Bis zur Erntezeit sind noch mehrere Monate. Meine Leute lassen es auf dem Hof ruhiger angehen. Sobald der Nachmittag angebrochen ist, gönnen sie sich einen Mittagsschlaf. Ich bin bemüht, mich hier und da nützlich zu machen. Ich nehme die Schubkarre, um die Milchkannen abzuholen. Der Milchbauer stellt sie schräg gegenüber dem Dürkopp`schen Hof. Dort beginnt die Abzweigung des Weges zu unserem Hof. Wenn wir „Die Harke“ abonniert haben, klemmt der Milchbauer die Zeitung unter den Deckel einer der Milchkannen. Ich schiebe die Karre der Kreuzung entgegen.
Wir haben derzeit nicht „Die Harke“ abonniert. Aber ein Brief meines Vaters ist gekommen und zwischen dem Deckel und der Kanne geklemmt. Ich freue mich, dass es etwas zu lesen und vielleicht etwas Neues geben wird. Ich lade die Milchkannen auf die Karre und schiebe sie nach Hause. Ich wurde ins siebente Schuljahr versetzt. Die Erwachsenen bleiben freundlich zu mir. Aber sie werden distanzierter, weil ich weniger kindlich aussehe. Bin ich doch weniger wichtig als man mir nahelegte? Ich sehe mir die Erwachsenen an und bin wenig zufrieden mit ihnen. Sollte ich es schaffen, erwachsen zu werden, tröpfelt die Zeit in bleierner Ereignislosigkeit dahin. Da hilft mir nicht, dass ich mehr Worte kenne und kompliziertere Sätze bilde als alle, seit Daniel Räke unsere Schule verlassen hat.
Ich lade die Milchkannen vor der Futterküche ab. Ich nehme den Brief meines Vaters und gehe mit ihm in die gute Stube. Ich setze mich vor das Radio. Mein Vater schreibt, er habe den Brief meines Onkels und meiner Tante bekommen. Anscheinend haben sie geschrieben, dass ich zurück ins Ruhrgebiet muss. Mein Vater entwickelt Vorschläge, wie das technisch am besten zu bewerkstelligen sei.
Ich stelle das Radio an, weil die Wiederholung der Schulfunksendung beginnt. Während zur Eröffnung der Schulfunksendung die „Kleine Nachtmusik“ gespielt wird, stelle ich das Radio wieder aus. Meine Tante kommt aus dem Mittagsschlaf. Sie stürzt auf den geöffneten Brief meines Vaters und liest ihn. Sie wendet sich mir zu. „Hässe deen Breif läsen?“ fragt sie. Ich breche in Tränen aus. Meine Tante nimmt mich ein letztes Mal in die Arme. Mein Onkel kommt hinzu. Er erkennt, dass ich an Grotebühl hänge, wenigstens in diesem Augenblick. Ausnahmsweise begründet mein Onkel eine seiner Entscheidungen vor einem Kind. Er fragt: „Wutte villichte Knecht uppen Hoff würn?“
2.
Zuvor bin ich zwei weitere Male im Ruhrgebiet gewesen. Mein Vater hatte mich eingeladen, ihn zu besuchen. Onkel und Tante setzten sich mir gegenüber und sagten: Ich möchte doch meinen Vater besuchen, nicht wahr? Wenn man mich fragt, ob ich etwas möchte, muss ich misstrauisch werden. Aber habe ich eine Wahl?
Als ich aus dem Ruhrgebiet zurückgekehrt bin, sehen Tante und Onkel mich erwartungsvoll an. Meine Tante druckst herum, aber ich weiß nicht, worauf sie hinauswill. Dann wird sie direkt und fragt: „Wör door uk´n Wief?“ „Ja“, sage ich, mein Vater habe sich eine Haushälterin angeschafft. Mein Onkel und meine Tante nicken einander bedeutungsvoll zu. „Watt hebbt jii doohn?“ fragt meine Tante noch. „We häw Korten speerlt“, sage ich. „Am hellichten Dooge?“ fragt meine Tante.
Während meines Besuches ist mein Vater täglich zur Schicht gegangen. Daher habe ich halbe Tage mit der Haushälterin allein zu verbringen. Sie müht sich ab, zu mir freundlich zu sein. Ich erkenne das an und bin meinerseits freundlich. Einmal droht sie in Weißglut zu geraten, als ich ihr das Kartenspiel „Mau Mau“ beibringen will. Dieses Kartenspiel ist derart einfach gestrickt, dass ich mich weigere, die Regeln zweimal zu erklären. Aber die Haushälterin kapiert einfach nicht. Unmittelbar bevor der Wutanfall über sie kommen wird, fällt ihr der Groschen. Von da an will sie nur noch „Mau Mau“ spielen. Wir unterbrechen das Spiel, wenn mein Vater nach Hause kommt. Er setzt sich auf einen Stuhl und bleibt längere Zeit nach dem Essen sitzen. Ich sehe, dass ihn die Zeche kaputt macht. Mein Vater ist zweimal unter Tage verschüttet gewesen. Dabei hat er sich eine blaue Narbe an der Nase geholt. Ich nehme mir gelegentlich eine Auszeit vom Kartenspielen, um einen Blick in die aktuelle Ausgabe der Ruhr Nachrichten zu werfen. Oder ich schlage vor, zu einem Brettspiel überzugehen. „Mensch ärgere dich nicht“ scheint ewig zu dauern, wenn die Zahl der Spieler auf zwei begrenzt ist.
Die Haushälterin ärgert sich, dass ich häufiger als sie gewinne. Sie ver steht nicht, dass die richtige Taktik darin besteht, nicht mit allen Vieren, sondern mit einer Figur loszumarschieren. Sobald beide Spieler der einzig richtigen Taktik folgen, verwandelt sich „Mensch är gere dich nicht“ wirklich in ein Glücksspiel. Fairerweise weise ich die Haushälterin darauf hin, wie sie vorgehen sollte. Als die Wut in ihr zu kochen beginnt, weil sie nichts verstanden hat, breche ich meine Erklärungen ab. Die Haushälterin legt die Karten zur Seite, als die Ehefrauen aus der Nachbarschaft zum Kaffeeklatsch kommen. Ich bleibe am Kaffeetisch sitzen und höre den Frauen zu. Diese sind auf eine schwer definierbare Art freundlich zu mir. Eine unangenehme Neugier ist dabei, sogar Häme. Sie haben, so erkenne ich, von den alten Geschichten gehört. Sie reden hinter meinem Rücken über mich und meinen Vater und hätten gern Weiteres über uns gehört. Die Haushälterin ist aus Westpreußen nach Berlin und von dort ins Ruhrgebiet umgezogen. In Berlin wurde sie vom Einmarsch der Ro ten Armee überrollt. Wie das mit den Vergewaltigungen war, wollen unsere Besucherinnen wissen. Allerdings fragen sie nicht so direkt. Wenn die Russen in den Keller kamen, machten sie sich an die jüngeren Frauen, sagt die Haushälterin. Wenn ein deutscher Mann Einspruch erhob, wurde er ohne Warnung erschossen. Manch mal wurde er auch ohne Anlass erschossen. Ansonsten geht die Haushälterin nicht ins Detail.
