkaffee drunken?“ fragt sie. Die beiden Städter sehen sich an. „Ja, früher vor dem Krieg, als die Zeiten besser gewesen sind.“ Derweil beißen sie mit Inbrunst ins Butterbrot und wischen sich die Marmelade aus den Mundwinkeln.

 

 

Überall werde von einer bevorstehenden Währungsreform gesprochen, sagt meine Tante und fügt fragend hinzu, was sie davon hielten. Eine Währungsreform bringe nichts, meint einer der Männer. Was nützen uns neue Scheine, wenn es keine Güter gibt, die sich kaufen ließen? Meine Tante ist noch gutherziger als ich gedacht habe. Sie fragt mich: „Wutte nich diene Eier verkööpen?“ „Au ja“, sage ich und rutsche vom Stuhl, um meine angemalten Ostereier zu holen. Derzeit lohnt es sich nicht, Eier zu verkaufen, weil man als Gegenleistung nur Spielgeld erhält. Andererseits leiden wir an einer Überproduktion von Eiern. Ich habe einige meiner Eier ins Wohnzimmer geschleppt. „Dann muss ich jetzt mit dir verhandeln“, sagt der Mann. Er versucht zu lächeln. Das gelingt ihm schlecht. Er macht mir ein Angebot. „Iss gaut“, sage ich und schiebe meine Eier zu ihm hinüber. Mit Leuten, die hungern, mag ich nicht handeln.

 

 

Meine Leute kehren aus den Ställen zurück. Die Verhandlungen werden wiederaufgenommen. Jetzt geht es um was. Der Sohn des Hauses zwängt sich in eine der Hosen. Auf Befehl seiner Schwester dreht und wendet er sich. Er geht auf und ab. Passt die Hose oder tut sie es nicht? Meine Leute wissen sich nicht zu entscheiden. Einer der beiden Männer gibt sich als Schneider zu erkennen. Er bietet an, alle Änderungen vorzunehmen, die wir uns wünschen. Das soll auch nichts kosten. Meine Leute nicken einander zu. Schneider gibt es in un seren Dörfern auch. Das ist ein anständiger Beruf.

 

 

Eine quälend langwierige Erörterung hebt an. Welche Änderungen sind notwendig? Wo sollten sie vorgenommen werden? In welchem Zeitraum müssten sie abgeschlossen sein? Kann der Schneider die Änderungen gleich hier machen? Oder müsste er die Hose und gegebenenfalls den Anzug mit nach Hause nehmen? Wir einigen uns. Der Schneider hat seinen Zwirn dabei. Ich sehe, wie sich meine Leute erschöpfen. Heute redeten sie mehr als sonst wochenlang nicht. Meine Leute gehen zurück an die Arbeit. Auch meine Tante ist irgendwo draußen. Die Städter werden unruhig. Bald wird sie der Bus aufpicken und ins Ruhrgebiet zurückbringen wollen. In ihrer Not wenden sich die Hamsterer an mich. „Meinst du, dass deine Leute einen der Anzüge kaufen?“ fragen sie. „Nein, das glaube ich nicht“, sage ich. „Wie kommst du zu dieser Einschätzung?“ fragt einer der Männer. „Sind die Anzüge nicht in Ordnung? Glauben sie nicht, dass ich ein Schneidergeselle bin?“ „Darum geht es nicht“, sage ich. „Es ist nur, dass sie in so kurzer Zeit keine Entscheidung treffen können.“ Die beiden Männer starren vor sich hin. „Es geht hier langsamer als in den Städten zu“, versuche ich zu erklären. „Es muss hundertmal alles von vorne bis hinten bedacht sein.“ Einer der Männer hat einen Blick auf mein Lesebuch auf der Fensterbank geworfen. „Liest du gern?“ fragt er mich. „Joo“, antworte ich. „Vielleicht hätten wir unsere Bibliothek auflösen sollen, statt Anzüge zu verkaufen“, sagt ein Mann zu dem anderen. „Das hätte keinen Sinn gemacht“, sage ich. „Im Grunde dürfen in unserem Dorf keine Bücher gelesen werden. Die halten uns nur von der Arbeit ab. Geld geben wir auf keinen Fall für so etwas aus.“

 

 

Die Leute aus der Stadt möchten mir nicht glauben. Sie wollen sich die Abfuhr meiner Leute persönlich abholen. Einer von ihnen geht in den Stall. Als der Mann zurückkommt, lege ich meinen Kopf auf den Tisch. Ich möchte die Blicke unserer Gäste nicht sehen.

 

 

7.

 

Die Nachricht verbreitet sich schneller als die Neuigkeiten über weitere Geburten im Kirchspiel. Jeder erwachsene Bewohner der Gemeinde erhält Sonntagmorgen im Gemeindebüro 50 Deutsche Mark bar auf die Hand. „So erhält jeder Deutsche die gleiche Chance, seines Glückes Schmied zu werden“, zitiert meine Tante, nachdem sie diesen Satz im Radio gehört hat.

 

 

Die Bündel an Reichsmark in den Beständen der Bürger werden im Verhältnis eins zu zehn umgetauscht. Immobilien werden in ihrem Wert nicht verringert. So kommen unsere Bauern gut aus der Währungs­reform von 1948 heraus. Ich erfahre, dass dies nicht unsere erste Währungsreform ist. 1923 sind wir alle Trillionäre gewesen, bis als letzte Rettung die Reichsmarkreform kam. Als mein Vater zu Besuch kommt, bedränge ich ihn mit der Frage, wie es damals gewesen sei. Er erinnert sich ungern. Damals erhielten die Arbeiter auf den Zechen an jedem Tag Geld. Von Tag zu Tag waren auf den Banknoten mehr Nullen gedruckt. Gleichwohl waren die Noten in immer größeren Loren heranzuschaffen. Sobald mein Vater sein Geld für eine Schicht bekommen hatte, verfiel er in Dauerlauf, um im nächstgelegenen Geschäft gerade noch etwas für sein Geld zu bekommen. Dort wurden die Preise im Minutentakt in die Höhe gesetzt.

 

 

Am Tag nach der Währungsreform sind die Schaufenster, die Ausstell ungsräume und die Lager der Geschäfte bis zum Bersten gefüllt. So viel hat es noch nie in Deutschland zu kaufen gegeben, behauptet mein Vater. Hoffentlich war das die letzte Währungsreform.

 

 

Wiederum werden die Höfe von Fremden besucht. Diesmal sind es gutangezogene Käufer. Einer von ihnen kommt mit einer BMW samt Beiwagen auf unseren Hof gefahren. Er bietet an, das uralte Gerümpel kostenfrei abzutransportieren und brandneue Möbel aus der Fabrik aufzustellen. Zusätzlich zum neuen Wohnzimmer gibt es, ach, er will sich nicht lumpen lassen, hundert Deutsche Mark bar auf die Hand.

