6. KAPITEL 1954 ff.

 

          Der Untergang des proletarischen Ruhrgebiets

 

Um die Schule zu erreichen, müssen die meisten von uns den Ruhrschnellweg überqueren. Der ist die B1, die später zur A40 aufgewertet wird. Schon jetzt trägt sie den Verkehr einer Autobahn. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es immer mehr Kraftfahrzeuge. Es existiert kaum ein Ort im Ruhrgebiet, wo man keine Schnellstraße hört. Eine regionale Wirtschaftsförderung gäbe das als Standortvorteil aus, würde sie bereits existieren. Unsere Eltern durchträumen ihre Nächte mit Käfern. In den Schulpausen spielen wir mit Karten, die Autotypen charakterisieren. Darunter befinden sich solche, die fast nur in anderen Ländern fahren, beispielsweise die amerikanischen Schlitten.

 

 

Meine Mitschüler zeigen Interesse an Literatur, auch wenn wir imUnterricht nur den „Schimmelreiter“ lesen. Sie tauschen ComicHefte aus. Akim turnt ähnlich wie Tarzan durch den Wald und spricht mit den Affen. Fulgor reist mit seinem Raumschiff in ferne Galaxien und rettet die Menschheit vor anderen Spezies. Beide Helden haben sich in beinahe jedem Bild mit ihren Feinden auseinanderzusetzen und rufen dazu: „Whamm“ und „Buff“. Wenn eine Geschichte nur auf Aktion eingestellt wird, wird sie zum Opfer.

 

 

Mittlerweile hat sich mein Gehirn anders verdrahtet, weil ich viel gelesen habe. Ich bin auf dem besten Wege, ein Mensch mit zwei linken Händen und dafür ein Halbgebildeter zu werden. Später lerne ich andere Autodidakten kennen, die den Zug der Bildungsrevolution verpasst haben, weil sie zu früh zu alt geworden sind. Ich treffe sie vorzugsweise an der Theke in einer der unzähligen Kneipen des Ruhrgebiets. Da hocken sie und finden das richtige Wort nicht, mit wem sie auch sprechen. Eigentlich müssten sie, das wissen sie, von einer überragenden Position aus die Welt dirigieren. Sie fassen es nicht, dass keiner für sie eine gute Verwendung hat, obgleich sie mehr als alle anderen wissen.

 

 

Clemens Tomaschek hat dem Freund seiner Mutter Fotografien mit nackten Frauen gestohlen und zeigt sie herum. Anders als die Menschen in der Freikörperkultur posieren die Frauen. Sie bieten sich über ihre Nacktheit als Ware an. Am nächsten Tag hat Clemens dem Freund weitere Bilder gestohlen. Diese zeigen Pärchen im Geschlechts verkehr.

 

 

Die Ruhrgebietsbevölkerung ist ähnlich bildungsfeindlich wie die Leute in Grotebühl. Allerdings tut sie ihre Feindseligkeit auf andere Weisen kund. So lässt sich nicht als Geisteskrankheit abtun, wenn einer Steiger im Bergbau oder Meister auf der Hütte geworden ist, nachdem er überaus lange dafür gelernt hat. Aber noch höher hinauswollen oder einen Beruf ergreifen, den keiner kennt? Jetzt sehen einen alle misstrauisch an. Sie sagen: „Ey du, willst du etwas Besseres sein?“ Als ich aus dem Kirchspiel Grotebühl ins Ruhrgebiet komme, belustigen sich die Kinder, dass ich mir die hochdeutschen Worte zusammensuchen muss. So rasch wie möglich eigne ich mir meine erste Fremdsprache an. Als ich im Hochdeutschen schneller geworden bin, lachen die Kinder weiter, weil sie meinen norddeutschen Dialekt komisch finden. „Findet ihr das besser, wenn Ihr im Zuhälterjargon sprecht?“ frage ich zurück.

