In den 70er und 80er Jahren wird die Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ungemein wichtig. Zuvor hatten wir alles zu den Akten gelegt. Wir schwiegen eisern. Jetzt sind wir wie besessen, so bald es um unsere Schuld und Schande geht.
Warum widerfährt uns dies? Die Parteien, die sich im Bundestag in der Opposition befinden, haben das Gedenken an den Holocaust zur schärfsten Waffe im innenpolitischen Streit geschmiedet. Die Leute, die sich mit den Nazis eingelassen haben, sterben allmählich aus. So wird die Front jener, denen an unserer informellen Verschwörung des Schweigens gelegen sein muss, schwächer.
Menschen, die in diesen Jahrzehnten heranwachsen, können sich nicht vorstellen, dass die Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik Deutschland keine Rolle gespielt hat. Ich bin im Zweiten Weltkrieg geboren. Demnach müsste ich Bescheid wissen. Aber während ich älter werde, höre ich nichts über die Nazis und schon gar nichts über Juden. Kaum weiß ich, dass es beide Gruppen gegeben hat. Und was ist erst mit denen, die keine Zeitung lesen?
Mit den Jahren merke ich, dass eine öffentliche Debatte um Nazis und Juden heranreift. Diese Entwicklung wird von einem Medium getrieben. Das wird mir ab der Ausgabe 31 des Jahrgangs 1957 des Nachrichtenmagazins SPIEGEL klar, die ich als erste von vorne bis hinten lese. Auf dem Titel befindet sich der französische Ministerpräsident Felix HouphouetBoigny. Sie müssen sich diesen Namen nicht merken. In der Vierten Französischen Republik werden die Ministerpräsidenten alle drei Stunden abgelöst.
In Grotebühl merken wir nicht, dass wir vom britischen Militär re giert werden. Folglich meinen wir, wir könnten weitermachen wie bisher. Da täuschen wir uns über den nachhaltigen Einfluss, den die Briten und die Amerikaner auf uns ausüben. Auf den Straßen des Königreiches Hannover wandert ein Landser. Jens Daniel sucht einen britischen Besatzungsoffizier auf. Er hat sich das amerikanische Nachrichtenmagazin TIME angesehen und will es kopieren. Der britische Militäroffizier lässt sich überzeugen und sagt: „Dann machen Sie mal.“ Der Gründer des SPIEGEL hat das Nachrichtenmagazin TIME missverstanden. In den Vereinigten Staaten liest kaum jemand eine Zeitung. TIME liefert den Amerikanern einen ReadersDigestÜberblick über die aktuellen Entwicklungen zu Hause und in der Welt. Letzteres ist nötig geworden, weil die Amerikaner den Kalten Krieg gewinnen wollen und sich für sie fast überall auf der Welt eine Front aufgetan hat. Jede Story ist superkurz, fast jede mit einer Prise Patriotismus gewürzt. Wenn man TIME über viele Jahre liest, wird man zwangsläufig ein Anhänger des „amerikanischen Traums“. Den definiere ich so: Alles ist machbar, wenn man einen Traum hat und sich immer wieder anstrengt, ihn umzusetzen. Jahrzehnte später frage ich mich, ob ich Amerikaner geworden oder Deutscher geblieben bin. Zur Jahrtausendwende bin ich ein PidginAmerikaner mit einem 40jährigen Abonnement von TIME.
Wenn Jens Daniel einen Kommentar für den SPIEGEL zu schreiben beginnt, hört er nicht auf. Kommt er dennoch ans Ende, ist er sein einziger Leser geblieben. Nein, ich werde sein zweiter. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ein dritter seine Serien liest. Ich schaue mir ein Bild von Jens Daniel an. Er ist ein schmächtiges Kerlchen. Wenn sein veröffentlichtes Wort wie ein gewaltiger Blitz herniederfährt, könnte man meinen, dass er Kompensationen benötigt. Jens Daniel weist nach, dass eine unabhängige, faktengesättigte und oppositionelle Berichterstattung in der jungen Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist, indem er sie macht.
An der mangelnden Faktenorientierung und dem fehlenden intellektuellen Niveau aller Parteien mag die Weimarer Republik zu grunde gegangen sein. Mein Vater sieht einen in der ersten Nach kriegszeit führenden Gewerkschaftssekretär auf seiner Zeche sehr kritisch. Angeblich zog dieser in den 20er Jahren an jedem Freitag die SAUniform an. Am Samstag trug er die Uniform der Kommunis tischen Partei Deutschlands. Einmal prügelte er sich mit der einen Seite, dann mit der anderen. Eine Wirklichkeit wie diese konnte in der Presselandschaft der Weimarer Republik nicht dargestellt werden. Noch wäre möglich gewesen, dass eine sozialdemokratische Zeitung einen Funktionär der Kommunistischen Partei Deutschlands interviewte. Schon gar nicht umgekehrt. Stattdessen schlugen sich die bei den Parteien angestellten Schreiberlinge nur für Insider verständliche Leitartikel um die Ohren und fragten sich nicht, wie die Welt unabhängig von ihren vorgefassten Glaubenssätzen war.
In den 50er Jahren bin ich begeisterter Zeitungsleser geblieben. Im Vergleich zur „Harke“ haben die Zeitungen im Ruhrgebiet das bessere Layout. Aber nach wie vor befinden wir uns im Zeitalter der Weltanschauungszeitungen, so dass keine politische Seite mit der anderen spricht. Schreiber und Leser haben sich in voneinander abgeschotteten Lagern verbarrikadiert. Die Leser mögen auf der siebenten Sohle zusammenarbeiten, aber in politischen Gesprächen reden sie nur zu den eigenen Leuten und ziehen über die gegnerische Seite her, die sie „Klassenfeind“ und „Arbeiterverräter“ nennen.
Die Briten würden meinen Vater einen „Conservative Worker“ nennen. Er kann nicht anders, weil er seine Kindheit in Grotebühl verbracht hat. Nach wie vor erfüllt ihn das Geschrei der Betriebsräte mit Unbehagen. Warum arbeiten diese Leute nicht, statt jeden zu agitieren? „Sie wollen immer nur mehr“, sagt mein Vater. „Sie wissen nicht, dass erst erarbeitet werden muss, was später verteilt wird.“ Habe ich diese Sentenz nicht vor wenigen Tagen in den Ruhr Nachrichten gelesen? „Dadurch wird meine Meinung nicht falsch, wenn sie ein anderer teilt“, sagt mein Vater.
Glücklicherweise stellt sich in unserem Haushalt die Frage nicht, ob wir eine Zeitung abonnieren wollen. Mein Vater hat sich für die Ruhr Nachrichten entschieden. Das ist das Verlautbarungsorgan der Kat ho lischen Arbeiterbewegung. Diese bejubelt täglich die Bundes regierung, weil sie glaubt, dass es die Katholische Arbeiter bewegung ist, die den Bundeskanzler stellt. Die Ruhr Nachrichten haben die Kunstform der Karikatur aus der Welt der angelsächsischen Zeitungen übernommen und an die deutschen Verhältnisse angepasst.