 

 

Abermals hat sich die Familie im Wohnzimmer versammelt. Hundert Deutsche Mark zu bekommen statt auszugeben, klingt gut. Da wird man sich von alten Erbstücken verabschieden dürfen. „Jümmer man tau“, sagt der Hai und geht auf dem Hof herum. Wenn ich noch 50 Deutsche Mark dazu packe, denkt er, ist die Truhe die meine. So verschwindet unser Schmuckstück aus dem 17. Jahrhundert über mehrere Zwischenschritte in der Kemenate eines begüterten Sammlers. 1948 hatte ich keinen schlechten Geschmack. Vielmehr hatte ich gar keinen. Aber das neue Wohnzimmer, das uns der Käufer der Truhe in die gute Stube gestellt hat, ist so hässlich, dass ich meinen Blick abwenden muss, um nicht zu erblinden. Glücklicherweise schließt meine Tante die gute Stube gleich ab, nachdem wir einmal hineingesehen haben. Sie wird nur geöffnet, wenn die Verwandtskopp zu einer Familienfeier zusammengekommen ist. Vielleicht gehen unsere Verwandten so schnell auseinander, weil sie irgendwo doch einen Sinn für das Schöne haben.

 

Der Onkel aus Hamburg ist auf Besuch gekommen. Mein Onkel und meine Tante werfen ihm Blicke zu, nachdem sie mit ihm geredet haben. Er versteht, nimmt mich auf den Schoß und redet freundlich mit mir. Irgendwann muss er zur Sache kommen.

 

 

„Ich häwe hört, datte gern lüst“, sagt er. Das stimme, bestätige ich. „Weisse eilicken, datt man vom feerlen Läsen verrückt wird?“ fragt er. Ich entwinde mich seinem Griff und angele mit meinen Füßen nach dem Boden. „Dat glöwe ick nech!“ rufe ich und laufe davon.

 

 

Am Abend sitzen wir am Wohnzimmertisch. Mein HamburgerOnkel versucht nochmals, freundlich zu sein. Freilich bin ich diesmal gewappnet. „Watt ist datt for eine Farbe?“ fragt er mich. „Datt ist schwatt“, sage ich. „Siehsse“, sagt mein Onkel, „ower wenn ick die segge, datt datt greun ist, ist datt greun.“ „Ne, datt bliewt schwatt, watt jümmer du sechss“, sage ich.

 

 

Mein Onkel beharrt auf seiner Meinung und wird weniger freundlich, weil ich gewagt habe, ihm zu widersprechen. „Wenn ihr so was in eurer Wehrmacht geglaubt habt, wundere ich mich nicht, dass ihr den Krieg verloren habt“, sage ich. Sogar meine Tante hat ihre Gabel hingelegt. Alle starren mich an. Ich stehe auf und gehe nach draußen, bevor ich noch mehr sage.

 

 

Auf meinem Nachhauseweg von der Schule spricht mich ein Flüchtlingskind an. Er kommt mit Hochdeutsch in unserer Gemeinde durch. Das verstehen wir alle, auch wenn wir so nicht reden. Aber für den Fall, dass es sich bei den Einheimischen einschleimen möchte, hat das Flüchtlingskind sich Platt beigebracht. „In diene Familie iss ja feerl loos“, sagt es. „Mord end Doodschlach, hewwe ick hört.“ Dazu sage ich nichts. „Ich hewwe uk hört, datte feerl lüst“, sagt das Flüchtlingskind. Das bestätige ich. „Dann büsse uk bolle verrückt“, sagt das Flüchtlingskind und auf Hochdeutsch, „ganz wie alle anderen in deiner Familie.“ Dazu sage ich nichts, weil ich zu überrascht bin, um nicht sprachlos zu sein. „Hör mie gaut tau“, sagt das Flüchtlingskind. „Du moss sehr vorsichtich mitt die ümmegahn, wennet nich in´n Kopp kriergen wutt. Du sechss jetzt kein Woord mehr und Läsn draffsse uk nich.“ Ich nicke dem Flüchtlingskind zu und geselle mich zu den Kindern aus dem Brauk, um mit ihnen zu tollen. Das Flüchtlingskind nimmt mich abermals an die Seite. „Hewwe ick die nich secht, datte vorsichtich mitt die ümmegahn moss?“ fragt es. Ich sage auf Hochdeutsch: „Du bist so was von bescheuert.“ Dazu lache ich das Flüchtlingskind aus, bevor ich mich zurück zu den Kindern aus dem Brauk begebe. Das nächste Mal, sage ich mir, hätte ich keine Wahl mehr und müsste versuchen, ihn zu verprügeln. Doch hoffe ich, dass es nicht so weit kommt.

 

 

Meine Tante redet wiederholt von Leuten, aus denen etwas geworden sei, obgleich sie auf der Schule nichts brachten. Von den Leuten, die etwas geworden sind, obgleich sie auf der Schule gut waren, spricht sie nicht.  Die Verwandtschaft ist zu einem runden Geburtstag zusammengekommen. Ich kann mir nicht merken, wer diesmal den Anlass gab. Der älteste Bruder reicht meinem Vater widerwillig die Hand. Er wollte nicht mehr mit meinem Vater reden, seit das in der Familie meines Vaters passiert ist. Andererseits kann man sich schlecht auf Familienfesten aus dem Weg gehen.

 

 

Meine Verwandtschaft füllt die gute Stube weitgehend aus. Nachdem sie sich auf den Stühlen verteilt hat, wirft sie Blicke auf mich. Ausnahmsweise soll ich zuhören. Der Sohn meines Hamburger

 

Onkels ist ein richtiger Junge, obgleich er aus der Stadt kommt, be richtet einer von ihnen in demonstrativem Ton. Die anderen Onkel sind auch dieser Meinung. Der Junge tollt ununterbrochen und spielt anderen Streiche. Manchmal wirft er Fensterscheiben ein. Oder er verprügelt kleinere Kinder. Damit zeigt der Hamburger Junge gleichfalls, dass er ein richtiger Junge ist. Meine Verwandtschaft schaut weiter immer auf mich. Ich habe längst verstanden, was sie von mir erwarten. Ausnahmsweise soll ich etwas sagen. Ich soll ihnen zustimmen. Ich bin wütend. Aber diesmal beherrsche ich mich. Ich stehe auf und sage auf Hochdeutsch: „Ich gehe jetzt zu meinen Büchern.“ Von denen muss keiner wissen, dass mir kein einziges Buch gehört.

 

 

8.