 

 

Schüler haben sich auf dem Pausenhof um mich versammelt. Sie wollen wissen, woher ich gekommen sei. Ich gebe an, dass ich wie sie in einer der Siedlungen rund um unsere Zeche geboren bin. Ich merke, dass sie etwas über meine Mutter gehört haben. Eher würde ich jeden von ihnen verprügeln als darüber reden. Die Jungen belustigen sich. Was, ich will sie verprügeln? Gleichwohl lassen sie von mir ab, zumal ich mich von allem, was sie sonst sagen, wenig beeindruckt zeige. Neun von zehn Kindern in meiner Klasse sind ethnische Polen. Zwischen Polen und Deutschen unterscheiden wir nicht. Die Polacken fühlen sich als Deutsche, auch wenn die Oma nur Polnisch spricht. Im Krieg hat keiner den Polen etwas getan, erzählt mein Vater, weil wir sie für die Kohleförderung brauchten. In den 80er Jahren werde ich die Tagesschau kaum abwarten können. Die Arbeiter in Danzig haben die Werft besetzt. Ich sehe mir die Männer aus der Solidarność an und erkenne sie wieder. Sie haben keine Chance, aber sie nutzen sie. Ich hüpfe auf und ab und rufe: „Das sind meine Freunde!“

 

Im Ruhrgebiet hat jedes Schuljahr eine eigene Klasse. Statt eines Lehrers haben wir drei oder vier. Wir nennen unseren Klassenlehrer, der mehrere Fächer bei uns unterrichtet, Flup. Zwar wissen wir nicht, was dieser Spitzname soll, aber wir finden ihn lustig. Als die Klingel das Ende der Unterrichtsstunde verkündet, gebietet Flup uns zu bleiben. Er erklärt uns, dass man seinem Klassenlehrer mit Respekt zu begegnen hat. Er beordert Clemens Tomaschek nach vorn. Er legt ihn über eine Schulbank, zieht ihm die Hose herunter und beginnt, mit dem Riemen auf den nackten Hintern zu peitschen. Während Flup aus Leibeskräften zuschlägt, verbeißt sich Clemens den Schrei.

 

 

Dazu ruft Flup: „Ich werde dich lehren, mich Flup zu nennen.“ Clemens Tomaschek sagt nichts, nachdem er ausgepeitscht worden ist. Wir gehen nach Hause. Wir klopfen Clemens auf die Schulter und bedauern, dass er Pech gehabt hat. Es hätte jeden von uns treffen können. Es sei denn, es gäbe im Ruhrgebiet Eltern, die sich bei der Schulbehörde über die Misshandlung ihres Kindes beschwerten. Von einem Augenblick auf den nächsten hörte der Spuk auf, den unsere Lehrer mit uns veranstalten.

 

 

Wenige Tage später fahre ich aus meinem Dämmerzustand während des Unterrichts hoch. Flup nimmt die Französische Revolution durch. Die hat mich schon auf dem Land interessiert. So sehr ich aufpasse, Flup erzählt lediglich drei Dinge: In der Französischen Revolution wird der König enthauptet. Die entscheidenden Männer der Revolution sind Marat, Danton und Robbespiere. Die drei wählen Napoleon zum französischen Kaiser. In der folgenden Woche wird eine Arbeit geschrieben. Uns werden zur Französischen Revolution drei Fragen gestellt: Wer wird umgebracht? Wer sind die entscheidenden Männer? Was sind die Folgen der Revolution?

 

 

Es gibt einen bedeutenden Unterschied zwischen den Gemeinden am Moor und meiner Arbeitersiedlung: Fast alle Schüler sind im Unterricht weit unterfordert. Die Bildungsreserven im Ruhrgebiet, sie hat es gegeben. Ich habe mitten unter ihnen geweilt. Noch ein paar Monate und wir werden unsere Potenziale auf immer vergraben. So gesehen sind wir eine verlorene Generation. Man sollte uns in Trauer darüber, was wir hätten leisten können, ein Denkmal setzen, auch wenn es nicht gleich ein Reiterstandbild sein muss. Eine schwarze Platte mit eingravierten Namen oder ein mündliches Bedauern, was man uns versagt hat, täte es auch.

 

 

2.

 

In meiner Schule hat jedes Schuljahr eine eigene Klasse. Aber kurz bevor mein letztes Schuljahr beginnt, werden mehrere Schuljahre zu einer Klasse zusammengelegt. Solches hat die Katholische Kirche und in ihrem Schlepptau die Katholische Arbeiterbewegung bewirkt. Ein letztes Mal, bevor sie zu einer Hilfstruppe für die Sozialdemokratie degeneriert, zeigt die Katholische Arbeiterbewegung ihre Macht. So wie bei uns geht es im gesamten Ruhrgebiet zu. Meine Volksschule besteht aus zwei Schulgebäuden. Die eine wird zu einer katholischen Bekenntnisschule umorganisiert. Die andere bleibt eine Gemein­ schafts schule und weiter für alle Bekenntnisse geöffnet. In unserer Arbeitersiedlung gibt es viele Freidenker. Diese werden nicht von der Schulstatistik erfasst. Noch gibt es für sie eine besondere Schule. Als Leser der Ruhr Nachrichten fällt mir die Frage ein, warum die Protestanten und Katholiken in einer Partei regieren und solches als großen politischen Erfolg feiern, während ihre Kinder getrennte Schulen besuchen. Auch in den Betrieben werden die Arbeiter nicht nach ihren Bekenntnissen getrennt.