In fast jeder Karikatur tritt Bundeskanzler Konrad Adenauer auf. Er ist hochgewachsen, agiert souverän und zeigt ein spitzbübisches Lächeln. Mit Adenauer kommt Oppositionsführer Erich Ollenhauer ins Bild. Er ist klein, rund, trägt Locken und hat eine krumme Nase. Viel später stellt sich mir die Frage, ob Ollenhauer als Jude dargestellt worden ist. Je nach Anlass tritt Adenauer Ollenhauer in den Hintern. Oder er nimmt ihn in den Schwitzkasten. Oder er sperrt ihn in eine Kiste. Das finden die Leser der Ruhr Nachrichten lustig. Das kommt davon, dass ich zu viel gelesen habe, wenn ich über diese Karikaturen nicht lachen kann.
Der Ückendorfer Anzeiger ist leider nicht besser. Hier werden die Verlautbarungen der Oppositionspartei abgedruckt, wie sie die Ba racke des Parteivorstandes der SPD in Bonn herausgibt. Keiner der Geisters chreiber in der Baracke war jemals im Ruhrgebiet. Da kann es nicht ausbleiben, dass sich kein Kommentar mit den besonderen Verhältnissen im Revier befasst. Das ist auch nicht nötig, solange wichtigere Aufgaben wie die Erhaltung des Weltfriedens und der Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik publizistisch zu bewältigen sind.
1952 lernen die Bilder das Laufen, auch wenn sich keiner ein Fernsehgerät leisten kann. Noch 1958 erleben die meisten Fans die Fuß ballweltmeisterschaft in Schweden vor einem Fernseher in einer Kneipe. Meine Stiefmutter bedrängt meinen Vater, einen Fern seh apparat zu kaufen. Sie verzichtet dafür auf die Hälfte des Haush altsgeldes. Als der Fernseher gekauft ist, wird das Haus halts geld auf ihr Betreiben hin auf den Stand von früher gesetzt. Die Berichterstattung des Fernsehens schwankt zwischen der Hof berichterstattung der Tagesschau und dem Geschwätz des Inter na tio nalen Frühschoppens mit fünf Journalisten aus sechs Ländern. Wenn seine Gäste dazu übergehen wollen, über Inhalte zu sprechen, fährt Werner Höfer mit den Worten dazwischen: „Glauben Sie auch, dass die Deutschen geliebt werden möchten?“ Im Gegensatz dazu bereiten sich die Redakteure des SPIEGEL auf ihre Gespräche mit Interviewpartnern intellektuell vor. Sie zerzausen die Argumente ihres Gesprächspartners, bis nichts von ihnen übriggeblieben ist. Am Ende bittet der geschlagene und erschöpfte Gesprächspartner die Redakteure, von ihnen erschossen zu werden. Die SPIEGELRedakteure sagen stattdessen: „Herr Freiherr von Gummersbach, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.“ Im September 1957 steht die dritte Bundestagswahl an. Eine Woche zuvor kommt der SPIEGEL mit einer Titelgeschichte über Bundeskanzler Adenauer heraus. Sein Gesicht ähnelt einer Totenmaske. In der Geschichte dazu wird die Politik der Bundesregierung zu medizinischen Gutachten über die geistige Gesundheit des Kanzlers in Beziehung gesetzt. Es wird nahegelegt, dass der Bundeskanzler in den Stand der Demenz eingetreten ist. Offensichtlich ist ein Ausverkauf der Interessen Deutschlands an den Westen und die Verhinderung der Wiedervereinigung möglich geworden, weil der Kanzler geistig abgebaut hat. So frech müsste man sein dürfen und damit durchkommen, denke ich, während ich in meinem Leben immer wieder erlebe, dass jeder beleidigt ist, wenn ich etwas sage, und mich bestraft, sofern er es kann. 1957 gewinnen Konrad Adenauer und seine Partei die absolute Mehrheit im Bundestag. Das wird vor ihm und nach ihm kein anderer Kanzlerkandidat schaffen.
Mein Vater kommentiert aktuelle Entwicklungen des Öfteren mit einer Aussage, die er gleichfalls den Ruhr Nachrichten entnommen hat. Er sagt: „Uns ist es niemals so gut gegangen.“ Für ihn hat das Paradies des Konsums begonnen, seit er einen Kühlschrank im Schaufenster gesehen und sich gleich gefragt hat, ob er ihn sich anschaffen sollte. Ich lese über mehrere Jahrzehnte jede Zeile des SPIEGEL. Dabei merke ich sehr wohl, dass er eine Tendenzzeitschrift ist, der dem Zeitalter der Weltanschauungsmedien nur teilweise entwachsen ist und die Gegenargumente, die der „Botschaft“ einer SPIEGELGeschichte zuwiderlaufen, nein, nicht verschweigt, aber nur am Rande erwähnt. Es sind auch letztlich nicht die Frechheit noch die Arroganz noch die Besserwisserei des SPIEGEL, die mich süchtig machen. Es ist die Unterstellung des SPIEGEL, dass Politik auf dem Austausch von Argumenten beruhen möge und wir an dem Austausch dieser Argumente zu beteiligen sind. Recht hat nicht, wer die Macht hat. Vielmehr schlägt das bessere Argument das schlechtere, selbst wenn das bessere Argument von mir käme.
Ich beginne die Aufklärung zu lieben, bevor ich gehört habe, dass es sie gegeben hat. 1957 und die Jahre danach lerne ich lediglich einen ungebärdigen die eigene Schreibe zu sehr liebenden Sohn der Aufklä rung kennen. Weitere Jahrzehnte später beginne ich, die Lö cher in SPIEGELGeschichten zu sehen.
Mittlerweile hat der SPIEGEL viele Kinder gezeugt. Keine Publikation hat auf die deutsche Medienlandschaft stärker Einfluss genommen, die BildZeitung ausgenommen. Viele Journalisten schlugen früher die Hacken zusammen, sobald ein Würdenträger an ihnen vorbeiging, während das Gefolge des Würdenträgers ihn mit Weihrauch bestreute. Jetzt sind sie so frech wie der SPIEGEL geworden, aber sie wissen auch, dass keiner moniert, wenn sie auf eine intellektuelle Vorbereitung ihrer Geschichten verzichten. Nur mit einer für sie negativen Tendenz kommen die Leser schlecht klar.