 

Die Deutschen essen wie verrückt, sobald sie ihre Hungerjahre hinter sich haben. Warum geht unsere Landwirtschaft dennoch kaputt? Die Preise für die meisten Produkte unseres Hofes decken kaum die Gestehungskosten. Sie entwickeln sich ungünstig. Die einzigen Ausnahmen stellen die Eier­ und bei allen Schwankungen die Schweinepreise dar. Da könnte man fast auf Verschwörungstheorien kommen. Die ersten Großbauern reden davon, mit ihrer Verzettelung auf viele Produkte Schluss zu machen und sich auf eine Produktlinie zu konzentrieren, um die eigenen Durchschnittskosten zu senken. So könnten sie zum Beispiel 250 Schweine oder 150 Kühe in die Ställe stellen und alles andere dichtmachen. Aber wird eine Ein­ProduktLandwirtschaft nicht stärker getroffen, wenn das eine Produkt, das sie anbieten, auf einmal nicht geht?

 

 

Mittlerweile gehen die Preise für Eier durch die Decke. In jeder Woche erhält meine Tante pro Ei ein, zwei Pfennige mehr. Meine Tante nimmt mich an die Seite. „Du verstehst, wenn du diesmal keine Ostereier bekommst“, sagt sie. „Wir müssen alles auf den Markt werfen.“ Mein Onkel und sein Sohn nehmen sich vor, in diesem Jahr weniger Junghennen zu schlachten. So lässt sich die Eierproduktion steigern. Aber kurz vor Ostern brechen die Eierpreise ein. Wir sind in einen weiteren Schweinezyklus geraten, nur dass es diesmal die Eier sind.

 

 

Ich bekomme doch meine Ostereier geschenkt. Meine Tante destilliert besonders schöne Farben. Mit ihnen bekomme ich meine Eier bunt. Meine Schwester kommt zu Ostern aus ihrer Stellung auf einem Hof aus dem benachbarten Dorf zu Besuch. Sie trägt einen fordernden leicht verschleierten Blick, den ich bislang nicht an ihr gesehen habe. Aber als wir gemeinsam die Ostereier anmalen, scheint alles wie früher.

 

 

Mein Onkel kommt gegen sechs Uhr morgens aus dem Stall und schaltet den Volksempfänger ein. Nach den Nachrichten, die keiner hören will, kommen die Schweinepreise an die Reihe. Die Schlachthöfe des Ruhrgebiets geben bekannt. Zwischen Dortmund und Essen mögen Unterschiede von mehreren Pfennigen pro Kilo Schlachtgewicht bestehen. Andererseits macht unser Händler für uns die Schweinepreise. Wir verdächtigen ihn, dass er uns über den Tisch ziehen will. Unser Rundfunkgerät versorgt uns mit Wetteraussichten. Diese sind gemeinhin so falsch, dass der krähende Hahn auf dem Mist fast zu besseren Ergebnissen kommt. Andererseits hängt unser Geschick davon ab, dass wir unsere nächste Heuernte trocken hereinbekommen. In unserer Bedrängnis schalten wir weiter das Radio ein. Irgendwann nehme ich mir die Freiheit, das Rundfunkgerät selbst anzustellen. Das wird nicht gern gesehen, aber mein Wunsch, Radio zu hören, überwältigte mich. Glücklicherweise stellt mir keiner das Radio ab. Während ich mehrere Tage nacheinander das Radio einschalte, verwandelt sich Kühnheit in Gewohnheitsrecht.

 

 

Der Schulfunk beginnt an jedem Werktag gegen 9 Uhr. Wenn ich keine Ferien habe, kann ich gleichwohl Schulfunk hören, weil die Sendungen ab 14 Uhr wiederholt werden. Jede Schulfunksendung wird mit der „Kleinen Nachtmusik“ von Wolfgang Amadeus Mozart eingeleitet. Auch wenn die Sendungen des Schulfunks mehr oder minder spannend sind, ich höre sie alle. Wenn in englischer oder französischer Sprache gesendet wird, verstehe ich nichts. Dann stelle ich mir Kinder in Schuluniform mit richtigen Schuhen vor, die wie selbstverständlich fremdländisch sprechen.

 

 

Derweil laufe ich im Sommer barfuß und im Winter in Holzschuhen einher. Das Tragen von Holzschuhen führt dazu, dass ich quadratische Füße bekomme und später in einem Radius von 120 Kilometern kein Schuhgeschäft finde, das mir passende Schuhe verkaufen kann. Solange ich mir keine Maßschuhe leisten kann, humpele ich, sobald ich mir neue Schuhe angeschafft habe, unter Schmerzen einher. Bald erblühen Blasen an meinen Füßen. Aber irgendwann habe ich die Schuhe eingelaufen und von meinen kommenden Rückenschmerzen weiß ich noch nichts.

 

 

Eine Schulfunkgeschichte, die mich besonders beeindruckt, spielt im Süden der Vereinigten Staaten. Ein Amerikaner verbringt seinen Urlaub in den Südstaaten. Er lässt sich von der Sonne so bräunen, dass er beinahe für einen Neger durchgeht. Alles scheint in Ord nung, bis der Amerikaner in einen Unfall verwickelt wird und drin gend in ein Krankenhaus muss. Jetzt wird er wirklich für einen Schwarzen gehalten. Die Krankenhäuser nehmen Neger nicht auf. Der Amerikaner fährt von einem Krankenhaus zum nächsten und wird jedes Mal abgewiesen. Der Taxifahrer verweigert ihm eine weitere Fahrt, weil er ihn durchschaut hat und ihn jetzt für einen Neger hält. Neger gehören nicht in Taxis für Weiße. Dem Amerikaner wird in den Krankenhäusern für Weiße nahegelegt, er möge sich in einem Krankenhaus für Schwarze aufnehmen lassen. Allerdings sind diese so ausgestattet, dass man sich lieber in Belgisch­Kongo den Zahn ziehen lässt. In letzter Minute wird der Amerikaner in einem Krankenhaus aufgenommen, diagnostiziert, operiert und gerettet. Für dieses Mal haben die guten Menschen gesiegt, die es auch im amerikanischen Süden gibt. Der gerettete Mann wird sein ferneres Leben der Verbesserung der Lage der Afro­Amerikaner widmen. Im Hintergrund spielt ein Streichquintett.

 

 

Wir in den Gemeinden am Großen Moor sind froh, dass wir zur britischen Besatzungszone gehören, weil es in der US­Armee viele Neger gibt. Dennoch ängstigen wir uns, weil die Briten und Amerikaner zusammenarbeiten. Andererseits hat sich herumgesprochen, dass die Neger lieb zu den Kindern sind. Sobald sie ein Kind sehen, verwandeln sie sich in warmherzige Menschen und schenken dem Kind ein Cadbury. Andererseits weiß jeder im Kirchspiel Grotebühl, dass der Neger durch die Haut uriniert. Wenn er zu schwitzen scheint, pisst er in Wirklichkeit. So etwas passt nicht zu uns und wir lehnen das aus hygienischen Gründen ganz und gar ab.

 

 

Davon höre ich in meinen Schulfunksendungen nichts. Dafür begebe ich mich in Onkel Toms Hütte. Tom ist ein so liebenswerter Neger, dass ich mich mit Schuhcreme anstreichen und durch die eigene Haut pinkeln möchte.