 

 

Ich bin mit Michael Petershagen befreundet. Diese Freundschaft hält eine Weile, obgleich er die Katholische Bekenntnisschule besucht und wir uns neuerdings seltener sehen. Petershagen ist Fähnleinführer in der Katholischen Pfadfinderschaft. Als solcher muss er täglich eine gute Tat vollbringen. Ich frage, wie er dieser Verpflichtung Tag für Tag gerecht werden könne. Das sei kein Problem, sagt er, da er selbst bestimme, was eine gute Tat sei.

 

 

Als Fähnleinführer ist Petershagen geistig und geistlich in den Bahnen interessiert, die ihm die Katholische Kirche vorgegeben hat. Auf meine Frage nach dem Sinn der Bekenntnisschule zuckt er die Achseln. Diese Frage wird seitens der Katholischen Arbeiterbewegung nicht mehr zugelassen, nachdem in den Kolpinghäusern beschlossen wurde, was der Kaplan zuvor seiner Herde gesagt hat.

 

 

Was hat sich in der Bekenntnisschule im Vergleich zum Lernen in der Gemeinschaftsschule verändert? Michael Petershagen weiß es nicht. Ich frage andere katholische Schüler, die ich aus meiner ehemaligen Klasse kenne. Sie wissen es auch nicht. Noch finde ich in den Ruhr Nachrichten eine Erklärung, wie sich der Unterricht in Gemeinschafts­ und Bekenntnisschule unterscheidet. Wenn ein Kind in der Bekenntnisschule nicht einmal katholisch indoktriniert werden soll, welchen Sinn könnte dann eine Bekenntnisschule haben? Nicht, dass die Schulreform überhaupt keine Wirkungen zeitigte. „Für mich hat die Einführung der katholischen Bekenntnisschule zu einem Zusammenlegen zweier Klassen geführt“, sage ich. Es ist angenehmer für mich, jüngere Schüler in der Klasse zu haben. Auf einmal bin ich nicht mehr der Kleinste.

 

 

Petershagen hat sich um die Katholische Pfadfinderschaft so verdient gemacht, dass ihn die Oberen mit einer Wallfahrt in die Vatikanstadt belohnen. Sie haben den Fähnleinführern gesagt, dass es nichts Höheres gibt als den Papst beim Zelebrieren einer Messe zuzusehen. Nach dem Gottesdienst im Petersdom nimmt Petershagen an einem internationalen Treffen der Fähnleinführer in einem verschwiegenen Kloster in Norditalien teil. Die deutschen Fähnleinführer diskutieren mit ihren italienischen Kollegen bis zum Morgengrauen. Dann nehmen die Italiener mit den Worten „Ihr seid die reinsten Protestanten“ Abschied. „Warum das?“ frage ich zurück. „Die Italiener wollten nicht diskutieren, sondern nur beten und singen“, sagt Petershagen, „und anschließend ins nächste Dorf zu einer Weinverkostung gehen.“ Kritiker der katholischen Bekenntnisschulen behaupten, diese stellten eine pädagogische Verschlechterung dar, da sich in ihnen weniger differenzierend auf die Lernbedarfe der einzelnen Schüler eingehen ließe. In diesem Punkt springe ich Petershagen bei. Das könne nicht stimmen, antworte ich den Kritikern, da wir in der Schule sowieso nichts lernen würden.