Über Jahrzehnte fährt das Sturmgeschütz der Demokratie von Ausgabe zu Ausgabe die eine Kampagne. Die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg werden aufgerollt. Man kann diese Gräueltaten nicht ungeschehen machen. Aber man will den Tätern und jenen, die geschwiegen haben, sagen, was sie getan oder nicht verhindert haben. Ich wundere mich, wie so viele Monströsitäten in so wenigen Jahren vollbracht worden sind. Andererseits scheint alles mit Fakten und Bildern belegt.
Nach mehreren SPIEGELJahrgängen komme ich auf die Idee, dass diese Geschichten nicht nur eine leicht zu konsumierende Lektüre sind, sondern mich persönlich angehen könnten. Ich gehe zu meinem Vater und frage: „Hey, alter Herr, wie war das mit den Juden?“
2.
Ich habe mit meinem Vater nie über Themen wie dieses gesprochen. Jetzt habe ich ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Er überlegt. Dann sagt er: „Das ist nicht richtig, was sie mit den Juden gemacht haben. Aber die Juden haben selbst viel Schuld.“
Nachdem sich mein Vater auf einen Standpunkt festgelegt hat, kommt er davon nicht mehr herunter. Allenfalls mag er sich zusätzliche Argumente ausdenken, die seine Position stützen. Ich halte meinem Vater zugute, dass er kein SPIEGELLeser ist. Auch bin ich an Überlegungen jedweder Art interessiert, selbst wenn sie nazivergiftet sein sollten. Eine der Darlegungen meines Vaters ist mir in Erinnerung geblieben. In den Gemeinden am Großen Moor gab es nie eine Goldene Zeit für die Landwirtschaft. Wenn es bestmöglich lief, wurde das Leben Arbeit und Mühe. Spätestens mit 70 war man, wie die Psalmen schon sangen, kaputt. Wenn es weniger gut lief, waren die Höfe beim Juden verschuldet. Während die Sonne auf die Stoppeln brennt, arbeiten die Menschen auf den Feldern. Sie sind der Geldwirtschaft ausgeliefert, aber sie verstehen sie nicht. Aber sie fürchten, ihren Hof bald verlassen zu müssen. Von weitem schiebt sich der Jude im Kaftan an die Höfe. Während er an den Menschen auf den Feldern vorbeigeht, grüßt keiner den anderen. Der Jude geht in den Stall und bindet die beste Kuh los. Das ist für die Zinsen. Während sich der Jude mit der Kuh auf den Rückmarsch macht, kommt er abermals an den Menschen auf den Feldern vorbei. Sie schauen sich an und hassen einander.
„Ja und?“ frage ich. „War das mit der Kuh nicht in Ordnung? Dann hätten sich die Bauern eine doppelte Buchführung anschaffen müssen.“ Gerade bin ich dabei, in mein Zimmer zu schlendern. Da wartet ein neuer SPIEGEL auf mich. Zuvor kommt mir eine Idee. „Sag mal“, frage ich, „warst du ein Nazi?“ „Ich war nur ein Kandidat“, sagt mein Vater. „Sie haben mich nicht genommen.“ Das stand bislang nicht im SPIEGEL, dass es in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei einen ähnlichen Kandidatenstatus wie in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gegeben hat. Sollte es weitere strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen diesen Gemeinschaften geben, die man besser verschweigt?
Vielleicht, überlege ich, wollten die Nazis meinen Vater nicht haben, weil er meine Mutter nicht richtig behandelt hat. Als germanischer Schlagetot hätte er die Affäre souveräner handhaben sollen. Diese Möglichkeit nimmt mich mehr mit als alle Gräuel des Krieges zusammen, die der SPIEGEL aufgedeckt hat.
3.
Hat meine Familie weitere Leichen im Keller? Mit dieser Frage wende ich mich besser an meine Schwester.
Diese war wie alle Mädchen Mitglied im Bund deutscher Mädel. Aber als sie mit mir in eine Gemeinde am Großen Moor gezogen ist, geht die Arbeit auf den Höfen für alle vor. Viel Zeit bleibt nicht, die Fahne hochzuziehen, im Gleichschritt zu marschieren und Wanderlieder zu singen. Das sind sowieso Aktivitäten, über die ein anständiger Bauer nur den Kopf schütteln kann. Die Liebe zur Natur ist was für die Städter, während die Natur für die Landbevölkerung ein sperriger Wirtschaftsfaktor bleibt. Verweigert die Natur den Bauern das richtige Wetter, sind sie am Ende.
Mein Bruder ist acht, als er den anderen Jungen in der Reichskristallnacht voran läuft. Er ist der erste, der die Schaufenster jüdischer Geschäfte mit Steinen einwirft. Die dabeistehenden Uniformierten haben sich meinen Bruder gemerkt. Einer von ihnen nimmt ihn an die Seite. Er möchte ihn nach Grotebühl schicken. „Schaffst du das?“ fragt er ihn. „Wenn du eine Führerpersönlichkeit bist, musst du das können.“ „Ich schaffe das“, sagt mein Bruder.
Also fährt mein Bruder in sehr jungen Jahren ohne Begleitung nach Grotebühl. Er kommt auf dem Hof einer seiner Onkel unter. In Grotebühl schlägt er Kirchenbücher nach und legt umfangreiche Genealogien an. Damit weist er nach, dass wir seit 1626, als Tilly seine Soldateska losließ und die Kirchenbücher mit den Kirchen brannten, keinen Juden in der Verwandtskopp hatten. Sollte in den Jahrhunderten davor ein Jude unseren Genpool verdorben haben, wird die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei damit leben müssen. Ein oberer Uniformierter ist mit der Genealogie meines Bruders zufrieden. Er sorgt dafür, dass mein Bruder auf einen Vorbereitungskurs für die künftige deutsche Elite ins befreundete Ungarn geschickt wird. Als meine Mutter gestorben ist, verzichtet mein Bruder auf den ihm eigentlich zustehenden Heimaturlaub. In dieser schweren Zeit muss alle Kraft in die Erwirkung des Endsieges gehen.
Mein Bruder wird auf eine Fortbildungsstätte in den Schwarzwald geschickt. Als er in der Schule eingetroffen ist, sammeln sich die Truppen der Alliierten auf der anderen Seite des Rheins. Die Verteidigung des Vaterlandes ist angesagt. Jetzt heißt es: Siegen oder Sterben. Sobald mein Bruder ein Butterbrot zu sich genommen und eine Uniform verpasst bekommen hat, übt er am Sturmgewehr. Ein Sturmbannführer der SS biegt auf einem Motorrad in die Eliteschule ein. Er herrscht das Personal der Schule an. Danach lässt er die Schüler auf dem Schulhof strammstehen. „Schmeißt die Uniform weg und besorgt euch Zivil“, sagt er. „Der Krieg ist verloren. Abtreten.“ Mein Bruder macht sich in ziviler Kleidung auf den Weg. Er versucht, einen Bogen um die Heere zu schlagen, aber sich in der Nähe von Bahngleisen zu halten. Sollten wider Erwarten Züge fahren, schafft er es vielleicht schneller ins Ruhrgebiet. In der Nähe von Heidelberg entert mein Bruder erfolgreich einen Zug. Der Zug fährt hierhin und dorthin und landet in Brüssel.