 

 

Der Sohn des Hauses unternimmt eine letzte große Tat, bevor er sich an das Leben auf dem Hof gewöhnt hat. Anders als bei der „Harke“, die unser Abonnement automatisch verlängerte, so dass es Jahre brauchte, um aus dem Vertrag herauszukommen, entscheidet er sich, eine Lesemappe auf andere Weise zu bestellen. Er geht ein Abonnement ein und kündigt es zugleich. So wird, wenn die Erntezeit kommt und das Abonnement automatisch abgelaufen ist, keiner zum Lesen in der Hitze gezwungen.

 

 

Der Lesemappenverleiher eröffnet die Möglichkeit, verschiedene Abonnements einzugehen. Wer die aktuellen Ausgaben der Illustrier te durchblättern möchte, zahlt mehrere Deutsche Mark für jede Woche. Aber wer mit Ausgaben zufrieden wäre, die vierzig Wochen und älter sind, ist mit vierzig Pfennigen dabei. Wir entscheiden uns für die Lesemappen mit den Ausgaben vierzig Wochen und älter, weil uns die Aktualität einer Geschichte gleichgültig lässt. Im Gegensatz zu den Städtern leben wir innerhalb der Jahreszeiten und außerhalb jeder anderen Zeit. Die Lesemappen werden in der Kneipe in der Dorfmitte eingesammelt. Im Gegenzug werden die neuen Lesemappen ausgegeben. Ich bin für das Recycling der Lesemappen zuständig. So komme ich als erster an weiteren Lesestoff. Somit habe ich noch einen Grund, mit meinem Fahrrad vom Brauk über Schwattenhusen ins Dorfzentrum gegen einen nur vorgestellten Gegner um die Wette zu fahren und zu gewinnen. Mit neuem Lesestoff versehen, radle ich in gemäßigtem Tempo zurück.

 

 

Wir gehen nicht mehr zu Fuß in die Schule, seit es wieder Fahrräder zu kaufen gibt und sogar die Kinder mit Fahrrädern ausgerüstet werden. Ich erhalte von meiner Tante ein Damenfahrrad, das allerdings in die Jahre gekommen ist. Obgleich der Sattel für mich tiefer gesenkt wird, kann ich nur im Stehen fahren. Wenn die anderen Kinder aufs Tempo drücken, trete ich gleichfalls in die Pedale. Dann springt fast immer die Kette ab. Als ich das Fahrrad schiebend zurückkehre, erwartet mich der Sohn des Hauses am Zaun. „Wo bisse blierm?“ fragt er mich. Jetzt sei die Kette ganz kaputt, sage ich. „Schutt wie mool mit dien´n Foohder küren?“ fragt er und nimmt mir die Lesemappe ab. Einige Wochen später stehe ich auf und denke, dass dieser Tag wie alle anderen enden wird. Ich werde von meiner Tante mit den Worten begrüßt: „Kiek mool noo buuten.“ Ich gehe aus dem Haus. Ein neues Rad ist an der Wand gelehnt. Mein Vater hat Geld für ein Rad für mich angespart. Als er es gekauft hat, schwingt er sich in den Sattel und fährt Tag und Nacht, bis er bei uns angekommen ist. Danach schläft mein Vater wenige Stunden auf dem Hof. „Wo iss hei?“ frage ich. „Hie is weier wech mit´m Zuch“, sagt meine Tante. „He hett kein´n Urlaub mehr kriergen.“

 

 

Ich lese in der Lesemappe alles außer den Anzeigen und dem SPIEGEL. Der SPIEGEL ist mir zu kompliziert und zu langweilig. Mutmaßlich kann ihn keiner verstehen. Alle diese Vereinbarungen, die die Politiker in Hinterzimmern treffen und sie selbst nicht begreifen. Gleichwohl muss ich mich anstrengen, wenn ich in einer Woche mit den Texten in den Illustrierten durchkommen will.

 

 

Vor allem lese ich die Friseurzeitschriften. Meine Augen richten sich auf den iranischen Hof. Dieser entfaltet eine unermessliche orientalische Pracht. Nach einem Studium der heiligen Schriften der Almoraviden, Sassaniden und Amphetaminen spricht der oberste Berater zum Schah: Du wirst deinen Thron verlieren, wenn du mit deiner Gemahlin keinen Sohn zeugst. Der Schah hat verstanden und nimmt seine Gemahlin allnächtlich an die Kandare. Millionen Leser in Deutschland lugen durch die Vorhänge und drücken die Daumen. Ich schaue mich um, nachdem ich mich mit anderen Hocharistokratien wie dem britischen Königshaus befasste. Ich bin konsterniert. Habe ich bislang alles missverstanden? Geht es im Leben ganz anders zu als die Leute mir vorspielen? Kommt es letzten Endes nur auf die Liebe an, vorzugsweise auf die Liebe zwischen Mann und Frau? Oder gilt solches nur für die Hocharistokraten?

 

 

Ich sehe mir meinen Onkel und meine Tante an. Sie sind einander von Herzen zugetan. Andererseits machen sie daraus kein großes Geschrei. Vielleicht sollten sie ins Kino gehen und lernen, wie man sich als Partner fürs Leben zu verhalten hat, das rechte Auge schmachtend auf den ewigen Partner gerichtet, das linke Auge zu Kandi datInnen schweifend, die momentan frei sind für Liebelei.

 

 

9.

 

Wir verfügen jetzt über zwei Klassenräume, einen für die Schuljahre eins bis vier, den anderen für die Schuljahre fünf bis acht.

 

 

Zusätzlich wird eine Lehrerin eingestellt. Von Monat zu Monat trägt sie mehr Brillen, bis sie gar nichts mehr sehen kann. Da es dauert, bis wir ihr einen Herd in ihre möblierte Wohnung stellen können, wird ihr jeden Mittag ein warmes Essen auf einem anderen Hof gereicht. Wir begleiten sie auf unserem Nachhauseweg und zeigen ihr, auf welchem Hof ein Teller für sie hingestellt wird.

 

 

Sparsam wie unsere Bauern sind, gibt es für die Lehrerin fast immer nur Köcksel. Auf den Höfen wird „Buuer, dau diene Mettwoss wech, die Leersche kummt“ zum geflügelten Wort.

 

 

Die Behörden haben die Prügelstrafe in Schulen aufgehoben. Bis sich ein solches Verbot in den Schulen durchgesetzt hat, mögen Generationen vergehen. Die Bauern stecken ihre Köpfe zusammen, um sie zu schütteln. Hier und da ein Klaps, wenn einer was ausgefressen hat, was sollte das schaden? Wie kann die Schule ihrer Aufgabe gerecht werden, wenn nicht nur der Lehrer, sondern alle über Tische und Bänke gehen? Ähnliches gilt für die Familien. Sind wir nicht zu ordentlichen Menschen gereift, weil man uns gelegentlich über den Tisch gelegt hat? Wie soll man anders lernen und begreifen, wo es in unserer Welt langgeht?