Die Frauen reden davon, dass der Strom der Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien ins Ruhrgebiet zum Erliegen gekommen sei. Die sind alle angekommen. Jetzt sind es jene, die Berlinerisch sprechen oder sächseln, also in der Ostzone wohnten, die herüber machen. Eine der Frauen mokiert sich, dass in den Straßenbahnen nur mehr Sächsisch gesprochen werde. „Aber wir brauchen die Sachsen, wenn unsere eigenen Leute nicht mehr in den Pütt wollen“, sagt eine andere.
Meine zweite Reise ins Ruhrgebiet findet zum Weihnachtsfest statt. Der Haushalt meines Vaters wird für mehrere Tage um die Tochter und Enkeltochter der Haushälterin vergrößert. Ich traue der überbordenden allseitigen Freundlichkeit mir gegenüber nicht. Am Heiligen Abend erhalte ich von meinem Vater ein Buch. Es ist das erste Buch, das ich in meinem Leben geschenkt bekomme. Ich setze mich abseits vom Weihnachtsbaum und sinke in eine andere Welt.
Ich erkenne an, was mein Vater für ein Opfer gebracht hat. Die Buchhandlungen stellen Tempel sozialer Ausgrenzung dar. Verkäufer und Käufer sind Eingeweihte, die in flüsterndem Ton bedeutsame Zusammenhänge austauschen. Sollte es einen Arbeiter versehentlich in die Buchhandlung verschlagen, dreht er die Ballonmütze in den Händen. So sehr mein Vater den Buchhändler gefürchtet haben mag, er ließ sich beraten. Am Ende hat er mir einen Klassiker, „Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson, gekauft. Bislang wusste ich nicht, dass es Bücher gibt, die eigens für Kinder geschrieben wurden. Demnach gibt es Erwachsene, die mit Kindern klarkommen, wenngleich nur über Bücher. Während ich lese, kommt mein Vater vorbei. Er schüttelt den Kopf. „Du hast ja das Buch beinahe durch“, sagt er. „Lies langsamer. Das nächste Weihnachtsfest ist erst in zwölf Monaten.“
Die Tochter unserer Haushälterin hat mit ihrem eigenen Kind ihren Mann und dessen zwei Kinder verlassen. Damit hat sie den Mann schwer unter Druck gesetzt. Der wird mit den eigenen Kindern nichts anzufangen wissen. Die Familie der Tochter lebt in einer Flüchtlingsschabracke in einem Dorf im südlichsten Teil des Königreichs Hannover. Der Mann liegt den Tag über auf dem Sofa und betrachtet aus dem Fenster den Wald. Oder er schaut auf die Felder, während sie von den Einheimischen bestellt werden. Dazu trinkt er Bier, sofern Geld ins Haus gekommen ist. Der Mann hat gelegentlich auf den umliegenden Höfen geholfen. Aber ins Ruhr gebiet ziehen und richtig mit anpacken, das wollte er nicht.
Die Tochter der Haushälterin wippt herausfordernd, wenn sie einhergeht. Sie zerzaust mir mit irrem Lachen die Haare und sagt: „Das ist ja schade, dass du so jung bist.“ Das Enkelkind der Haushälterin steht vor ihrer Einschulung. Wir holen es mehrere Male aus der Kneipe mit Dortmunder KronenBier. Dort hat es an den Automaten gespielt. Die Kneipengänger haben ihr Geld für die Automaten gegeben.
Als ich auf meinen Hof zurückgekehrt bin, bestätige ich meinem Onkel und meiner Tante, was sie hören möchten: „Dei passt hier nicht uppen Dörp henn.“ Wir sind alle einer Meinung. Aber das ändert
nichts daran, dass ich zurück ins Ruhrgebiet muss.
3.
Als meine Schwester in meine Lebensgeschichte zurückkehrt, muss auf einmal alles sehr schnell gehen. Sie ist einem Bauernsohn ins Kornfeld gefolgt. Damit ist sie den herrschenden Sitten im Kirchspiel nachgekommen, außer dass keiner der Beiden vorher gefragt hat, ob er oder sie später einen Hof erben wird. Jetzt bekommt meine Schwester ein Kind von einem Jugendlichen, der auf dem Land keine wirtschaftliche Zukunft hat.
Mein Vater will die Beiden in seinen Haushalt ins Ruhrgebiet holen. Die Haushälterin setzt ihm die Pistole auf die Brust. Sie hat nichts dagegen, wenn der Haushalt vergrößert wird. Aber zuvor muss geheiratet werden. Ich realisiere erst jetzt, wie mein Vater und seine Haushälterin miteinander verbunden sind.
Meine Schwester kehrt als erste ins Ruhrgebiet zurück. Der nächste, der dort eintrifft, ist der baldige Vater. Ihm war die Arbeit auf dem Lande sowieso zuwider. Glücklicherweise hat er das Handwerk des Schmiedes erlernt. So kommt er rasch auf der Hütte unter. Ein Kind wird geboren. Damit wird es Zeit für mich, Abschied von unserem Hof zu nehmen.
Vor wenigen Monaten wurde bei uns eine Buslinie eingerichtet. Der Bus fährt von einer preußischen Kreisstadt in die andere. Zwi schendurch macht er einen Schlenker ins Königreich Hannover direkt durch das Kirchspiel Grotebühl. Mein Onkel und meine Tante gehen mit mir zur asphaltierten Chaussee. Der Onkel trägt den Koffer vorneweg. Als der Bus herankommt, beginnen wir zu winken. Das müssen wir, weil es auf dem Land keine festen Haltestellen gibt. Der Fahrer hält an und lässt mich hinein. Ich stehe im Bus am Vordereingang und nehme den Koffer von meinem Onkel entgegen.
Überall im Bus sitzen Kinder, die zu der Realschule nach Minden fahren. Ohne dass dies groß zur Kenntnis genommen wurde, hat die Bildungsrevolution sogar auf dem Land eingesetzt. Leider kam ich dafür zu früh in die Jahre.
Als ich im Ruhrgebiet angekommen bin, sehe ich mir das Baby an. Kopf hoch, sage ich ihm. Aus diesem Schlamassel kommen wir irgendwann heraus. Die Tochter der Haushälterin nimmt eine Stellung an und schmeißt sie gleich wieder. Sie sagt, dass sie so was nicht mit sich machen lasse. Alsbald kehrt sie in unseren Haushalt zurück. Nach wenigen Tagen schreien die Haushälterin und ihre Tochter einander an. Die Tochter nimmt das Enkelkind und geht außer Haus. Am späten Abend kehrt sie zurück. Sie kommt ohne ihre Tochter. Sie hat das Enkelkind im Kinderheim abgegeben. Sie hat schriftlich eingewilligt, dass sie niemals mehr Ansprüche auf ihr Kind erheben darf und ihr Kind niemals mehr sehen wird. Die Haushälterin und ihre Tochter schreien einander an. Wir verziehen uns in die Ecken, soweit dies in einer ZweiZimmerWohnung möglich ist. „Du mochtest sie nicht!“ schreit die Tochter. Die Haushälterin schreit: „Das stimmt nicht.“ Die Tochter schreit weiter: „Du wolltest das so!“ „Das wollte ich nicht!“ schreit die Haushälterin.