Auf dem Perron in BruxellesMidi warten große Mengen. Sie entdecken, dass die Menschen in den Waggons Deutsche sind. Die ersten Scheiben zersplittern. Junge Männer springen auf den Zug, um die Deutschen herauszuzerren und womöglich zu erschlagen. Vielleicht im letzten Moment, als noch keiner verletzt worden ist, fährt der Zug wieder an.
Das Ruhrgebiet ist zu Schutt und Asche zerfallen. Mein Vater sagt zu seinem ältesten Sohn: „Was willst du hier? Es ist alles kaputt.“ Glücklicherweise hält die Allianz zwischen Stadt und Land, wenn auch nur unter den engsten Verwandten und manchmal nicht einmal dort. Mein Bruder kommt bei einem Onkel unter, der neben seinem Hof das Schuhmacherhandwerk betreibt. Als mein Bruder als Lehrling bei ihm anfängt, ist die Arbeit nicht das wichtigste. Hauptsache, er bekommt genug zu essen.
Als erstes beginnen wieder die Güterzüge zu fahren. Auf Anweisung der britischen Militärregierung kommt die Kohleförderung stockend in Gang. Derweil starren die Leute im Ruhrgebiet in leere Keller. Darüber kann in dieser Kälte keiner lachen, dass ausgerechnet sie keine Kohle haben. Manchmal bleiben die Züge mit den Kohleladungen auf der Strecke stehen, ohne dass ein Grund dafür ersichtlich ist. Oder sie legen sich in die Kurve und drosseln ihre Geschwindigkeit. Dann springen Halbwüchsige und Kinder auf die Waggons. Sie werfen, so schnell sie können, Briketts und Kohleeier von den Wagen. Wenn der Zug Fahrt aufnimmt, springen sie hinunter. Wenn mein Bruder noch hier wäre, würde er mit hinauf und herunter springen und ganz vorneweg sein.
Mein Bruder kommt an unserem Hof vorbei, um mich auf seiner Reise ins Ruhrgebiet mitzunehmen. Wir besuchen unseren Vater. Nach wie vor ist im Ruhrgebiet fast alles kaputt. An der Peripherie werden so rasch und billig wie möglich und so hässlich wie nötig Sied lungen hochgezogen, weil man der Wohnungsnot nicht anders Herr werden kann. Aber die Züge fahren und die Kinos laufen. Mein Bruder nimmt mich zu mehreren Kinobesuchen mit. Alle Kinos sind brechend voll. Mein erster HollywoodFilm heißt „Notorious“. In diesem werden Nazis gejagt, aber die deutsche Synchronisation macht daraus drogenvertickende LatinoSchurken.
Oberagent Cary Grant wirbt Ingrid Bergmann als Unteragentin an und schleust sie in die verbrecherische Organisation. Ingrid Bergmann liebt Cary Grant so sehr, dass sie seine Anregungen für Anweisungen nimmt. Sie heiratet den verbrecherischen Oberboss, weil Grant ihr das zumutet. Ingrid Bergmann liefert wertvolle Informationen, bis die Organisation ihr auf die Schliche kommt. Die Schwiegermutter macht sich daran, sie zu vergiften. Das muss quälend langsam geschehen, weil Cary Grant nichts bemerken soll. Die Unteragentin röchelt, da kommt Grant und trägt sie aus dem Hause des Bösen. Ich erfahre nie, ob Bergmann das ihr eingeflößte Gift überleben wird.
Wir kehren aufs Land zurück. Ich vergesse meinen Bruder. Als er abermals vorbeikommt, hat er die Werte des Christentums entdeckt und mit ihnen jene Partei, die das Christentum vor sich herträgt. Als ich das höre, beginne ich zu lachen und stupse ihm gegen die Brust. „Ich kann es kaum abwarten, dass die Russen über uns kommen“, sage ich. „Ich bin gespannt, was du dann glauben wirst.“ „Die Russen können nicht gegen uns gewinnen“, sagt mein Bruder. „Diesmal sind wir auf der richtigen Seite, nämlich der Seite der Amerikaner.“ „Warum willst du unbedingt ein Politiker werden?“ frage ich. „Täte es nicht eine Hoferbin auch?“
In der Landwirtschaft hat die Technisierung eingesetzt. Mähmaschine, Kartoffelroder und Traktor werden nacheinander in kurzen Ab ständen eingeführt. Der Bauer wandelt sich zum Maschinisten, der weiß, wie man die Ungeheuer fährt, bedient, wartet und repariert. Wohl wäre es sinnvoll, wenn sich die Bauern auf gemeinsame Maschinen verständigten. Das funktioniert jedoch aus zwei Gründen nicht: Die Witterungsbedingungen am Großen Moor sind so, dass die Bauern die Mähmaschine am selben Tag benötigen. Sie, die jeden Tag ihre eigenen Entscheidungen treffen müssen, haben nie zu kooperieren gelernt.
Die Technisierung der Landwirtschaft bereitet die Entwicklungen zu landwirtschaftlichen Monokulturen, die Zusammenlegung von Höfen und die Aufgabe von Höfen vor. Mit Maschinen lässt sich die gleiche Menge Arbeit mit weniger Händen verrichten. So wird eine stärkere Landflucht ermöglicht. Gegebenenfalls kommen alle im Ruhrgebiet unter. Während die Männer in den Pütt gehen, sind Dienstmädchen bei Bergassessoren und Schlotbaronen gefragt.
Mein Onkel kauft Mähmaschine und Kartoffelroder. Aber sein Hof ist zu klein, als dass wir uns einen Trecker leisten könnten. Der Sohn des Hauses ersetzt den Ochsen, der unseren Pflug bislang gezogen hat, durch ein Pferd.
4.
Kaum bin ich nach Grotebühl übergesiedelt, da lerne ich meinen künftigen Lehrer kennen. Er kommt auf dem Pattweg angeradelt und redet mit meinem Onkel über Bienenzucht. Später sprechen die Beiden über aktuelle Entwicklungen an mehreren Fronten. Mein künftiger Lehrer ist von den Schlachten fasziniert, die in Russland geschlagen werden. Während er mit der einen Hand sein Fahrrad hält, beginnt er mit der anderen zu gestikulieren. Auch wenn es derzeit ein Hin und Her gäbe, bedeute das nicht, dass der Endsieg nicht unser sei. Sobald der Krieg gewonnen ist, sind gigantische Umsiedlungsaktionen vorgesehen, behauptet der Lehrer. Das habe man spätestens 1941 geplant. Er nickt uns nachdrücklich zum Zeichen seines überlegenen In formationsstandes zu. Mein Onkel werde ein riesiges Gut in Russland unter seine Knute bekommen.