 

 

Unser Lehrer schätzt meinen Onkel wegen der Bienenzucht. Mein Onkel, meine Tante und der Lehrer sitzen im Wohnzimmer. „Schloo man drupp“, fasst meine Tante die Ergebnisse ihres Gespräches zum Verbot der Prügelstrafe zusammen. „Drupp, man drupp.“ Mein Onkel nickt und zieht an seiner Pfeife. Der Lehrer lächelt milde, als sei er der Pastor. Ich spiele auf dem Fußboden. Abermals ruhen die Augen meiner Leute auf mir. „Dorr büsse uk för, dat man en Kind hauen mott, wenn et watt utfriäten hätt?“ fragt meine Tante. „Nee, datt glöwe ick nich, datt datt richtig iss“, sage ich und füge hinzu, bevor ich nach draußen laufe: „Schloot wie vielichte dee Groten?“ Warum biedern sich meine Tante und mein Onkel beim Lehrer an, frage ich mich, obgleich sie mich nie schlagen? Warum reden sie so und handeln ganz anders? Der Lehrer hat aus seinem Kriegsdienst einen Splitter im Kopf mitgebracht. Sobald dieser im Kopf zu wandern beginnt, springt er mit dem Zeigestock über Tische und Bänke und schlägt auf unsere Köpfe. Mit den Jahren sind die Anfälle des Lehrers schlimmer geworden. Die Bauern grinsen verlegen, wenn sich eine Andeutung dazu in ihre Gespräche schleicht.

 

 

Der Lehrer meint, dass wir eine Gemeinschaft sind, in der jeder die Sünden des anderen trägt. Deshalb redet er uns mit „Ihr“ an, wenn ein einziger Schüler laut geworden ist und die anderen, griffe er nicht vorbeugend ein, anstecken würde. Somit kann er alle für alles bestrafen. Wir haben die Hände verkehrt herum auf das Pult zu legen. Der Lehrer geht durch die Reihen und schlägt mit dem Lineal auf unsere Hände. Anschließend legen wir unsere Hände über das Tintenfass. Dadurch quellen geschlagene Hände besser auf, glauben wir. Wir hoffen, dass unser Lehrer, wenn er sie sieht, ein schlechtes Gewissen bekommt und sich die Eltern unseres Elends erbarmen. „O, o, hätt die de Lehrer hauen?“ fragt mich die Tante und tätschelt meine Hände, als ich nach Hause gekommen bin. „Watt hässe denn utfriäten?“ „Das weiß keiner, warum wir geschlagen werden und der Lehrer schon gar nicht“, sage ich.

 

 

Gelegentlich geht unser Lehrer zu individuellen Veantwortlichkeiten über. Damit werden Strafen für einzelne Schüler möglich gemacht. Wir stehen auf und müssen Kopfrechnen üben. Wer als erster die richtige Antwort weiß, darf sich setzen. Jeder von uns strengt sich an, die Aufgabe „16 mal 19“ schneller als seine Mitschüler zu lösen, weil er seine Ruhe bekommt, sobald er einmal gewonnen hat. Ich lasse meinen Arm nach oben schnellen, während ich mitten im Rechenprozess bin. Als ich gleich drangenommen werde, verhaspele ich mich. „Na, na?“ fragt der Lehrer und greift zum Lineal. „204“, sage ich und habe mich noch einmal gerettet, weil der Lehrer seine eigene Aufgabe nicht nachgerechnet hat.

 

 

Wenn die schriftlichen Schularbeiten erteilt worden sind, gibt uns der Lehrer zusätzliche Aufträge für das mündliche Lernen. Wir sollen ein Gedicht bis zum nächsten Tag auswendig können. Oder wir haben einen Prosatext so vorzulesen, dass es ohne Gestottere geht. Wer sein Gedicht am nächsten Morgen nicht auswendig gelernt hat, wird über die Bank gelegt und mit dem Zeigestock für die Wandtafel bearbeitet. In jedem unserer Schuljahre befindet sich mindestens ein Analphabet. Er kann und kann das Lesen nicht lernen. Oder er will nicht. Oder er lernt das Lesen nur an unserer Schule oder nur bei diesem Lehrer nicht. Einmal im Halbjahr nimmt der Lehrer die Analphabeten zum Vorlesen dran, damit er eine Zensur für das nächste Zeugnis be kommt. Wir brüllen dem Analphabeten die richtigen Sätze zu, damit er einmal in seiner Schulzeit eine Vier erhält.

 

 

Die Analphabeten sind für unseren Lehrer sehr wichtig. Wenn sich kein Kandidat aufdrängt, den er über die Bank legen sollte, stellt er einen unserer Analphabeten eine beliebige Frage. Da kann er sicher sein, dass er nicht die richtige Antwort bekommt.

 

 

Der Sohn unseres Bürgermeisters ist schmächtig und trägt flachsblondes beinahe rötliches Haar. Am Anfang hat er vielleicht nur vergessen, das Gedicht „Die linden Lüfte sind erwacht“ von Ludwig Uhland auswendig zu lernen. Aber später weigert er sich, das Gedicht zu lernen und wiederzugeben. Wenn unser Lehrer am Morgen spielerisch seinen Zeigestock biegt und „Arnold, die linden Lüfte“ ruft und Arnold wie jeden Morgen nach vorn geht, wissen wir, was die Stunde geschlagen hat. Wir rufen im Chor, während Arnold über der Bank liegt und der Lehrer mit schwebendem Zeigestock über ihm thront:

 

„Arnold, die linden Lüfte sind erwacht, sie säuseln und weben Tag und Nacht, sie schaffen an allen Enden.

 

O milder Duft, o holder Klang, mein armes Herze wird so bang, wie soll das alles, alles enden?“

 

Ich stromere während des Reiterfestes durch das Festzelt. Das be rühm teste Pferd der Gemeinde ist ein Schimmel. Es hat noch einmal das Springen gewonnen, obgleich man merkt, dass er älter geworden ist. An der Theke finde ich unseren Lehrer im vertrauten Gespräch mit dem Bürgermeister. Sie lachen und scherzen. Von dem misshandelten Jungen des Bürgermeisters reden sie nicht. Weiß der Bürgermeister nicht, was seinem Jungen täglich angetan wird? Oder ist es ihm gleichgültig und er denkt: „Schloo man drupp“? Ich bleibe meistens von den Prügeleien meines Lehrers verschont. Ich weiß meine Gedichte vorzutragen und bin im Vorlesen einer der besten. Meine privilegierte Stellung könnte damit zu tun haben, dass der Lehrer mit meinem Onkel über die Bienenzucht spricht. Nicht, dass es von dieser Regel keine Ausnahme gäbe. Der Lehrer schlägt mich, ich weiß nicht warum, sein Lineal ins Gesicht. Ich springe hoch und zittere vor Wut. Es fehlt wenig, und ich hätte zurückgeschlagen. Der Lehrer bohrt sein Gesicht in das meine. Er schreit: „Ja, schlage mich nur! Wage es, mich zu schlagen!“

 

 

Die Schule macht an Erntetagen dicht. Das bedarf keiner Frage. Aber auch dann, wenn die Erntezeit vorüber ist, zeigt der Lehrer Ver ständnis. Es muss nur ein Kind aufstehen, nach vorne gehen und sagen: „Ick mott vondaage helpen.“ Schon sagt der Lehrer: „Nun geh schon, Junge.“ Ein Junge nach dem anderen geht nach vorn und sagt: „Mien Foohder hätt secht, ich schutt vondaage helpen.“ Irgendwann schließen sich die Mädchen an. Der Lehrer schickt einen Schüler nach dem anderen mit einer Handbewegung aus dem Klassenzimmer.