Am nächsten Morgen brechen die Haushälterin und ihre Tochter gemeinsam auf. Ist nicht alles zu spät? Das wollen sie sehen. Am Nach mittag kehren beide zurück. Sie haben das Enkelkind gegen alle Hindernisse zurückgewonnen. Der junge Vater meint, das müsse gefeiert werden. Er und ich gehen die Treppen zur Kneipe hinunter und holen das Bier. Als wir mit dem Bier in die Wohnung meines Va ters kommen, schaut sich die Tochter der Haushälterin um. Sie fragt: „Wo ist meine Tochter?“ Abermals laufen wir die Treppen hinunter. Wir holen das Kind von den Automaten weg. Als wir in unsere Wohnung zurückgekehrt sind, zeigt es das Geld, das es gewonnen hat. Meine Schwester hat sich soweit erholt, dass sie sich um eine Stellung bemühen kann. Neuerdings gibt es viele offene Angebote für Dienstmädchen. Die Frauen arbeiten lieber in den Fabriken. Sie werden dort vielleicht auch schikaniert, aber sie können zusammenhalten und nach Feierabend sieht keine von ihnen den Chef. Glücklicherweise hat die Technisierung der Haushalte eingesetzt. Bald muss die gnädige Frau selbst in die Küche. Mit Kühl schrank, Staubsauger und Mix automaten wird sie den Ausfall des Dienstmädchens verkraften, ohne zu viel arbeiten zu müssen.Aber noch ist es nicht so weit. Meine Schwester kommt bei einem Geldschrankfabrikanten unter. Der Sohn lümmelt sich bei ihr in der Küche. Er behauptet, dass Dienstmädchen minderwertige Wesen seien. Meine Schwester geht zu seinem Vater und beschwert sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Der Vater sagt seinem Sohn, dass er sich entschuldigen soll. Der Sohn geht in die Küche und entschuldigt sich bei meiner Schwester. Er tut dies mit einem süffisanten Lächeln. Damit zeigt er an, dass seine Bitte um Vergebung nicht ernst gemeint ist. Fünfzig Jahre später muss der Sohn Insolvenz anmelden, weil er mit der Konkurrenz aus Taiwan und Südkorea nicht mehr mithalten kann. Als ich das in der Presse gelesen habe, telefoniere ich mit meiner Schwester und öffne ihr zu Ehren eine Flasche Sekt.
Als nächstes kommt meine Schwester bei einem Bergwerksdirektor unter. Der hat sich zusätzliches Geld mit Patenten verdient, die die Sicherheit im Bergbau erhöhen. Mit seinen Lizenzeinnahmen kaufte er sich in der Dortmunder Gartenstadt ein. Das ist die bevorzugte Wohngegend für Bergassessoren und Schlotbarone, bevor sie die Motorisierung nach Herdecke trägt.
„Meine Tochter ist beim Bergbauadel untergekommen“, sagt mein Va ter. „Dieser hält bekanntlich auf sich. Jetzt hat sie es besser.“ So zeigt er seinen Stolz, weil seine Tochter das Klo des Direktors putzt.
Meine Schwester schrubbt wie verrückt, weil sie es ihrer neuen Herrin recht machen will. Seit sie schwanger gewesen ist, fühlt sie sich schuldig. Die Frau Direktorin spricht freundlich mit ihr. Meine Schwester versteht, dass sie aufstehen soll. Sie blickt die Direktorin aus glasigen Augen an. Dann bricht sie zusammen. Als sie aufwacht, stehen die Frau Direktor und der Bergwerksdirektor an ihrem Bett. „Du bist total ausgehungert“, sagt der Direktor. „Hat man dir beim Safefabrikanten nichts zu essen gegeben?“ „Nicht allzu viel“, sagt meine Schwester und beginnt zu weinen. „Sch, sch“, sagt die Frau Direktor. Sie wird meine Schwester in den nächsten Tagen hochpäppeln. Jetzt ist sie das Dienstmädchen.
Der Bergwerksdirektor und seine Frau haben einen Sohn. Die Drei brechen mehrere Male zu Kurzurlauben nach BadenBaden auf. Meine Schwester sagt mir Bescheid, wenn ihre Leute abgereist sind, sodass ich sie in dann in der Gartenstadt besuche.
Meine Schwester führt mich durch das Haus des Bergwerksdirektors. Sie macht mich auf besondere Schätze aufmerksam, die ihr von der Frau Direktor erklärt worden sind. Ich mache mich in der Bibliothek auf die Suche, finde aber nur Technische Handbücher vor. Warum lebt der Bergwerksdirektor nicht wie ich in Paralleluniversen, obgleich er sich das besser als ich leisten kann?
Meiner Schwester wurde ein eigenes Zimmer zugewiesen. Dort ha ben wir es uns am Tisch gemütlich gemacht. Meine Schwester spitzt die Ohren. War da nicht ein Motorengeräusch? Sie späht durch die Gardinen. Der Bergwerksdirektor ist mit seiner Familie verfrüht aus dem Urlaub zurückgekehrt. Ich mache mich von dannen. Der Berg werksdirektor hat seinen Wagen vor die Garage gesetzt. Die Frau Direktor und ihr Sohn stehen vor dem geöffneten Kofferraum und schauen auf mich. Der Bergwerksdirektor steht am Tor und spricht mich an, während ich an ihm vorbeigehe: „Wer bist du denn?“ Ich drehe mich um und sage: „Ick bün die Schwester.“ „Du meinst wohl, dass du der Bruder bist“, sagt der Direktor. Ich hasse mich, weil ich ihm nicht richtig geantwortet habe.
Mittlerweile wurde die Hochzeit zwischen meiner Schwester und dem jungen Vater zweimal verschoben. Wenn meine Schwester alle vierzehn Tage über das Wochenende nach Hause darf, erwarten alle, dass sie sich um das Baby kümmert. Auch sollte sie sich mit dem jungen Vater zusammensetzen. Das probieren die beiden, auch wenn sie einander wenig zu sagen haben.
Der junge Vater fährt über den Hauptbahnhof zu seiner Hütte. Dort kauft er sich Wildwesthefte mit Billy Jenkins und Tom Prox. Er gibt sie mir, sobald er sie gelesen hat. Die Verfasser sind Deutsche, die für wenig Geld in Serie schreiben. Sie schauen gehetzt auf die Uhr, weil sie fertig werden müssen und ihr Abgabetermin beinahe erreicht ist. Wenn sie nicht pünktlich fertig werden, erhält der nächste Schreiberling seine Chance.
Die Vorgaben der Verleger sorgen dafür, dass sich die Geschichten alle sehr ähnlich sind. Ich freunde mich mit dem Autor C. F. Unger an. Bei ihm finden mehr Weidekriege statt als es im Wilden Westen gegeben hat. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verlaufen weniger eindeutig, wenn es in der Prärie lediglich eine Wasserstelle, aber mehrere Rinderherden gibt. Das dauert noch Jahre, bis ich im Kiosk des Hauptbahnhofes Ernest Haycox entdecke, der in einer anderen Liga spielt. Der junge Vater abonniert das „Offizielle Mitteilungsblatt“ des „Verbandes für Freikörperkultur“. Alle Hefte, die ihm geschickt werden, sind mit nackten Männern, Frauen und Kindern gefüllt. Die FKKMitglieder tun so, als habe sich ihre Nacktheit rein zufällig ergeben. Wäre dem so, warum rotten sie sich aus diesem Grund zusammen?