„Wenn man mich von meinem Hof herunterbekommen will, wird man mich erschießen müssen“, sagt mein Onkel. Mein künftiger Lehrer ist verdattert. Auch wenn der Nationalsozialist höheren Idealen zugeneigt ist, etwas mehr Opportunismus täte meinem Onkel gut. Wie soll man eine Beute von der Größe der Sowjetunion verteilen, gäbe es bei uns die Beutejäger nicht?
Die britischen Panzer ziehen in einer Endlosschleife durch Grotebühl. Mein künftiger Lehrer hat den Kindern so viel nationalsozialistisches Gedankengut eingetrichtert, dass er selbst zu glauben begonnen hat. Er beschließt, mit dem Großdeutschen Reich unterzugehen.
Auf dem Marktplatz von Grotebühl wartet der Lehrer auf die Panzer. Als sie herankommen, stellt er sich mitten auf die Straße und entbietet der britischen Armee den Führergruß. Der erste britische Panzer stoppt. Der Fahrer klettert aus seinem Gehäuse. Er nimmt den Lehrer an den Arm und führt ihn an die Straßenseite. Die britischen Panzer setzen ihre Fahrt durch das Kirchspiel fort.
Unser Lehrer will nach wie vor den Heldentod sterben. Er rennt die britische Panzerkolonne entlang. Als er den ersten Panzer der Kolonne überholt hat, stellt er sich mitten auf die Straße und entbietet den britischen Soldaten den Führergruß. Die Panzerkolonne stoppt ein weiteres Mal. Der Fahrer klettert den Panzer hinunter und nimmt den Lehrer in sein Gehäuse. Jenseits des Großen Moores lässt er ihn laufen. Der Lehrer braucht fast einen Tag, um zu Fuß an seine Schule zurückzukehren. Von da an enthält er sich offener NaziPropaganda. Meine Tante schüttelt über diesen Vorfall den Kopf und sagt: „De Keerl hätt tau vierle Beucker läsn.“
Sollten sich die Briten weiter so zivilisiert in ihren Kriegen verhalten, werden sie nicht lange Herr über Indien bleiben. An der Ostfront wäre auf beiden Seiten alles ratzfatz zugegangen.
5.
In Indien haben die Briten kostengünstige Erfahrungen mit indirekter Herrschaft gemacht. Nach ihrem Aufmarsch mit Panzern im Kirchspiel verzichten die Briten auf Präsenzen wie diese und zeigen ihre Kompetenzen in der „Indirect Rule“.
Die Flüchtlinge sind gekommen und bleiben fürs erste. Allerdings schauen sich einige von ihnen, kaum dass sie sich niedergelassen haben, nach Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet und anderswo um. Im Kirchspiel hätten wir ihnen allenfalls in der Landwirtschaft, im Torfwerk und in der Holzschuhmacherei Arbeit zu bieten.
Kurz nachdem die Flüchtlingsströme in den Gemeinden am Großen Moor verteilt sind, kehrt der Jude in unsere Gemeinde zurück. Meine Tante ist die liebste aller Frauen. Aber jetzt trägt sie ein halb verwundertes, halb zähnebleckendes Lächeln zur Schau. Sie fragt: „Wie hat der das geschafft?“ Der Jude betreibt Geschäfte, die wir nicht näher verstehen. Er fährt einen uralten Opel. Das ist das einzige Auto in unserer Gemeinde. Dazu sagt meine Tante: „Muss es dem Judengleich wieder besser als unsereins gehen?“
Allerdings geht der Jude bald seines Monopols verlustig. Einer der beiden Krämer in unserer Gemeinde fährt mit einem Kastenwagen über das Land und verkauft Gegenstände des täglichen Bedarfs auf den Höfen. Wenn er mit meiner Tante in Verkaufsgespräche eintritt, schaue ich zu. Der Krämer fährt mir mit der Hand durch das Haar und schenkt mir klebrige überaus süße Bolschen in Rosarot. Bald hat er in unseren Dörfern so viel verdient, dass er die Pferde ausspannen und sich ein Kastenauto für seine Fahrten zu den Höfen kaufen kann. Jetzt haben wir zwei Personenkraftwagen in der Gemeinde.
Mein Onkel und meine Tante nehmen mich zum Feuerwehrfest mit. Als wir das Zelt betreten, begegnen wir der jüdischen Familie. Wir lächeln einander zurückhaltend an und wechseln ein paar freundliche Worte. Der älteste Sohn des Juden heißt Daniel Räke. Wir werden gemeinsam eingeschult. Ich werde mit ihm keine Probleme bekommen, weil ich schon mit katholischen Kindern klargekommen bin.
In unserer Schule wird man nach seiner Leistung gesetzt. Daniel Räke nimmt üblicherweise den ersten Platz ganz oben in den Bänken für die Jungen links neben dem Zwischeneingang ein. Ich bin in meinen Leistungen instabil. Gleichwohl sitze ich häufig rechts neben Räke. Ich überlege, warum dieser Junge derart gut in schulischen Leistungen ist, und frage ihn, wie bei ihm zu Hause die Schule gesehen wird. Daniel starrt mich an. Er versteht mich nicht. Also feile ich an meinen Fragen: Wird bei ihm zu Hause betont, dass im Leben nur einer was wird, der in der Schule schlechte Leistungen gebracht hat? Aber nein. Schauen Vater oder Mutter seine Schularbeiten nach? Aber ja. Wird er ermuntert, gute Leistungen auf der Schule zu bringen? Selbstverständlich. Wird er belohnt, wenn er mit guten schulischen Leistungen nach Hause gekommen ist? Nun ja, hin und wieder. Diese Juden, folgere ich, müssen bildungsbesessen sein.
Zwischenzeitlich werden Daniel Räke und ich für längere Zeit ge trennt, weil der Lehrer ein neues Bewertungssystem für unsere Leistungen eingeführt hat: Die Jungen und Mädchen sitzen nicht mehr getrennt. Es werden nur einmal in der Woche die Plätze, dann aber möglicherweise alle, gewechselt. Wir schreiben selbst auf, wie viele Punkte wir für unsere Leistungen bekommen. Im Unterricht stellt der Lehrer eine Frage. Ich melde mich vielleicht und gebe eine richtige Antwort. Der Lehrer sagt: „10.000 Punkte“. Oder er sagt: „3.700 Punkte“. Ich schreibe die mir zugebilligte Punktzahl auf.