 

 

Der Lehrer und ich sind im Klassenraum zurückgeblieben. Ich fühle mich unter Druck gesetzt. Ich gehe nach vorn und sage: „Mien Onkel hätt secht, ich schutt vondaage helpen.“ Der Lehrer schaut mich an und gönnt sich eine Pause. Dann sagt er: „Dieter du wutt doch bloss diene Beuker läsen.“ Dennoch lässt er mich ziehen, weil er selber Feierabend haben will.

 

 

Mein Onkel ist neuerdings Mitglied im Gemeinderat. Er wollte nicht und ließ sich doch breitschlagen. „Aber in eine Partei gehe ich nicht“, sagt er. Der Gemeinderat wird von Mitgliedern der Deutschen Partei be herrscht. Wir stünden der Deutschen Partei freundlicher gegenüber, wenn sie keine Partei wäre. „Wir sind Deutsche“, sagt meine Tante. „Deswegen wählen wir die Deutsche Partei.“ Die Mitglieder der Deutschen Partei sehen sich als Hannoveraner. Deswegen grämen sie sich über die militärische Niederlage des Königreiches Hannover im Jahre 1866 gegen die preußische Armee. Von diesem Merkmal abgesehen unterscheidet sich die Deutsche Partei nicht von anderen Parteien, soweit sie in Grotebühl Stimmen bekommen.

 

 

Meine Tante hat sich zu mir ans Bett gesetzt. Dem Gemeinderat sei einiges zu Ohren gekommen, sagt sie. Sie geht behutsam vor. Sie weiß, wenn sie hundertmal mit mir ein Thema durchhechelt, werde ich ungeduldig und am Ende wütend sein. Ja, bestätige ich, wir haben in der Schule über Bienenzucht geredet. Und, und, fragt mein Onkel. Er hat sich mittlerweile zu uns gesellt und hebt sich dunkel vor der Wand ab. Wir haben durchgenommen, wie sich die Bienen und Blumen vermehren, sage ich. Und, und, fragen meine Tante und mein Onkel. Am Ende der Stunde hat der Lehrer gesagt, bei den Menschen ginge es genauso zu, sage ich. Mein Onkel und meine Tante nicken einander zu. Sie verlassen das Schlafzimmer.

 

 

Bald wird unser Lehrer zur Strafe gute hundert Kilometer weg ins Weserbergland versetzt. Unser Gemeinderat wurde bei den Kultusbe hörden vorstellig. Wir wollen keinen Schwienkroom im Unterricht. Es dauert zwei Jahre, bis wir Neues von unserem früheren Lehrer erfahren. Er hat eine seiner Schülerinnen vergewaltigt. Oder er hatte ein Verhältnis mit ihr. Anschließend hat er sich aufgehängt, nicht wegen seiner Untaten, sondern weil sie entdeckt wurden. Die Bauern nicken einander auf dem Marktplatz von Grotebühl zu. „Über den Kerl wussten wir Bescheid, als er unseren Kindern das mit den Immen erzählte“, sagt einer zum anderen. Sie reden beinahe in hochdeutscher Sprache, weil es um Leben und Tod und sogar um Schwienkroom gegangen ist.

 

 

10.

 

Ich laufe den Hauptpfad im Busk entlang, bis ich vor dem Hof der Brottmanns herauskomme. Die Flüchtlingsfrau, die dort seit dem Kriegsende einquartiert ist, hat sich auf einen Schaukelstuhl vor ihren Räumen gesetzt. Sie macht sich an heißeren Tagen so frei, dass wir Landpomeranzen immerfort hinschauen müssen. So macht sie sich und anderen Flüchtlingsfrauen vor, dass die norddeutsche Knüste eine Sommerfrische sei.

 

 

Während sie schaukelt und in den Wald hineinschaut, hat sie mich entdeckt. Sie winkt mir, ich möge herüberkommen. Sie ist bar jeder Zurückhaltung. Ich beäuge sie von weitem. Einmal hat sie mir ein Butterbrot aufgezwungen, das ich nach dem Motto „Watt de Buur nicht kennt, datt friätt hei nich“ weder wollte noch mochte. In der Erinnerung daran möchte ich es wieder herauswürgen.

 

 

Andererseits ist sie die Hüterin von Schätzen. Der Hof wird vom alten Brottmann und seinen zwei Söhnen bewirtschaftet. Seine Frau ist seit einigen Jahren tot. Die Flüchtlingsfrau kam mit einem kleinen Jungen, aber ohne Mann auf den Hof. Was immer aus ihm geworden sein mag, keiner will es mir erzählen. Was soll das werden außer dem, was es wird?

 

 

Eines Abends kehrt der alte Brottmann mit einer Flasche Schnaps in die Gemächer der Flüchtlingsfrau ein. Neun Monate später entbindet die Flüchtlingsfrau einen weiteren Jungen. Ich warte darauf, dass die Kinder der Flüchtlingsfrau groß genug sind, um mit ihnen spielen zu können. Ich bin es leid, auf dem Brauk immerzu der Kleinste zu sein. Als die Flüchtlingsmädchen auf den anderen Höfen heranwachsen, erweisen sie sich als nicht minder begehrenswert als die einheimischen Mädchen. Von ihnen ist Anja Rottmann die erste, die einen Hoferben abbekommt. Ihre bevorstehende Eheschließung ist für mehrere Wochen das Tagesgespräch in den Gemeinden am Großen Moor. Die Bäuerinnen gehen mit wissendem Lächeln durch das Zentrum des Ortes. Damit sagen sie: Gegenwärtig gehe ich nicht über Andeutungen hinaus. Aber was immer bei dieser Ehe herauskommen mag, ich werde es vorher gewusst haben.

 

 

Gerade weil Anja Rottmann die erste ist, die einen einheimischen Jungen mit vielen Feldern freit, möchte sie alles richtigmachen. So arbeitet sie sich in wenigen Jahrzehnten tot. Als sie zu den anderen Verstorbenen ihrer neuen Familie ins Grab gelegt wird, nicken die Bauern in den Gemeinden am Großen Moor einander zu. Sie sagen: „Arbeiten kutt se joo.“ So viel Anerkennung darf im Nachhinein auch für Flüchtlinge sein.