Der junge Vater beginnt, mit der Tochter der Haushälterin auszugehen. Mein Vater merkt nichts. Die Haushälterin sagt nichts. Ich weiß Bescheid, aber nicht, wem ich was sagen soll. Offenbar sind die Spielregeln in der Stadt um einiges komplizierter als auf dem Lande gestrickt. Die beiden kippen am Wochenende auf, weil sie sich verplappern. Oder die Tochter fordert absichtlich meinen Vater und die von ihm festgelegten Regeln im Haushalt heraus. Jedenfalls hatten die Beiden gemeinsam viel Spaß. „Ist ja nichts passiert“, sagt die Tochter und lacht, während sie ihr Gesicht mit Kriegsbemalung bedeckt.
Mein Vater schickt meine Schwester und den jungen Vater ins Schlafzimmer. Sie kehren nach kurzer Zeit zurück. Sie sehen aneinander vorbei.
Mein Vater zieht sich mit dem jungen Vater ins Schlafzimmer zurück. Der junge Mann sagt in herausforderndem Ton, er habe bislang nicht erzählt, wie sehr meine Schwester dazu beigetragen habe, dass es zum Verkehr zwischen ihnen gekommen sei. Na, soll er mal erzählen? Soll er? Demnach scheint der junge Mann im Ruhrgebiet angekommen zu sein.
„Raus mit dir“, sagt mein Vater und besinnt sich später. Er gibt ihm eine Woche Zeit, eine neue Unterkunft zu finden.
Wenige Tage später kommt es zum großen Hallo. Die Tochter der Haushälterin erhält Besuch. Es ist – Überraschung, Überraschung – ihr Ehemann. Dieser hat seine zwei Kinder vorübergehend bei einer Tante zurückgelassen. Er nahm eine Arbeit als Hauer auf einer Zeche im Zentrum des Ruhrgebiets auf. Zurzeit wohnt er in einem Heim für alleinstehende Arbeiter. „Weißt du, was ein Bullenkloster ist?“ fragt die Tochter der Haushälterin mich und lacht wieder irre.
Sie zieht sich mit ihrem Mann ins Schlafzimmer zurück, um Pläne zu schmieden. Sie kommen heraus und erstatten Bericht. Sie wollen wieder zusammenziehen. Während meine Schwester auf absehbare Zeit nicht heiraten wird, ist die Hochzeit meines Vaters mit seiner Haushälterin aus Sicht der Haushälterin dringlicher geworden. Diese soll in aller Kürze stattfinden. Damit kommen die halbwegs zivilisierten Zeiten im Haushalt meines Vaters an ihr Ende.
4.
Am Vorabend der zweiten Hochzeit meines Vaters kommt die Tochter der Haushälterin mit ihrer wiedervereinten Familie herein. Sie wollen bei uns übernachten. Das ist keine Frage. Wir rücken zusammen. Bald halten die Männer eine Flasche Bier an den Hals, während die Frauen das Bier aus Gläsern trinken. Auch trinken sie seltener und nehmen einen kleineren Schluck.
Ich lerne die weiteren Kinder der Familie kennen. Der Junge und das Mädchen sitzen auf Stühlen und blicken ausdruckslos vor sich hin. Der Junge ist nur etwas kleiner als ich. Ich gehe zu ihnen und frage: „Kurmt ihr uk uutem Dörp?“ Er versteht kein Platt.
Das Enkelkind der Haushälterin kneift ihrer Stiefschwester hart in den Arm und läuft lachend davon. Die Tochter der Haushälterin hat das Vergehen beobachtet und lacht schrill darüber. Der Vater sieht hin, sagt aber nichts. Es ist unglaublich, denke ich, was Männer gewillt sind hinzunehmen, um zum Verkehr zu kommen.
Meine Schwester gesellt sich am Morgen des nächsten Tages zu uns. Sie kümmert sich um das Baby. Die Haushälterin spricht ein letztesMal zu ihr in freundlichem Ton. Kaum haben mein Vater und die Haushälterin das Standesamt betreten, da sind sie den Ehebund eingegangen. Das wird staatlicherseits so gehandhabt, als müsste man Formulare ausfüllen. Anschließend fahren wir zur Kirche, damit es etwas feierlicher wird. Mein Vater hat sich von einem anderen Kumpel ein Auto mit einem Fahrer geborgt. In der Kirche gesellt sich der Rentner zu uns, dem die Haushälterin vor dem Eintritt in unsere Familie den Haushalt geführt hat. Im letzten Moment vor der kirchlichen Trauung kommt mein Bruder mit seiner Familie in die Kirche. Er hat eine Hoferbin als Frau gewonnen und mittlerweile zwei Kinder. Von unseren sonstigen Verwandten im Kirchspiel Grotebühl wird die Hochzeit nicht zur Kenntnis genommen.
Die Zeremonien in der Kirche rauschen an mir vorbei. Ich werde wieder wach, als die Gratulanten vor dem Brautpaar Schlange stehen. Ich ordne mich ein, wie es die anderen machen. Meine Stiefmutter starrt mich an. Ihre Augen sind schwarze Punkte. Bald komme ich in die Lage, ihre Botschaft zu entschlüsseln: Es war anstrengend genug, über mehrere Jahre guten Willen zu zeigen. Das habe ich ab sofort nicht mehr nötig.
Wir sind in die Wohnung meines Vaters zurückgekehrt und warten auf das Mittagessen. Ich sitze friedlich auf einem Stuhl, als sich meine Stiefmutter an mich heranmacht. Ich solle es nicht schlecht bei ihr haben, sagt sie. Nur ab und an bekomme ich einen Klaps. Das müsse sein wie es sein müsse. Meine Stiefmutter sieht mich erwartungsvoll an. Sie erwartet, dass ich mich einverstanden erkläre. Was die Erwachsenen alles tun, um meine Kapitulation zu erwirken. Ich beginne zu lachen, hebe die Fäuste und frage sie: „Wollen wir boxen?“ Meine Stiefmutter eilt in das Schlafzimmer. Sie ruft nach meinem Vater. Alsbald beginnen die Fetzen zu fliegen. Mein Vater hält dagegen. Meine Stiefmutter erhöht ihre Tonlage. Mein Vater verstummt. Die Stiefmutter schreit weiter, weil sie richtig vermutet, dass wir uns genieren, wenn ihr Geschrei die Treppen hinunter in die Kneipe mit Dortmunder KronenBier dringt. Nach einiger Zeit eilt der Rentner ins Schlafzimmer, dem die Stiefmutter den Haushalt geführt hat. Er spricht Worte, die wir nicht verstehen können. Was soll er sagen außer: „Heute ist Hochzeit. Streitet euch ein anderes Mal.“ Das Brautpaar antwortet in gedämpftem Ton. Die Drei kommen heraus. Der Hochzeitsschmaus möge beginnen.
Während des Mittagessens tun alle, als ob nichts gewesen sei. Sie reden davon, dass meine Stiefmutter jetzt meine Mutter ist. Ich bin nicht dieser Meinung, halte aber um des lieben Friedens willen den Mund. Meine Schwester sagt auch nichts dazu. Sie kommt auch nicht dazu, „Mutter“ zu sagen, schon weil sie an diesem Tage alle Arbeiten verrichten muss. Mag sein, ihr kommen wie mir fragwürdige Begriffe nicht so leicht über die Lippen.