Das neue Bewertungssystem führt dazu, dass die Mädchen alle ganz unten sitzen. Die klügeren Jungen kommen davor. Ganz oben sitzen die Dümmsten. Das kommt, weil manche Schüler die Zahlen mit den vielen Nullen verwechseln und sich bald jeder die Punkte aufschreibt, die ihm am besten gefallen. Die Jungen von den größeren Höfen trauen sich mehr als die anderen Kinder zu. Oder sie setzen voraus, dass sie durch ihre Geburt nach ganz oben gehören. Irgendwann beginne ich, die Kinder von den größeren Höfen nachzuahmen. Ich sitze oberhalb von Daniel Räke.
Von einem Tag auf den anderen wird unser Bewertungssystem aufgehoben. Der Rat der Gemeinde hat sich beim Lehrer beschwert, weil die Jungen und Mädchen durcheinander sitzen. Ich lasse mich neben Daniel auf den zweiten Platz in der Rangordnung nieder. „Ich fand das neue System gar nicht so schlecht“, sage ich. Daniel starrt mich an. „Ich sah es als ungerecht und unsinnig an“, sagt er. „Nicht die Leistung, vielmehr Selbstvertrauen, wenn nicht die betrügerische Absicht wurden belohnt.“ „Damit hast du recht“, antworte ich. „Wäre es anders gewesen, könnten wir nicht darüber lachen.“
Den Bewohnern von Grotebühl ist es gleich, was wir Kinder in der Schule leisten. Auf einmal entwickeln sie doch ein sportliches In teresse. Mehrere Male spricht mich ein Erwachsener an. „Ich hewwe hört, datte gaut inne Schaule biss“, sagt er. „Worümme strengsse die nich an un kumms up Platz 1?“ Zwei Tage vor den großen Ferien findet in meiner Klasse ein Umbruch statt. Ich schlage Daniel Räke. Während ich auf den ersten Platz rutsche, trägt Daniel es sportlich und begnügt sich ohne zu murren mit dem zweiten Platz.
In Grotebühl bricht jetzt das sportliche Fieber aus. Erwachsene schlagen mir nur halb im Scherz auf die Schulter und beglückwünschen mich. „Sieh zu, dass du noch einen Tag auf Platz 1 bleibst“, sagen sie. „Dann bist du gleich sechs Wochen lang ganz oben.“
Am Nachmittag habe ich ein Gedicht auswendig zu lernen. Ich sehe es mir an und lege es weg. Was soll ich mit Reimen, die ich nicht verstehe und mir keiner erklären wird? Später vergesse ich die Schularbeiten und spiele mit meinem Hund. Zwischendurch frage ich ihn: „Was hältst du von Dathyrimben?“ „Wuff“, antwortet der Hund, „könnte es sein, dass du Dithyramben meinst?“ „Und was hältst du von ihnen?“ frage ich. „Wuff“, sagt der Hund. „Die können nicht besser als Köcksel sein.“
Am nächsten Morgen haben alle Kinder das Gedicht auswendig ge lernt, nur der Sohn des Bürgermeisters und ich nicht. Arnold und ich rutschen nach ganz unten. Der Lehrer schaut uns an. Ich starre wütend zurück. Der Lehrer greift nicht zum Lineal. Daniel Räke kehrt auf den ihm sowieso zustehenden Platz an der Spitze zurück. Nach den Ferien sitzen Daniel Räke und ich wieder zusammen. Er war in den Ferien in einem Summer Camp. Was ist das, frage ich. Man spielt viel und hat einigen Unterricht, antwortet er. „Was habt ihr gelernt?“ frage ich. Daniel kann mir das nicht erklären. Ich wäre bereit, mir einen Finger abzuhacken, wenn ich dafür in ein Summer Camp dürfte.
Mein Vater kommt zu Besuch auf unseren Hof. Diesmal soll es mehr als ein Besuch werden. Er setzt sich mit meiner Tante und meinem Onkel zusammen. Obgleich es um mich geht, werde ich nicht zu den Beratungen hinzugezogen. Dennoch bekomme ich alles mit. Mein Vater zeigt Ansätze von Bildungsbewusstsein. Er ist sogar stolz, weil ich gut in der Schule bin. Andererseits war sein ältester Sohn immer ein richtiger Junge. Mein Vater wirft die Frage auf, ob ich eine höhere Schule besuchen soll. Mein Onkel und meine Tante haben technische und grundsätzliche Einwände. Sie konzentrieren sich zunächst auf die technischen. Im Kirchspiel Grotebühl gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, von einer selten verkehrenden Kleinbahn abgesehen. Wer die nächstgelegene Realschule in Rahden erreichen will, muss dreißig Kilometer plus ein paar Gequetschte mit dem Fahrrad fahren. Soll der arme Junge täglich mehr als sechzig Kilometer mit dem Rad unterwegs sein? „Und dann datt feerle Lee`en“, sagt meine Tante.
Meine Tante fügt am Ende des Gespräches das Grundsätzliche hinzu: „Es sind viele im Leben was geworden, die nicht auf der höheren Schule gewesen sind.“ Mein Vater neigt den Kopf und sagt dazu nichts. Ich würde mir zwei Finger abhacken, wenn ich auf die Realschule dürfte. Das ist mir so wichtig, dass ich mir ein Herz fasse. Ich sage meinen Leuten, was ich mir wünsche. Sie hören nicht zu. Daniel Räke verabschiedet sich. Er kommt auf die Realschule, ist aber weniger begeistert, als er aus meiner Sicht sein sollte. Noch ein Jahr und die jüdische Familie zieht aus dem Kirchspiel Grotebühl weg. Ich sehe sie nicht wieder. Ich nehme für einige Zeit die erste Position in meiner Klasse ein, immer wieder unterbrochen durch unerklärliche Einbrüche.
Das ist kein Wunder, denke ich, dass uns die Juden in allen Belangen überlegen bleiben, wenn sie so bildungsbesessen sind. Daran sollten wir denken, selbst wenn wir sie nicht sehen.
6.
Gelegentlich verzichten die Briten auf „Indirect Rule“. Ein junger Offizier kommt auf einem klapprigen Fahrrad in unsere Gemeinde. Er trägt keine Waffen. Jetzt steigt er vom Fahrrad und klopft am Haus unseres Lehrers an. Als der Lehrer die Tür geöffnet hat, sagt er in flüssigem Deutsch, er möchte die Schulbibliothek sehen und ihre Bestände sichten. Das tut er, damit unsere Gehirne nicht weiter durch nationalsozialistische Propaganda vergiftet werden. Die Bücher mit NSPropaganda trägt er auf den Schulhof, um sie dort zu verbrennen. Wir Grotebühler finden das weniger gut. Haben wir nicht gerade gelernt, dass man keine Bücher verbrennen soll?