 

 

Später behaupten die Feinde der Katholischen Arbeiterbewegung, alles Heil der Schule liege in der Reform ihrer Organisation. Diesen Glau ben haben sie von den Katholiken und ihrer seinerzeitigen Kampagne für die Bekenntnisschule übernommen. Bis heute halten die Feinde des politischen Katholizismus am Glauben fest, dass an der Schule organisatorisch alles verändert werden müsse und quälen uns weiter mit ihren Reformen. Ich bitte katholische Kinder, mich zu einem Gottesdienst mitzunehmen. Warum nicht, sagen sie. Sie freuen sich, dass mich ihr Treiben interessiert. Die katholische Kirche ist innen eine Spur prächtiger als unsere. Wir müssen häufiger aufstehen und zurück auf die Knie sinken. Manchmal wird geklingelt, damit jeder Gottesdienstbesucher merkt, dass er jetzt aufpassen muss. Die Messe ist länger als ich von evangelischen Gottesdiensten gewohnt bin. Ich habe alles so wie meine Freunde gemacht. Dennoch lachen sie mich nach dem Ende des Gottesdienstes aus. „Du hast mit der linken Hand das Kreuz geschlagen“, sagen sie. „Ich bin Linkshänder“, verteidige ich mich. „Schreibst du vielleicht mit der bösen Hand?“ halten die Kinder dagegen. „Das hat man mir im ersten Schuljahr abgewöhnt“, erinnere ich mich.

 

 

Nach der Messe parliert der Kaplan vor dem Kirchenausgang mit den Meinungsführern in seinem Beritt. Das Ratsmitglied aus unserer Arbeitersiedlung heißt Benedikt Ramczowski. Er fällt durch schneeweiße lockige Haare auf. Ramczowski neigt im Gespräch den Kopf, als bitte er für seine Politik um Gottes Hilfe. Oder Gott möge ihm seine Kungeleien mit den Gottlosen in Hinterzimmern verzeihen. Petershagen nimmt mich zu einer Verlobungsfeier eines stockkatholischen Paares mit. An diesem Tag wird ausschließlich über den Klerus gewitzelt. „Ist das bei euch genauso?“ fragt mich mein Freund. „Bei uns regt sich keiner über einen Pfarrer auf“, sage ich. „Es lohnt sich nicht, über ihn zu lachen.“

 

 

Bei den Katholiken ist Violett eine heilige Farbe. „Was ist eure Farbe?“ fragt Petershagen. Ich sage, dass es so etwas bei uns nicht gibt. „Das geht nicht“, sagt Petershagen. „Wenn wir eine Farbe haben, müsst ihr auch eine Farbe haben. Eure Farbe ist Blau.“ „Das scheint mir mehr zu einer Kneipe zu passen“, sage ich.

 

 

Gibt es weitere Unterschiede zwischen den Kirchen? Damit meine ich solche inhaltlicher Art. „Du stellst seltsame Fragen“, sagen die Kinder, als wir auf dem Rückweg vom Konfirmandenunterricht sind. „Wenn sich der Kaplan auf eine Predigt vorbereitet, müssten ihm die Unterschiede zwischen den Konfessionen bekannt sein“, überlege ich. Die Kinder staunen. „Lasst ihn“, verteidigt mich Petershagen vor den anderen Kindern. „Er kann nicht anders. Ihr wisst doch, dass der Dieter zu viel gelesen hat.“

 

 

3.

 

Ich erörtere mit Petershagen die politische Berichterstattung der Ruhr Nachrichten. Eigentlich gibt es diese Berichterstattung nicht, weil sich im Ruhrgebiet nichts Politisches ereignet. Nach wie vor befindet sich mein Freund mit seinen Meinungen auf der richtigen Seite, der des Kaplans. Die Katholische Arbeiterbewegung ist eine der politischen Säulen des Ruhrgebiets. In der Politik geht es nicht um politische Inhalte, sondern darum, ob man sich zu der eigenen Säule, hier zum politischen Katholizismus, bekennt.

 

 

Sobald man weiß, auf welche Seite man sich ein Leben lang zu schlagen hat, gehört man dazu und befindet sich unter anständigen Leuten. Und die andere Seite, hake ich im Gespräch mit Petershagen nach. Besteht sie nicht aus anständigen Menschen? Michael Petershagen wiegt den Kopf. „Sagen wir mal so“, sagt er. „Mit denen wollen wir lieber nichts zu tun haben.“

 

 

Solches hat zur Folge, dass eine Politik für das Ruhrgebiet auf örtlicher Ebene nicht vorhanden ist. Die Kraft der Katholischen Arbeiterbewegung zeigt sich nicht in ihrem politischen Handeln. Diese gibt es nicht, sieht man von ihrem Kampf um die Bekenntnisschule ab. Vielmehr zelebriert sich die Katholische Arbeiterbewegung an be stimm ten Tagen im Jahr als eine solche. Wenn eine Prozession ansteht, sind die Straßen der Arbeitersiedlungen schwarz von den vielen Menschen. Irgendwann formieren sie sich zu einer Reihe und gehen hinter der Monstranz her.