So weit, so schlecht, aber ich lasse es hingehen. Aber mein Bruder setzt einen drauf, indem er sagt: „Dieter, willst du nicht ,Mama’ zu deiner Mutti sagen?“ Ich will die Hochzeitsfeier wirklich nicht stören. Daher mache ich ein Kompromissangebot. „Ich könnte sie mit Frau Stiefmutter anreden“, biete ich an. Über die Hochzeitsgesellschaft senkt sich Schweigen. Dieses wird von meinem Bruder durchbrochen. Er sagt: „Das wissen wir, dass der Dieter das schwierigste unter uns Kindern ist.“ Ihm entringt sich ein Seufzer.
Er und die Stiefmutter sehen einander in freundschaftlicher Ver bundenheit an. Mein Vater wendet sich halb der Hochzeits gesellschaft, halb seiner Frau zu. Er sagt: „Wir werden Geduld mit ihm haben, nicht wahr?“ Die Stiefmutter sieht mich mit Augen aus Kieseln an. An diesem Tag sagt sie nichts mehr. Sie wird den Gong zur zweiten und den vielen folgenden Runden zwischen uns in den kommenden Tagen schlagen. Derweil macht sich mein Vater vor, dass soeben der ewige Friede bei uns eingekehrt sei. Als wäre er jemals vorhanden gewesen. Es ist nicht zu fassen, was sich die Leute in der Hoffnung, dass man miteinander auskommt, einzubilden imstande sind. Am Abend versucht mein Bruder, die angeschlagene Beziehung zu mir zu kitten. Das macht er nicht ungeschickt, weil er weiß, dass ich für Wissensfragen zu haben bin. „Was ist ein Mensch wert?“ fragt er mich. Ich sage, dass ich das nicht wisse. „Na klar, das sind 120.000 Mark“, sagt er und tut, als sähe jeder, wie dumm ich sei. So fällt er in seine alten Gewohnheiten zurück. Erst später schließe ich, dass er das durchschnittliche Lebenseinkommen eines Bundesbürgers zu gegebenen Preisen gemeint haben könnte.
Ich sehe meinen Bruder an. Die Nazis wollten einen Führer aus ihm machen. Aber er wurde nur ein Opportunist. Andererseits wäre ich womöglich milder gestimmt, wenn er nicht zu meiner Familie gehörte. Sind wir nicht alle Opportunisten und machen uns vor, dass wir keine seien?
5.
Meine Stiefmutter führt nicht systematisch Krieg gegen uns. Es ist nur, dass sie jederzeit eine Bombe zünden könnte. Das Wissen, dass sie die Stimmung in jedem Augenblick kippen lassen kann, bestimmt unser Zusammenleben. Wir versuchen, meiner Stiefmutter keinen Anlass zu geben, den Familienfrieden hochgehen zu lassen. Wir gehen auf Zehenspitzen einher. Wir sprechen uns vor, dass wir die Stiefmutter nicht provozieren werden. Wir geben nur Widerworte, wenn es anders nicht geht. Andererseits kann man nicht jeden Scheiß auf sich sitzen noch mit sich machen lassen.
Die Stiefmutter sitzt auf einem Stuhl. Ich sehe, wie sich dunkle Wolken über ihrem Kopf zusammenziehen. Jetzt dringen sie in ihr Gehirn. Noch ließe sich womöglich die heraufziehende Katastrophe abwenden, aber mir fehlen die Phantasie und die Erfahrung, um die richtigen Mittel dagegen zu finden. Wenn die Stiefmutter zu schreien beginnt, lässt sie sich für längere Zeit nicht abstellen. Ich sehe, wie sie es genießt, von anderen Parteien auf unserem Flur und ein Stockwerk tiefer verstanden zu werden. Wenn sie aufhört, sammelt sie Kraft für die nächste Auseinandersetzung.
In den Arbeiterkolonien des Ruhrgebiets hängt man einem einfachen Familienbild an. Entweder ist alles gut. Oder alles ist Scheiße. Solange man darauf besteht, dass alles in Ordnung sei, wird jede Differenz, die das harmonische Familienbild stören könnte, unter den Teppich gekehrt. Aber wenn eine rote Marke überschritten wurde, beginnt man zu schreien. Man kann nicht anders, weil man aus allen Wolken gefallen und die Enttäuschung so groß ist und man keine Möglichkeiten zur Einhegung von Auseinandersetzungen kennengelernt hat.
Während meine Stiefmutter aus Kalkül schreit, schreit mein Vater aus Hilflosigkeit und auch das nur ganz kurz. So mag er „Hure“ oder schlimmer „Schauspielerin“ rufen, bevor er ganz still wird. Meine Stiefmutter hält schreiend dagegen: „Ist es bei dem wenigen Geld, dass du mir gibst, nicht ein Wunder, dass ich jeden Tag was auf den Tisch bringe?“ Oder sie schreit: „Ich hätte etwas Besseres als dich, nämlich einen Beamten, verdient!“ Oder sie schreit: „Willst du mich umbringen, nachdem du schon eine Frau unter die Erde gebracht hast?“ Ich werde von meiner Stiefmutter nie angeschrien. Vielleicht ist das unter ihrer Würde. Oder sie sieht sich vor meinem Zorn vor. Dafür lästert sie über mich.
Zwischenzeitlich mag es Waffenstillstände, sogar längere, geben. Wir sind meiner Stiefmutter für ihre vorübergehende Friedfertigkeit derart dankbar, dass wir in Versuchung geraten, ihr alles zu geben, was sie haben will. Während die Waffen ruhen, sieht meine Stiefmutter meinen Vater herausfordernd an. Die Beiden gehen ins Schlafzimmer. Sie legen sich unterhalb des Bildes eines Engels, der seine Hand über zwei Kinder auf einer Brücke im Zusammenbruch hält. Ich will mir nicht vorstellen, wie sich die Beiden schweigend und schwitzend versöhnen.
Einmal spreche ich im Gespräch mit meiner Schwester das Problem mit unserer Stiefmutter an. Also klage ich: Sie sei nichts außer eine An häufung unberechenbarer Launen. Ganz stimme das nicht, hält meine Schwester dagegen. So hänge meine Stiefmutter an ihrer eigenen Tochter und mutmaßlich an ihrem Enkelkind. Was das Baby an ginge, fügt meine Schwester hinzu, so könne sie nicht klagen.
Das räume ich ein, dass es dem Kind meiner Schwester nicht schlecht ergeht. Die Stiefmutter behandelt es geschäftsmäßig. Sie liebt es, den Kinderwagen durch die Nachbarschaft zu schieben und zuzuschauen, wie die Nachbarsfrauen das Baby aus dem Wagen nehmen, um ihm Bussi zu geben.
„Allerdings kann man sich darauf verlassen, dass sie dich schikaniert“, wende ich ein. Wie soll meine Schwester eine Beziehung zu ihrem Ba by aufbauen, wenn sie in unserem Haushalt als Arbeitstier missbraucht wird? Meine Schwester ist für das Wochenende im Kommen. Seit Mitte der Woche türmt sich das ungewaschene Geschirr. Es wird nicht mehr geputzt. Wenn meine Schwester zu malochen begonnen hat, beginnt die Stiefmutter zu hetzen. Sie kann es nicht fassen, schimpft sie, was meine Schwester falsch gemacht hat, falsch macht und falsch machen wird. Mein Vater sitzt auf einem Stuhl und hält seine Augen geschlossen. Das war eine harte Schicht, sagt er sich. Aber glücklicherweise ist in seinem Haushalt alles in Ordnung. Bei dieser Meinung bleibt er, solange meine Schwester die Stiefmutter reden lässt und nichts dazu sagt. In diesem Punkt kann er sich auf seine Tochter verlassen.