Ich erfahre von diesem Ereignis einige Jahre später. Ich empöre mich. Warum hat mir das niemand früher erzählt? Wenn einige Bücher verbrannt worden sind, müssen andere erhalten geblieben sein. Ich schwinge mich aufs Fahrrad und klopfe an der Haustür meines Lehrers, wie dies seinerzeit der britische Offizier getan hat. Mein Lehrer findet es unangemessen, wenn er von einem Schüler außerhalb des Unterrichts angesprochen wird. „Watt wutt du denn?“ fragt er und ist dabei, die Tür zuzuschlagen. „Ick will taue Schaulbibliothek“, sage ich. Der Lehrer kneift die Augen zu, um mich zu mustern. „Dieter“, sagt er, „hesse nich genauck Beucker läsen?“ „Iss de Schaulbibliothek nich for de Kinner door?“ frage ich.
Ich nehme wahr, dass der Lehrer nachzudenken beginnt. Einerseits kommt er der Aufforderung eines Kindes höchst ungern nach. Ließe er mich abblitzen, wären alle auf meinem Hofe auf Seiten des Lehrers. In der Gemeinde würde man sagen: „Mürkers Dieter hett keine Beuker uute Schaulbibliothek kriergen. Dann wett hei villichte doch nich verrückt.“ „Wenn hei et man nicht schon iss“, würde ein anderer Erwachsener sagen.
Andererseits wissen mein Lehrer und ich, dass ich mich im Recht befinde. Auch bin ich bereit, ihm jeden Ärger zu machen, zu dem ich imstande bin. Dazu werde ich mir einiges einfallen lassen. Damit er das weiß, sehe ich meinen Lehrer mit größtmöglicher Entschlossenheit an. „Dann kummes man“, sagt dieser und schlurft ins Haus zurück.Ich folge ihm. „Ower bloß ein Bauk“, sagt der Lehrer. Am Ende sind es doch zwei Bücher geworden. „Ick kurm weier“, kündige ich an und schwinge mich mit meiner Beute aufs Rad.
Ich gebe mich einer umfangreichen Deutschen Geschichte hin. Erst wandern die Menschen durch den Dschungel und pflücken Bananen. Später wenden sie sich Ackerbau und Viehzucht zu. Erst schmelzen sie Bronze. Dann finden sie zum Eisen, um Schwerter zu schmieden. Friedrich Barbarossa triumphiert über den Papst und befriedet Italien.
Martin Luther befreit Deutschland vom Joch der Katholischen Kirche. Er hätte ein bedeutender Führer werden können, wenn er seine Theologien vergessen und eine Uniform angezogen hätte. Andererseits sagt er sehr richtig, dass man dem Staat zu gehorchen hat. Auf Luther folgen dunkle Jahrzehnte. Die Deutschen schlagen einander die Köpfe ein. Sie sehen sich als Protestanten und Katholiken und vergessen das Wichtigste, ihre nationale Identität.
Allerdings besteht Hoffnung. Die Deutsche Geschichte wendet sich dem Aufstieg Preußens zu. Es wird zwischen bedeutenden Königen unterschieden, die Kriege gewinnen, und unbedeutenden, die friedlich geblieben sind.
Der spätere Friedrich II. liest viele Bücher und schreibt ein eigenes Buch über Moral in der Politik. Als er den Thron besteigt, überfällt er gleich Schlesien. Darüber ist Europa empört. Nicht, dass die anderen Staaten keine Kriege führten. Aber beim Eintritt in einem Krieg sollten gewisse Formen wie vorauseilende Propaganda und Emser Depeschen gewahrt bleiben Weil sich das halbbarbarische Preußen nicht an die Formen gehalten hat, muss es bald Krieg gegen den Rest von Europa führen.
Mit dem Eisernen Kanzler hebt eine neue hohe Zeit für Deutschland an. Dieser bricht seine Kriege gleichfalls vom Zaun, handelt aber nach Kalkülen der Spieltheorie. Da seinen Kontrahenten die Spieltheorie nicht geläufig ist, muss er am Ende immer gewinnen. Allerdings beachtet der Eiserne Kanzler nicht, dass das von ihm begonnene Spiel nicht zu Ende ist, wenn er als Lotse von Bord geht. Da seine Nachfolger unbedarft bleiben, müssen sie am Ende alles verlieren.
Diese goldene Zeit wird nur vom nationalsozialistischen Deutschland überboten. Mit glühenden Augen schaut Adolf Hitler aus dem Fenster eines Wiener Obdachlosenasyls. Alles das, was ihm das Leben verweigert hat, will er zerstören. Das kann ich bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen. Wenn einem alles genommen wird, was einem wichtig gewesen ist, bekommt man große Lust dreinzuschlagen. Das Buch endet mit dem Untergang der sechsten Armee in Stalingrad und der Mahnung, dass wir Rückschläge verkraften müssen. Am Ende wird der Endsieg unser sein.
Die Juden treten 1789 und 1919 in der Deutschen Geschichte auf. Gem einsam mit den Freimaurern organisieren sie die Französische Revolution. Später gründen sie die Weimarer Republik. Dabei begehen sie unaussprechliche Verbrechen. Ich lese die entsprechenden Passagen mehrere Male. Aber ich komme nicht darauf, was diese Untaten gewesen sein mögen. Ich will mehr wissen, nehme ich mir vor, besonders über die Französische Revolution.
Noch mehr als die Deutsche Geschichte zieht mich die romanhafte Wiedergabe isländischer Sagen an. Im Frühmittelalter rotten sich die Isländer mit ihren Fehden beinahe aus, um Blutrache zu üben. Sobald einer von der Hand eines anderen gestorben ist, beginnt ein nicht enden wollender blutiger Reigen. Als die Isländer es geschafft haben, diesen zu stoppen, sublimieren sie ihren Blutdurst zu Literatur. Wallur schreitet als aufrechter Mann durch die Geysire. Wenn ein Mann ihm entgegenkommt, gibt ein Wort das andere. Schon wieder ist einer tot. Am Ende haben die Feinde das Haus von Wallur umzingelt. Sie stecken das Haus an und rufen: „Komm heraus, Wallur!“ Wallur kommt heraus. „Es sind so viele gestorben“, sagt der Anführer seiner Feinde. „Lass uns Frieden schließen.“ „Es gibt nur den Krieg“, sagt Wallur und geht zu den Seinen ins brennende Haus.
Erst später realisiere ich, dass es sich um Propaganda der Nazis handelte, wir aber trotz ihres Betreibens nicht untergegangen sind.
7.
Während ich mich durch den Unterricht träume, sieht mich mein Lehrer voller Abneigung an. Du möchtest mich mit deinem Lineal schlagen, denke ich. Wage es nicht. Der Lehrer wurde es leid, mich zu den Beständen seiner Schulbibliothek zu geleiten. Deshalb hat er alle Bücher an die Schulbehörde in der Kreisstadt geschickt. Er behauptet, die Schulverwaltung habe ihn aufgefordert, ihr die Bücher zu schicken. Sie wolle prüfen, ob nationalsozialistisches Gedankengut in ihnen zu finden sei. Ich kann ihm nicht nachweisen, dass er gelogen hat. Aber ich verdächtige ihn. Also traktiere ich ihn mit wütenden Anfällen und Ausfällen mitten im Unterricht.