 

 

Glücklicherweise schadet der Verzicht der Katholischen Arbeiterbewegung auf politische Inhalte nicht. Alle Entscheidungen über un­ sere Region werden außerhalb des Ruhrgebiets gefällt.

 

 

Während die Katholische Arbeiterbewegung mit der Einführung der Bekenntnisschule ihre aktuelle politische Kraft gezeigt hat, nimmt diese in Wahrheit von Jahr zu Jahr ab. Zwar nehmen die aggressiven Freigeister weniger zu, aber dafür erweitert sich das Meer der Gleichgültigen. Als ich in der Messe weile, sehe ich überall Großmütter sitzen. Was soll aus der Kirche werden, sobald sie gestorben sind? Die Katholische Arbeiterbewegung wollte sich seinerzeit, um die Bek enntnisschule durchzusetzen, auf Unterschriftensammlungen an den Ausgängen der Kirchen beschränken. Dabei kamen zu wenige Unterschriften herein. Daher musste über Besuche der Pfarrer in den Familien nachgesteuert werden.

 

 

Der Kaplan lernt die Grenzen seiner schwindenden Macht kennen, als er Iris Bramkamp auf der ersten Etage unseres Hauses besucht. Iris hat sich beim Tanztee im Hotel Specht einen Mann angelacht. Die Eltern fragen nach der Konfession des Mannes. Iris weiß es nicht. Sie haben beim Tanzen über andere Dinge gesprochen oder sich nur in die Augen geschaut. Iris holt die Frage ihrer Eltern beim nächsten Rendezvous nach. Der Mann ist Protestant. Wenigstens ist er kein Sozialist, meint der Vater. Die Mutter fragt: „Hat es Zweck, deinen Freund zu Kaffee und Kuchen einzuladen?“ Das ist eine Frage für das nächste Treffen beim Tanztee.

 

Nachdem der junge Mann vom Tisch mit Kaffee und Kuchen aufgestanden ist und sich artig verabschiedet hat, sagt die Mutter. „Das ist ein anständiger Mann, auf den sich unsere Iris verlassen können wird. Das ist mir wichtiger als die Frage, ob er Katholik ist.“ Als der junge Mann Iris Bramkamp rote Rosen schenkt, schmilzt sie dahin. Aber als das Aufgebot bestellt werden soll, macht der Kaplan einen Hausbesuch. Er sagt: „Muss das sein, Iris? Gibt es keine netten katholischen Männer?“ „Da halten Sie sich besser heraus, Herr Kaplan“, sagt Iris Bramkamp. „Sie kümmern sich bitte um die Zeremonien.“ So hätte früher niemand mit dem Kaplan zu reden gewagt. Auch in den anderen Häusern unserer Siedlung nehmen die Mischehen zu.

 

 

Ausgerechnet Michael Petershagen hat zu Beginn seines siebenten Schuljahres, als er sich noch in der Gemeinschaftsschule befindet, ein Erweckungserlebnis. Er droht, sich aus Paulus in einen Saulus zu wandeln. Als Fähnleinführer der katholischen Pfadfinderschaft schlägt ihm das Gewissen. Er sucht den Kaplan auf, um ein Geständnis abzulegen. Dies geschieht außerhalb des Beichtstuhls und in trutzigem Ton.

 

 

„Gott ist tot“, sagt er. „Religion ist Opium für das Volk. Die Wissenschaft möge uns leiten.“ „So, so“, sagt der Kaplan. „Was sagt die Wis sen schaft denn, wenn sie in deiner Volksschule auftritt?“ „Die Pro duktivkräfte entwickeln sich weiter“, sagt Michael Petershagen. „Die Produktionsverhältnisse wälzen sich um. Das führt mit eherner Notwendigkeit in die sozialistische Gesellschaft.“ „Das ist auch nur ein Glaube“, sagt der Kaplan. „Der einzige Unterschied zu dem unsrigen besteht darin, dass es sich um einen Irrglauben handelt.“ „Mit Hilfe der Dialektik lässt sich jedes Ergebnis beweisen, das politisch notwendig ist“, sagt Michael Petershagen. „Andererseits sollte man darauf achten, dass die Wahrheit konkret ist.“