„Wir sollten etwas unternehmen“, wage ich mich im Gespräch weiter vor. „Sie kann dich so schikanieren, weil du dich nicht wehrst. So machst du dich zum idealen Opfer.“ Aber meine Schwester ist konfliktscheu geblieben. „Es ist ja nur das Wochenende und auch das nur alle 14 Tage“, sagt sie. „Anschließend habe ich es bei meiner Bergwerks direktorin gut.“ „Du musst lernen, dir nicht alles gefallen zu lassen“, sage ich. Darauf möchte ich beharren. „Du hast es schlimmer getroffen als ich“, sagt meine Schwester. „Du musst auf Dauer mit ihr zusammenleben.“ „Mich schikaniert sie am wenigsten“, sage ich. Aller dings schwärzt meine Stiefmutter mich regelmäßig an. Meistens schweigt mein Vater, damit aus ihrem Gespräch nicht gleich wieder ein Streit wird. Einmal knickt er vor den Forderungen meiner Stiefmutter ein und beginnt mich zu schlagen. Du Tropf, denke ich, noch während er mich schlägt. Das wird dir so leidtun, dass ich dir beinahe verzeihen kann.
Ich schlafe hinter der Pappwand im Wohnzimmer. Ich ziehe mich möglichst früh vom Tage zurück, weil es hinter der Pappwand friedlicher zugeht und ich dort meine Bücher habe. Meine Stiefmutter lobt mich, weil sie mich Tag für Tag zur frühen Stunde hinter die Pappwand vertrieben hat. „Der Junge weiß, dass er viel Schlaf nötig hat“, erzählt sie den Nachbarsfrauen. „Deswegen geht er gegen halb sieben ins Bett.“ Ich lese hinter der Pappwand bis in den späten Abend und manchmal tief in die Nacht. So dumm ist meine Stiefmutter nicht, dass sie das nicht herausfände. Es regt sie auf, dass ich mich in eine Welt zurückziehe, auf die sie keinen Zugriff hat. Also greift sie an. Wir können uns den zusätzlichen Strom für die Lampe hinter der Pappwand nicht leisten, sagt sie. Ich weise ihr nach, dass der Strom für eine ganze Nacht keine zwei Pfennige kostet. „Warte, ich rechne dir das schriftlich aus“, sage ich und angele nach einem Stück Papier. Meine Stiefmutter beginnt zu schreien. Mein Vater hat das Argument mit den geringen Kosten verstanden. „Mach dich nicht lächerlich“, sagt er zu seiner Frau. Ein klares Wort wie dieses sollte öfter gesprochen werden.
Meine Stiefmutter lässt mich mit meinem Lesen in Ruhe. Dennoch ärgert sie sich. Sie meint, dass sie in den Auseinandersetzungen über mich verlorenen Boden wettmachen muss. Ich stehe am Spülstein und wasche mich. Meine Stiefmutter sitzt mit meinem Vater am Tisch. Die Wolken, die sie in ihren Kopf hineinzieht, schwärzen sich ein. Ich drehe mich um und frage: „Hast du einen weiteren Vorwand gefunden, über mich zu lästern?“ Meine Stiefmutter beginnt zu schreien. Jeden Sonntag ist meine Stiefmutter voller Anspannung. Sie wartet darauf, dass die Lottozahlen aus dem Radio kommen. Solange muss Frieden herrschen, bis die Zahlen heraus sind. Wenn sie gewonnen hat und das Geld mit vollen Händen ausgeben kann, wird alles gut. Die Stiefmutter vergleicht die Gewinnzahlen mit ihren eigenen Tipps. Sie hat wieder nicht gewonnen. Andererseits hätte sie fast gewonnen. Hier war sie nur eine Zahl und dort lediglich zwei Zahlen von der richtigen Zahl entfernt. Sie verstünde nie, was eine Wahrscheinlichkeit ist und was die Unabhängigkeit der Ereignisse beim Würfeln bedeutet. „Bist du wirklich so dumm“, frage ich sie, „dass du nicht siehst, wie weit du wirklich von einem Gewinn entfernt warst?“ Meine Stiefmutter beginnt zu schreien. Ich müsse ins Kinderheim, fordert sie. Dort werde ich lernen, wie ich mit meiner Mutter zu sprechen habe.
Gelegentlich denke ich mir einen Spaß aus und mache mich über meine Stiefmutter lustig. Allerdings muss ich aufpassen. Selbst wenn die Stiefmutter nichts merkt, die Mitglieder meiner Familie oder ein Fremder könnten mich – und sei es versehentlich – verraten.
Ein weiterer Heiliger Abend ist gekommen. Ich hasse Weihnachten. Den einen Tag im Jahr, an dem wir versuchen, zueinander freundlich zu sein, sollten wir uns um der Redlichkeit willen schenken. Diesmal bekomme ich eine Uhr überreicht. Mein Vater und meine Stiefmutter schauen mich erwartungsvoll an. Ich soll mich bedanken.
Ich durchschaue sie. Ich hätte die Uhr sowieso in wenigen Monaten bekommen. Es ist allgemein üblich, dass man zur Konfirmation mit einer Uhr bedacht wird. So haben sie Geld gespart und sich selber ein Weihnachtsgeschenk gemacht. Ich führe einen Tanz auf, als sei ich das Enkelkind meiner Stiefmutter. „Ich bin so glücklich, dass ich eine Uhr drei Monate und acht Tage vor der Zeit bekomme“, rufe ich, während ich die Uhr über meinem Kopf schwenke. „Jene Person müsste ich herzen und küssen, die solches bewirkte.“ „Das war ich“, sagt meine Stiefmutter. „Dein Vater wollte zunächst nicht.“ In diesem Augenblick glaubt sie selbst, sie habe mir Gutes getan. Ich herze sie gleichwohl nicht. Das war nur eine Metapher.
„Wir sind klüger als sie“, sage ich zu meiner Schwester. „Wie kann sie uns fertigmachen?“ „Du bildest dir zu viel auf deinen Kopf ein“, sagt meine Schwester. „Damit kannst du weniger bewirken als du denkst.“ „Aber ich habe nichts anderes“, sage ich.
Ein paar Wochen später erkenne ich, wie unser Haushalt wirklich funktioniert, besser nicht funktioniert. Abermals ist es hoch hergegangen. Ich wasche mich angeblich nicht. Oder ich wasche mich nicht richtig. Der Tag endet damit, dass die Beiden gemeinsam ins Schlafzimmer gehen. Der nächste Tag ist ein Sonntag. Wir sitzen am Frühstückstisch. Mein Vater setzt voraus, dass die ewige Harmonie bei uns eingekehrt ist. Meine Stiefmutter beginnt zu schreien. Angeblich schaue ich sie hasserfüllt an. Die Wogen schlagen noch höher als gestern. Mein Vater gibt mehr Widerworte als sonst. Was soll das, sich über Blicke zu streiten? Gehören wir zu den reichen Leuten, die sich so etwas leisten, weil sie sonst nichts zu tun haben?