Auch sonst ist es um neuen Lesestoff für mich schlecht bestellt. Un sere Abonnements für Zeitung und Lesemappe sind ausgelaufen. Die Flüchtlingsfrau bot mir Hefte, aber ich gab ihr dafür nichts im Tausch. Das merkte sie sich.
In meiner Verzweiflung wende ich mich einem der zwei Bücher zu, die sich von Beginn an auf unserem Hof befinden. Das eine Buch ist die Heilige Schrift. Das andere Buch ist das Kochbuch. Es ist das einzige Buch, das für mich verfügbar ist und ich gleichwohl nicht lese, obgleich ich mehrere Anläufe mit Kochrezepten unternahm. Immerhin habe ich die Zeichnungen mit Tieren, die in diversen essbaren Regionen unterteilt sind, mit Buntstiften ausgemalt.
Wenn ich mich an meine seinerzeitige Lektüre der Bibel erinnere, werden meine Gedanken durch einen Kommentar Jens Daniels im SPIEGEL aus den späten 50er Jahren verzerrt. Jens Daniel findet in seinem Kommentar zu Jahwe scharfsinnige und scharfzüngige Worte. Wie können die Christen und Juden einem Gott anhängen, der so willkürlich, jähzornig, rachsüchtig und maßlos ist und die Menschen ausschließlich nach ihrer Anhänglichkeit und ihrem Gehorsam be lohnt und bestraft?
Unabhängig von Daniel empfinde ich die ständigen Interventionen Jehovas in die Angelegenheiten des Volkes Israel störend. Zu einer guten Geschichte gehört, dass man nicht weiß, wie sie ausgehen wird. Vorübergehend müssen auch mal die Bösen gewinnen, damit die Spannung erhalten bleibt. Hier weiß man angesichts der ständigen Ein mischungen Jahwes immer, wie alles endet. Jehova hat ein be stimm tes Volk auserwählt. Das muss jedes Gefühl für Gerechtigkeit verletzen. Ich habe die Bibel schon einmal von vorne bis hinten gelesen. Beim zweiten Mal lese ich abermals Zeile für Zeile. Gerate ich an langweilige Stellen, die es sehr häufig gibt, sage ich mir: Da musst du durch. Irgendwann müssen, das weiß ich aus meinem ersten Durchgang, die guten Geschichten kommen.
Der Lehrer beurteilt biblische Geschichten anders als ich. Er blickt uns bedeutungsvoll an. „Andere schreiben Geschichten“, sagt er, „aber nur Jesus konnte Gleichnisse verfassen.“ Damit meint er, dass die Gleichnisse Jesu unvergleichlich sind. Ich sehe mir die Gleichnisse Jesu an. Die Geschichten sind ganz in Ordnung, besonders die vom verlorenen Sohn. Allerdings übt der Vater eine ähnliche Willkürherrschaft wie Jahwe aus.
Ich misstraue Jesus, weil er ein Erwachsener ist. Jesus hat dieses und jenes befohlen. Wie wäre es, wenn wir nicht täten, weil es Jesus gesagt hat, sondern weil es das Richtige ist?
Das Beste am Neuen Testament ist die Apostelgeschichte. Ich male Landkarten und zeichne die Strecken, die die Apostel gewandert sind. Haben sie irgendwo eine neue Gemeinde gegründet, erhält die Stadt von mir ein doppeltes Kreuz. Leider hat der Apostel Paulus zu viele Briefe geschrieben. Während ich mich durch diese quäle, wünsche ich ihm fast den Märtyrertod.
Im ersten Buch Mose gibt es viele gute Geschichten. Auch im Re li gionsunterricht werden Abraham, Isaak und Jakob wiedergekäut. Andererseits werfen die Schöpfungsgeschichte und die Fahrt der Arche Noah während der Sintflut chronologische, kapazitative, technische und intellektuelle Fragen auf. Ab dem zweiten Buch Mose herrscht eine fast ebenso große Langeweile wie in unserem Kochbuch. Man könnte auch sagen, dass das zweite bis fünfte Buch Mose in weiten Teilen ein Kochbuch sei. Allerdings hat Gott der Herr seine Rezepte für das Volk Israel verbindlich gemacht. Sie dürfen nicht anders kochen als ihnen kraft göttlichem Ratschluss gesagt wurde. Hier setzen meine Zweifel an Jahwe unabhängig von Jens Daniel ein.
Wie kann einem, der Gott ist, so etwas eingefallen sein? Wusste er nicht zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden? Meine Lieblingsgeschichten im Alten Testament finden sich in den Büchern der Könige und Chroniken. Die Könige des Volkes Israel steigen und fallen. Sobald die Großmächte in der Nachbarschaft auf das kleine Land aufmerksam werden, hat Israel sowieso keine Chance. Die bösen und semibösen Könige sind interessanter, während sich die Tugend für Geschichten kaum lohnt. Was wäre König David für uns, wenn er nicht sündigte? Die Königin Jezebel ist ein knackiges Weib und hätte ein paar Siege verdient. Aber alle bösen Könige verlieren Krieg und ihr Leben, weil sie Gott einen Gefallen verweigert haben. Könnte Gott, wenn er allmächtig und allwissend sein sollte, nicht großmütiger sein und sich über die eigenen Empfindsamkeiten hinwegsetzen?
Die allerbesten Geschichten finde ich in Büchern, die es nur mit Not in einigen Ausgaben der Bibel geschafft haben. Es handelt sich um die Apokryphen. Die Freiheitskämpferin Judith ersticht den gegnerischen Feldherrn in dessen Zelt, nachdem sie Dinge mit ihm getrieben hat, über die man in Grotebühl ungern offen spricht. Die MakkabäerBrüder sind die ersten Guerilleros der Weltgeschichte. Gegen eine übermächtige Militärmacht der griechischen Besatzer greifen sie an, wo der Feind sie am wenigsten erwartet. In den Herzen ihrer Mitbürger entzünden sie die Sehnsucht nach Freiheit. Nach vielen Heldentaten ziehen sie in Jerusalem ein. Ich laufe dreimal um den Misthaufen auf unserem Hof und schreie: „Hurra!“
Die im Aufstieg begriffene römische Weltmacht ist dabei, die hellenistischen Königreiche zu verschlingen. Sie gewährt dem Volk Israel ihren Schutz und beschränkt sich auf eine „Indirect Rule“. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, während ich Chaim Potok lese, bewerte ich die Geschichten um Israel im griechischen Zeitalter neu. Anders als Potok stelle ich mich gegen die Makkabäer auf die Seite der Griechen.