 

Ich habe mich entschlossen, der Flüchtlingsfrau auf dem Brottmann`schen Hof entgegen zu gehen. „Wie geht es dir, Dieter?“ ruft sie mir zu. „Ganz gaut“, antworte ich. „Ob du mir einen Gefallen tust?“ fragt die Flüchtlingsfrau. „Dat glöwe ick doch“, sage ich. „Kannst du dieses Heft deiner Tante bringen?“ fragt sie. „Datt dau ick“, antworte ich. Ich halte einen weiteren Lore­Roman in meinen Händen. Die Flüchtlingsfrau hat seit einiger Zeit einen schwungvollen Tauschhandel mit Lore­Romanen zwischen den Höfen im Brauk in die Gänge gebracht. Bald weitet sich der Handel bis zum Dorfzentrum aus.

 

 

Solches darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Lesen von Lore­Romanen auf den Höfen am Großen Moor mit scheelen Augen gesehen wird. Ich erwische meine Tante, als sie am Tisch in der Futterküche sitzt und eine Seite nach der anderen in einem LoreRo man umblättert. Als sie mich entdeckt, bekommt sie einen hochroten Kopf und legt das Heft an die Seite. Sie tut das, was sie sollte, und bereitet das Futter für die Schweine vor. „Du musst dich nicht genieren“, sage ich. „Es gibt etwas anderes im Leben als arbeiten.“ Dazu sagt sie nichts.

 

 

Der Sohn des Hauses liest nicht mehr „Die Harke“ auf dem Donnerbalken. Er liest Lore­-Romane. Wenn er mit seinen Aktivitäten auf dem Plumpsklo zu Rande gekommen ist, muss er das Heft irgendwo loswerden. Ich trotte hinter ihm drein und achte darauf, wo er es ablegt. Aber kaum habe ich mich mit meiner Lektüre in der Futterküche niedergelassen, da hat mir meine Tante das Heft weggenommen. Ich erobere mir den Lore­Roman zurück und gehe mit ihm in den Garten. Gerade habe ich zwei drei Seiten über wogende Dekolletees am französischen Hof Ludwigs XV. gelesen, da kommt meine Tante und nimmt mir das Heft wieder weg. Ich nehme den Lore­Roman mit ins Bett und lese mit eingeschalteter Taschenlampe unter der Bettdecke. „Junge, Junge, bolle kannsse bloos mitte Brillen kieken“, sagt meine Tante und nimmt mir das Heft weg. Ich sitze auf dem Heuboden und werde gerufen. Da können sie lange warten. Oder ich habe mich im Kornfeld versteckt. Der Sohn des Hauses schickt den Hund nach mir aus. Er will auf den Donnerbalken und den Lore­Roman lesen. Der Hund schnüffelt kurz. Dann hat er mich gefunden. Er reibt sein schwarzes Fell gegen mich. Der Sohn des Hauses pfeift seinen Hund. Mein Hund macht sich widerwillig auf den Weg zurück. „Wo iss de Dieter?“ fragt der Sohn. „Vertell mie datt.“ Der Hund schaut den Sohn des Hauses verständnislos an. So ein dummer Hund.

 

 

Meine Tante wird besser im Verstecken von Romanen. Ich werde besser im Finden. Soweit traut man mir, dass ich weiter als Träger von Lore­Romanen zwischen unseren Leuten und der Flüchtlingsfrau auf dem Brottmann`schen Hof verwendet werde. Für mich liegt es nahe, mit einem neuen Lore­Roman in den Busk zu gehen. Dort kann mich keiner aufspüren, so dass ich in Ruhe lesen kann. Meine Tante und der Sohn des Hauses fragen mich: „Hesse kein Heft for uus?“ Die Flüchtlingsfrau fragt mich: „Hast du kein Heft für mich?“ „Ne, hewwe ick nich“, antworte ich. Ich weiß, bald werde ich erwischt und womöglich bestraft. Aber bis dahin habe ich mehrere Lore­Romane gelesen.

 

 

Ich finde drei Gründe heraus, warum das Lesen von Lore­Romanen auf den Höfen am Großen Moor kritisch gesehen wird. In der „Harke“ und den Illustrierten wird die Welt beschrieben, wie sie wirklich ist. Romane spielen in erfundenen Welten. Das kommt den Leuten unheimlich vor. Ihnen fällt auch bei längerem Nachdenken kein Grund dafür ein, wozu man etwas braucht, was sich ein Spinner ausgedacht hat. Zweitens geht es in den Lore­Romanen immer um Sex. Wer heute einen Lore­Roman durchblättert, belustigte sich über seine Harmlosigkeit. Das ist alles kodiert und ergeht sich in Andeutungen. Aber für die Leute von Grotebühl war alles sehr explizit. Sobald es um Schwienkroom wie diesen geht, sind kleine Kinder wie ich zu beschützen und haben Erwachsene Besseres zu tun als sowas zu lesen.

 

 

Drittens werden Lore­Romane heftig abgelehnt, weil die Bürger von Grotebühl die Versuchung spüren. Wir wollen diesen Schweinkram nicht in unserem Haus haben. Hätten wir ihn aber, was wäre das schön!

 

Chefarzt Dr. Holt hat sich auf Frauenleiden spezialisiert. Er kuriert seine Patientinnen, indem er ihnen in die Augen sieht und sagt, dass alles gut werde. Maria ist Krankenschwester oder Sekretärin oder Stewardess. Sie lernt Chefarzt Dr. Holt kennen und lieben. Still trägt sie ihr großes Geheimnis vor sich her. Chefarzt Dr. Holt lernt Maria gleichfalls kennen und lieben. Es wäre nicht passend, hätte er sie bereits jetzt untersucht. Wir befinden uns im Lore­Roman auf Seite 17. Das ist zu früh für ein glückliches Ende. Maria muss angesichts ihres großen Herzens eine Blondine sein. Jetzt kommt eine bösartige Schwarzhaarige, nennen wir sie Franziska, ins Spiel. Diese müht sich, Chefarzt Dr. Holt zu verführen. Nach Irrungen und Wirrungen, die mich an dem Verstand aller Protagonisten zweifeln lassen, segeln Chefarzt Dr. Holt und Maria in den Ehehafen.

 

 

Während die Lore­Romane die Phase der Partnerschaftsfindung bis zur Eheschließung behandeln, kümmern sich die Lesemappen um die Jahrzehnte danach. Diesen entnehme ich, dass das Hin und Her zwischen den Geschlechtern nie ein Ende findet. Warum machen die Lore­Romane einen derart künstlichen Schnitt?

 

Denkbar wäre ein schlimmeres Verbrechen als Bücher zu lesen. Dieses bestünde darin, Bücher zu schreiben. Zum Glück kommen diese Untaten in Grotebühl und Umgebung nicht vor.