Die Stiefmutter steht auf und schlägt die Tür zu unserer Wohnung hinter sich zu. Wir hören, wie sie draußen die Treppe herunterklackert. „Wir haben es überstanden“, sage ich zu meinem Vater. „Jetzt sind wir sie los. Das war eine schlimme Zeit.“ Dazu sagt mein Vater nichts. Ich habe mich geirrt. Am Nachmittag kehrt die Stiefmutter zurück. Sie hat die Familie ihrer Tochter sowie Kuchen mitgebracht. Die Tochter schneidet Grimassen für uns, um uns aufzuheitern, aber ich lache nicht mit. Wenn ich sie alle hasserfüllt ansähe, sie würden nichts merken. Mein Vater lacht um des lieben Friedens willen, obgleich er keinen der Scherze versteht und gingen sie auf seine Kosten.
Ich schaue auf meinen Vater und begreife. Mein Vater will, dass er wegen der Geschichte mit meiner Mutter bestraft wird. Er hat sich seine zweite Frau danach ausgesucht. Jetzt bekommt er, was er nach eigenem Dafürhalten verdient.
6.
Man sieht mir an, wie ich tagtäglich wachse. Bald bin ich länger als alle, die in unserer Siedlung wohnen. Die nächsten Jahrgänge werden noch länger als ich, weil keiner mehr hungert und die Akzeleration immer größere Sprünge nach oben bewirkt. Noch ein paar Jahre und ich werde lediglich als Mittelgroßer durchgehen. Aber in meiner Familie bleibe ich über Jahrzehnte der Längste.
Ich komme hungrig aus der Schule. Vor dem Essen gehe ich hinter die Pappwand, um meine Jacke abzulegen. Da entdecke ich, dass meine wenigen Bücher verschwunden sind. Ich stelle meine Stiefmutter zur Rede. Sie sagt, sie habe die Bücher entsorgt. „Die waren so was von dreckig“, sagt sie. Ehe ich mich versehe, habe ich sie am Hals. Ich drücke zu. Die Augen meiner Stiefmutter weiten sich. Sie hat Angst vor mir. Sie beginnt zu röcheln. Ich komme wieder zu mir und lasse sie los. Meine Stiefmutter wird über diesen Vorfall nicht reden, wohl weil ich alles abstreiten würde. Oder der Schreck ist ihr in die Glieder gefahren. Ich schreibe meine Bücher ab. Ohnehin habe ich sie mehrere Male gelesen. Ich habe sie alle in meinem Kopf. Ich nenne die Stiefmutter nur noch die „alte Hexe“.
7.
Ich mag weder die Tochter meiner Stiefmutter noch ihre Familie. Andererseits bleiben sie freundlich zu mir. Die Tochter lädt mich wiederholt ein. „Wir haben ein offenes Haus“, behauptet sie.
„Wenn ich das Geld für die Fahrkarten erhalte, komme ich“, sage ich schließlich. Sogar ein Abstecher zu dieser Familie wäre besser als ununterbrochen im Hause meines Vaters zu leben. „Das sollte sich machen lassen“, sagt die Tochter und wirft ihrer Mutter einen Blick zu. Meine Stiefmutter wäre gleichfalls froh, wenn sie mich für mehrere Tage aus dem Haus hätte. Ausnahmsweise verwendet sie sich für mich. Ich nehme das Geld für die Fahrt von meinem Vater entgegen und reise mit dem Dampfross ins Zentrum des Ruhrgebiets. Ich spare das Geld für den Bus und gehe an Zechen, Kokereien, Wassertürmen und Arbeitersiedlungen vorbei. Ich weiß ungefähr, wo die Familie wohnt. Gelegentlich muss ich mich durchfragen. Nach gut zwei Stunden Fußmarsch werde ich von der Tochter meiner Stiefmutter in Stoppenberg empfangen.
„Du kommst für zwei Tage?“ fragt sie. So hat sie es mit ihrer Mutter ausgemacht. Ich widerspreche nicht. Es sollte möglich sein, sich mit dem Sohn des Hauses anzufreunden, habe ich überlegt, auch wenn der Junge eine lange Leitung hat und wenig interessiert ist an allem, was mich bewegt. Kaum bin ich angekommen, da gehen wir gemeinsam nach draußen. Andere Jungen rotten sich auf der Straße zusammen und rücken gegen uns vor. Sie beschimpfen uns als „Louis“ und „Freier“. Der Sohn und ich nehmen Verteidigungspositionen ein. Einer der Jungen treibt seine Nase in mein Gesicht. „Ey du, Seeger“, sagt er. Die Tochter meiner Stiefmutter schlägt ein Fenster im zweiten Stock auf und beginnt zu schreien. Die anderen Jungen traben davon. Es ist Abend geworden. Der Sohn und die Tochter des Vaters müssen ins Bett. Danach wird die Tochter der Hausherrin eine Weile getätschelt. Als sie gleichfalls ins Bett gegangen ist, fragt mich die Herrin des Hauses, ob ich etwas trinken will. Sie wäre bereit, mir Alkohol einzuschenken. Sie sagt: „Hier geht es weniger streng als bei deinem Vater zu.“ „Nein, lass nur“, sage ich.
„Wenn du willst, kannst du dich für das Schlafengehen fertig machen“, sagt die Herrin des Hauses. „Du darfst heute Nacht mit im Ehebett schlafen.“ Ich rolle mich im Ehebett ein. Die Hausherrin kommt im Nachthemd dazu und legt sich ins Bett. Sie stützt ihren Kopf auf das Kissen und macht Scherze mit mir. Wenn ich nicht laut genug lache, kitzelt sie mich. „Hey, hey“, sagt sie. „Hast du schon mit einer richtigen Frau im Bett gelegen?“ In meinem Unterleib beginnt sich etwas zu regen.
Die Arbeit auf der Zeche ist in eine Morgen, Mittags und Nachtschicht unterteilt. Die Schichten wechseln für die Arbeiter im wöchentlichen Rhythmus. Für den Hausherrn war gerade Schichtwechsel angesagt. Er ist aus der Mittagsschicht gekommen und wechselt am nächsten Tag in die Nachtschicht. Wir alle schlafen bis tief in die Puppen. Nach dem Frühstück fragt der Sohn, ob wir eine Tour machen wollen. Warum nicht, sage ich. Ich lerne einen kürzeren Weg in die Innenstadt kennen. Das lässt sich in einer guten Stunde schaffen.
Wir drücken uns die Nasen an den Schaufenstern der Kettwiger Straße platt. Essen will etwas Besonderes sein. Die Stadt ist es nach der Zahl ihrer Einwohner. Sie nennt sich die Einkaufsstadt und wirbt mit ihren Umsätzen pro Quadratmeter auf der Hauptgeschäftsstraße. Allerdings ziehen die kleineren Nachbarstädte ihre Innenstädte hoch. Bald werden sie eine City haben, von denen die eine wie die andere ist. Aber zusammengenommen schädigen sie die Geschäfte der Einzelhändler in dieser Stadt. Das begünstigt die Verdrängung der einheimischen Kaufleute durch die Filialen bundesweiter Ketten und erleichtert die stadtübergreifende Standardisierung des Angebots. Wir sind nach Hause zurückgekehrt. Ich merke gleich, dass alle gespannt sind. Die Herrin des Hauses fragt den Sohn beiläufig. Dieser antwortet. Entweder er hat etwas getan oder unterlassen. Ich ver stehe nichts. Wahrscheinlich ist der Anlass belanglos, außer dass es einen Vorwand geben muss. Die Herrin des Hauses sieht ihren Mann erwartungsvoll an. „Nun, nun“, sagt sie. Ihr Mann zieht betont langsam den Gürtel aus seiner Hose. Er lächelt dünn, als sei er in Gedanken versunken. Der Mann beginnt, auf seinen Sohn einzuschlagen. Dieser krümmt sich auf den Boden und stößt Schreie aus. Ich wende mich ab. Als der Vater den Gürtel zurück in die Hose schiebt, wirft er seiner Frau einen Blick zu. Sie schnurrt wie die Katze, die sich einen Gefallen getan hat. Sogar der Sohn des Hauses scheint zufrieden zu sein. Er war ohnehin fällig. Jetzt steht die nächste Tracht Prügel erst in mehreren Tagen an. Nachdem das Gleichgewicht in der Familie wiederhergestellt ist, sind alle noch freundlicher zu mir. Ich enttäusche sie nicht und halte mich aus allem heraus.