 

 

Petershagen ist zu tief in der Katholischen Kirche verwurzelt, als dass er mit ihr brechen könnte. Nach wenigen Monaten hat er noch ein Erweckungserlebnis. „Ich wachte morgens auf und meine Zweifel waren verflogen“, erzählt er mir. „Ich hatte mir meinen Glauben zurückgeholt.“

 

 

Michael Petershagen hat mich nach der Prozession zur Versammlung ins Kolpinghaus mitgenommen. Es gibt Kaffee, Streuselkuchen und ein gemeinsames Gebet mit dem Kaplan. Benedikt Ramczowki, der in Kürze auf der Zeche als Betriebs­ und in der Kommunalpolitik als Gemeinderat wiedergewählt werden möchte, geht von einem Tisch zum anderen und schüttelt die Hände.

 

 

Als er an unseren Tisch kommt, wirft er einen Blick auf mich. „Wen haben wir da?“ fragt er, der sonst jeden beim Namen kennt und benennt. „Das ist einer von den Blauen“, sagt Petershagen. „Ich habe ihn eingeschmuggelt.“ „Hauptsache, er ist kein Gottloser“, sagt Benedikt Ramczowski und fragt mich: „Was hältst du von uns?“ „Nun ja“, sage ich, aber Ramczowski hat die Antwort schneller parat als ich: „Wir mögen dogmatischer sein als die Blauen. Aber dafür sind wir kerniger.“ „Ich glaube auch, dass die Katholiken uns überlegen sind“, sage ich, der ich von der Arbeiterbibliothek auf unserer Zeche indoktriniert worden bin. „Wenn schon Irrationalismus, dann richtig.“ Aber Ramczowski ist zu einem anderen Tisch gezogen und schüttelt dort Hände.

 

 

Die Protestanten sind politisch so desorganisiert, dass sie sich allenfalls bei den Katholiken und nach einigen Umbrüchen bei den Sozialdemokraten anbiedern können. Statt um Thron und Altar geht es jetzt um Gerechtigkeit. Aber im Grunde wissen sie nicht, was sie wollen, außer dass man in allen Belangen freundlich zueinander ist. Als unser Presbyterium einen neuen Pastor zu bestimmen hat, wählt es einen Mann, der erwiesenermaßen inkompetent ist. Aber dieser Mann ist auch sensibel. Was wäre aus ihm geworden, hätte man ihn persönlich gekränkt? Hat uns Jesus nicht gesagt, dass wir jene, die keine Überflieger sind, liebhaben sollen?

 

 

In der katholischen Kirche nimmt die Zahl die Jugendlichen zu, die sie als Renegaten verlassen. Ein Leben lang blicken sie im Zorn auf ihre Zeit in der Katholischen Kirche und den dort ausgeübten Druck zurück und versorgen ihr Umfeld mit einer entgegengesetzten Dogmatik. Den meisten evangelischen Jugendlichen kommt ihre eigene Kirche kaum in den Sinn. Wir protestantischen Schüler nehmen zwei Jahre lang zweimal in der Woche am Konfirmandenunterricht teil. Nach jeder Stunde haben wir weitere Lieder, Psalmen und Sprüche zu lernen. Bald habe ich das halbe Gesangbuch im Kopf, ohne dass einmal erörtert wurde, was die Lieder bedeuten. Nachdem ich mehrere Male versucht habe, dem Pfarrer im Unterricht zuzuhören, gebe ich auf. Wir sollen jeden Sonntag den Kindergottesdienst besuchen. Die Teilnahme wird durch einen Stempel beglaubigt, auf dem der Teil eines Bibelspruches steht. Wenn wir mehrere Gottesdienste nacheinander besucht haben, steht auf unserer Quittung ein vollständiger Bibelspruch.