 

 

Erwachsene dürfen allenfalls Formulare ausfüllen. Das Schreiben von Briefen an entfernt lebende Verwandte ist gleichfalls erlaubt. Allerdings hat dies in der folgenden Standardform vonstatten zu gehen:

 

„Lieber Heinrich!

 

Wie geht es Euch? Uns geht es gut.

 

Herzliche Grüße

 

Euer Friedrich­Wilhelm.“

 

 

Von dieser Form darf in größerer Not abgewichen werden. Auch darf man jederzeit darauf verzichten, weitere Briefe zu schreiben. Das darf keinem Menschen übelgenommen werden, wenn er sich mit letztlich unnützen Praktiken nicht aufhalten will.

 

 

Als kleines Kind genieße ich Narrenfreiheit. Die Halbwüchsigen umringen mich und sagen: „Vertell uus eene Geschichten von´en Hexen im Busk.“ Ich weiß, sie wollen sich über mich lustig machen. Andererseits kann ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich erzähle ihnen eine Geschichte von den Hexen im Busk.

 

 „Mie hätt de Geschichte better gefoolen, wenn dien Hund de Hexen friäten hätt“, sagt Brottmanns Ältester. „Shutt mien Hund die friäten?“ frage ich. Dem sträuben sich bereits die Haare. „Bisse verrückt?“ fragt Brottmanns Ältester und macht sich vom Acker.

 

 

Ich stehe auf dem Schulhof, nachdem ich Dutzende von Gedichten auswendig gelernt habe. Dann lasse ich die Reime zu mir kommen. Ich teile sie meinen Mitschülern mit. Als die Große Pause zu Ende gegangen ist, laufen die Kinder zum Lehrer und sagen: „Der Dieter hat sich ein Gedicht ausgedacht.“ Der Lehrer sagt: „Komm nach vorn, Dieter, und sag dein Gedicht auf.“ Ich gehe nach vorn und sage: „Das Gedicht trägt den Titel „Humoristische Seenot“.“ Ich trage es vor. Mir ist ein Fragment aus der zweiten Strophe in Erinnerung geblieben: „Und alle denken: Jetzt ist es gleich aus. Da hört man plötzlich Schritte. Es ist eine Maus.“ Der Lehrer sagt: „Setz dich hin, Dieter.“ Er biegt seinen Zeigestock und sagt: „Die linden Lüfte, Arnold.“ Wir wissen, was die Stunde für den Sohn des Bürgermeisters wie fast an jedem Morgen geschlagen hat. Unsere Lehrerin steht vor ihrer entscheidenden Prüfung. Wir erfahren erst jetzt, dass sie einmal durchgefallen ist. Sollte ihr solches ein zweites Mal widerfahren, wird sie keine Beamtin auf Lebenszeit. Sie würde aus dem Schuldienst ausscheiden müssen. Zur Prüfungsstunde sind zwei Schulräte erschienen. Sie setzen sich mit ernsten Gesichtern hinter uns in eine Bank. Unsere Lehrerin sagt ein paar Worte und gibt das Wort an mich weiter. Kaum habe ich begonnen, gerate ich in eine andere Geschichte als die, die ich mit meiner Lehrerin vorbereitet habe. Mal schauen, wie diese zu Ende geht. Immerhin lasse ich die Hexen aus dem Busk außen vor. Die sind, glaube ich, für Schulräte weniger geeignet. Die Beamten glauben nicht an Hexerei, nur an Politik.

 

 

Wenn man sich auf unseren Pattweg jenseits des Zaunes begeht und von dort aus nach rechts wendet, kommt man an unseren Augustapfel baum. Die Augustäpfel heißen so, weil sie spätestens im August reif werden. Manche von ihnen werden bereits im Juli reif. Dann fallen sie vielleicht vom Baum. Einen Apfel, der vom Baum gefallen ist, darf ich essen. Jeden Nachmittag gehe ich zum Augustapfelbaum und schaue nach, ob ein Augustapfel heruntergefallen ist. Ich nehme den heruntergefallenen Apfel und setze mich mit ihm vor den Zaun. Aus der Futterküche habe ich ein Messer mitgebracht. Damit schneide ich möglichst dünne Scheiben, damit das Essen des Apfels länger währt. Bevor ich eine Apfelscheibe esse, schnitze ich mit dem Messer ein Bild in den Apfel, beispielsweise eine Rekonstruktion des Chinesischen Reiches. Oder Mond und Sterne stehen über dem Kirchspiel Grotebühl. Wenn ich mit dem Bild fertig bin, esse ich eine weitere Scheibe und gehe zum nächsten Bild über.

 

 

Meine Leute arbeiten entfernt auf den Feldern. Ich mache meinen Spa ziergang zum Augustapfelbaum. Diesmal ist kein Apfel vom Baum gefallen. Ich gehe noch einmal am Baum vorbei und rempele ihn versehentlich an. Nichts tut sich. Zuletzt verliere ich die Geduld und renne frontal gegen den Baum an. Zwei Äpfel lösen sich von den Zweigen und fallen auf die Erde. Ich nehme sie und setze mich vor den Zaun.

 

Als ich beim zweiten Augustapfel angekommen bin, kehren meine Leute von den Feldern zurück. Während ich sie näherkommen sehe, schneide ich dickere Scheiben von meinem Apfel. Mein Onkel ruft mich. Das hätte ich mir denken können. Er hat die schärfsten Augen der Welt. Er stellt mich zur Rede, indem er mich fragt: „Watt hesse mit´n Appels doon?“ „De Hund hätt se friäten“, antworte ich. Mein Onkel möchte mich fragen, ob ich eine noch dümmere Ausrede parat halte. Da schiebt sich mein Hund neben mich. Er räuspert sich. Dann sagt er aus tiefer Kehle: „Ick häwe die Appels friäten.“ Meine Leute beginnen zu lachen. Wenn sie gut gelaunt sind, verstehen sogar sie, was der Hund ihnen sagt. Wir sind eine große Familie.

 

 

Die beiden Schulräte hinter der Bank lachen auch. Ich habe sie gut unterhalten. Das ist mehr als die halbe Miete. Die Schulräte schicken die Kinder zum Spielen hinaus. „Sie müssen gleichfalls draußen warten, Fräulein Berenbrock“, sagt ein Schulrat. Allerdings soll ich im Klassenraum bleiben. Der eine Schulrat fragt mich, ob ich meine Geschichte von Fräulein Berenbrock habe. Nein, antworte ich, das sei meine Geschichte. „Und“, fragt der andere Schulrat, „hat sich alles so abgespielt, wie du uns erzählt hast?“ „So etwas dürfen Sie einen Autor nicht fragen“, antworte ich.

 

Ich darf auf den Pausenhof gehen und spielen. Unsere Lehrerin wird Beamtin auf Lebenszeit. Das ist gut für sie, aber schlecht für uns Kinder.