Auf der Zeche war Zahltag. Was machen die Mitglieder einer Familie, die im südlichsten Zipfel des Königsreiches Hannover von der Luft und der Liebe zu leben versucht haben, wenn der Herr des Hauses derart viel Geld ins Haus gebracht hat? Nein, sie ballern das Geld nicht aus dem Fenster. Sie besuchen die Kaczmareks.
Die Herrin des Hauses schaut auf die Uhr. „Wir müssen uns beeilen“, sagt sie. „Sonst sind sie weg.“ Wir haben Glück und treffen das Ehepaar Kaczmarek an. Allerdings befindet es sich im Aufbruch. Da gerade Geld in die Bude gekommen ist, beratschlagen die Eheleute, wo sie einkaufen sollen. Die Geschäfte sind mit Bedacht auszuwählen. Denn wenn sie das falsche Geschäft aufsuchen, sollen die Kaczmareks dort ihre Schulden bezahlen und haben nichts von dem schönen Geld.
„Wir helfen euch, das mit durchzuziehen“, sagt die Tochter meiner Stiefmutter und tut, als spanne sie ihren Bizeps. Sie stößt ihren Mann an. „Auf uns könnt ihr euch verlassen“, sagt der und zeigt, dass er es ist, der die richtigen Muckis hat. „Ihr seid mehr als lieb“, sagt Hilde Kaczmarek.
Die Kaczmareks handeln zu Beginn ihres Einkaufsbummels vernunftbezogen und schaffen erst einmal Lebensmittel an. Aber anschließend wird Killefitt bei Woolworth gekauft. Die Tochter meiner Stiefmutter dreht Schmuck in den Händen. „Findest du ihn schön?“ fragt sie und hebt einen Armreifen. „Nimm ihn schon mit“, sagt Hilde Kaczmarek. Der letzte Rest des Geldes wird für Flaschenbier ausgegeben.
„Kommt ihr mit?“ fragt Kaczmarek, der Mann. „Wir müssen den Langen hier in den Bus nach Hause setzen“, sagt die Tochter meiner Stiefmutter und beginnt, mich zu kitzeln. „Vielleicht kommen wir später.“ Nach Hause zurückgekehrt stimmen wir ein Gelächter an. Die Kaczmareks sind so was von blöd. Freilich haben sie uns reichlich beschenkt. „Wenn wir gleich mitgegangen wären, hätten sie ihren Krempel womöglich wiederhaben wollen“, sagt die Herrin des Hauses. Die Tochter meiner Stiefmutter hakt sich bei ihrem Mann ein und macht sich mit ihm auf den Weg. Ich stolpere hinterher. Sie bringen mich zum Bus. Diesmal habe ich keine Chance, das Geld einzusparen und zu Fuß zum Bahnhof zu gehen und mir mit dem eingesparten Geld ein Taschenbuch zu kaufen. „Das war richtig schön, nicht wahr?“ fragt sie, als der Bus vor unserer Haltestelle bremst. „Dir hat es gleichfalls gefallen, hoffe ich“, sage ich.
Ich besuche diese Familie noch einmal und dann niemals wieder.
8.
Die Tochter meiner Stiefmutter hat ein Telegramm geschickt. Es gibt zwar Telefonzellen und wenige private Telefonanschlüsse. Aber sie hätte allenfalls die Kneipe mit Dortmunder KronenBier anrufen können, und der Wirt geht ungern die Treppen herauf. Der Schwiegersohn meiner Stiefmutter ist bei einem Unfall unter Tage ums Leben gekommen.
Wir fahren zur Beerdigung. Mein Vater hat sich einen schwarzen An zug gekauft. Wir paradieren vor dem offenen Sarg. War das überhaupt richtig, dass der Mann in den Pütt gegangen ist? Die junge Witwe wirft sich über den geöffneten Sarg. Während der Zeremonien beginnt sie zu kreischen. Eigentlich machen wir sowas im Ruhrgebiet nicht. Wir nehmen hin, was uns widerfährt, aber keiner wagt, der Witwe in ihrem Schmerz Einhalt zu gebieten. Ich halte das, was sie abzieht, für eine Schau und bin peinlich berührt.
Die Tochter meiner Stiefmutter ist bei uns eingekehrt. Anders als man auf dem Lande erwarten würde, trägt sie kein Schwarz. Ich werde auf die Straße geschickt, weil sie sich mit ihrer Mutter zu einem Gespräch unter Frauen zurückziehen möchte. Als ich in die Wohnung zurückkehre, verabschiedet sich die Tochter gerade. Ich soll sie besuchen, sagt sie. Sie hat Dringlichkeit in ihre Stimme gelegt.
Ein vorläufig letztes Mal fahre ich ins Zentrum des Ruhrgebiets. Mittlerweile bin ich Lehrling geworden. Mein Vater hat mich in den Ernst des Lebens mit den Worten entlassen, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind. Ich verdiene selbst etwas Geld, auch wenn ich die Hälfte davon zu Hause abgeben muss. Diesmal hat mir keiner Geld für die Fahrkarte gegeben.
Als ich in die Wohnung der Tochter meiner Stiefmutter komme, herrscht Remmidemmi. Die Tochter hat einen neuen Liebhaber und Finanzier gefunden. Es handelt sich um den ehemaligen Sohn des Hauses. Dieser geht mit selbstzufriedenem Lächeln einher. Er ist stolz, sich mit einer erwachsenen Frau zeigen zu können, und glaubt, jetzt sei er ein richtiger Mann.
Ich verstehe das Kalkül der Tochter meiner Stiefmutter. Ihr Ehemann war nur wenige Jahre auf dem Pütt. Das gibt auf die Dauer ein Kohledeputat, aber wenig Kohle. Also muss sie sich nach zusätzlichen Einkommensquellen umschauen. Für sie stellt der Sohn des Hauses die beste mindestens die erstbeste Gelegenheit dar. Dieser geht auf ihr Betreiben in den Pütt. Auf der Zeche wird vom ersten Ta ge an richtiges Geld verdient.
Am Abend ziehen wir zu dritt durch das Essener Nachtleben. Ich halte mich beim Alkohol lieber zurück. „Schon mal Puschkin mit Pflaume getrunken?“ fragt die Tochter meiner Stiefmutter und nickt ihrem Begleiter zu. Der Junge bestellt mit dümmlichem Grinsen. „Werd` bloß nicht so langweilig wie dein Vater“, sagt die Tochter zu mir. „Keine Sorge“, sage ich. „Ich habe da ernste Bedenken“, sagt die Tochter.