 

Clemens Tomaschek sollte eigentlich nicht zum Konfirmandenunterricht angemeldet werden, weil sein Vater ein sozialistischer Freigeist ist. Andererseits will der Vater keinen Krach mit seiner Frau, und die hängt an den alten Formen. So wird der Junge doch angemeldet. Aber Clemens wahrt das Vermächtnis seines Vaters, indem er sich in jeder Stunde unter die Unruhestifter mischt. Am Ende wird er vom Konfirmandenunterricht ausgeschlossen. Kurz vor unserer Konfirmation sucht unser Pfarrer die Familie auf und schlägt vor, Clemens zurück in den Unterricht zu schicken. Vater To maschek öffnet den Verschluss der Bierflasche mit dem Daumen und trinkt. Er sagt: „Wenn der Clemens nicht will, muss er nicht. Da muss ich mich ausnahmsweise gegen meine Frau durchsetzen.“ „Wollen Sie es sich noch einmal überlegen?“ fragt der Pfarrer. „Wir können den Clemens ja fragen“, sagt Vater Tomaschek und ruft ihn. Der tickt den Ball auf, während er dem Pfarrer sagt: „Ich weiß ehrlich nicht, was ich bei Ihnen soll.“

 

 

Wir haben eine weitere Konfirmandenstunde überstanden und befinden uns auf dem Nachhauseweg. Vorsichtshalber beginne ich mit einem Bekenntnis zur Meinung meiner Freunde, indem ich sage: „Ich kann so wenig wie ihr unseren Pfarrer ab“, nur um fortzufahren: „Dennoch stellt er interessante Fragen.“ „Was könnte das sein?“ fragt ein Mitkonfirmand. Ich frage: „Glaubt ihr, dass es einen Gott gibt?“ Die anderen Kinder brechen in Gelächter aus. „Du bist vielleicht ein seltsamer Heiliger“, sagen sie. Damit meinen sie, dass ihnen meine Frage am Arsch vorbeigeht.

 

 

Vor unserer Konfirmation werden wir in Anwesenheit unserer Eltern auf unser christliches Wissen geprüft. Wir wissen, dass es sich um eine Pseudo­Prüfung handelt, da von vornherein feststeht, dass alle bestehen. Sollte einer von uns arm im Geist geblieben sein, darf er sich gleichwohl zur Kirche bekennen. Nach der Prüfung ist mein Vater wenig zufrieden mit mir. „Du hättest dich häufiger melden können“, sagt er. „Dann hätten mich die anderen für einen Streber gehalten“, sage ich.

 

 

Unmittelbar vor unserer Konfirmation sagt unser Pfarrer, dass wir anders als die Konfirmanden aus früheren Jahren nicht während des entscheidenden Aktes niederknien dürfen. Weil wir uns zwei Jahre lang schlecht benommen hätten, wäre es eine Lästerung, täten wir das. Nach der Konfirmation ereilt mich eine Einladung der Evangelischen Jugend. Mein Vater sieht mich erwartungsvoll an. Ich frage: „Soll ich weiter Dinge auswendig lernen, die mir keiner erklärt und die sich wahrscheinlich ganz anders verhalten?“ „Wenn man alles infragestellt, wird man unzufrieden“, sagt mein Vater. „Willst du dir das einLeben lang antun?“

 

 

4.

 

Frau Bondzio ist mit ihrem letzten Liebhaber ausgezogen. Ich habe sie mein Leben lang keinmal gegrüßt. Sie hat sich gerächt, indem sie über meine Familie herzog. Allerdings hat sie uns vergessen, kaum dass sie uns auf immer den Rücken gekehrt hat.

 

 

Eine neue Familie zieht auf unseren Flur. Die Frau hat ihr drittes Kind bekommen. Ich lade den ältesten Jungen in unsere Wohnung ein, während meine Stiefmutter mit dem Baby meiner Schwester in der Nachbarschaft unterwegs ist. Wir spielen Schach. Ich schlage ihn, aber der Junge meint, sein Vater spiele besser als ich. Sollte ich auf ein richtiges Schachspiel Lust haben, möge ich gelegentlich vorbeikommen. In der Wohnung der Familie Tränkert stinkt es nach Urin. Wenn der Vater von der Schicht kommt, spielt er die russischen Großmeister nach. Er schlägt mich, obgleich meine Züge nicht in seinen Schachzeitschriften stehen und ihn verblüffen. In einer Ecke der Wohnung stapeln sich Bücher und weitere Schriften. Wir haben eines unserer Spiele beendet, als mein Blick auf eine Zeitung auf dem Küchentisch fällt. Ich beginne zu lachen und frage: „Wie kommt das Kommunistenblättchen hierher?“

 

 

Die Katholische Arbeiterbewegung gönnt sich, bevor sie als Säule des Ruhrgebietes zusammenbricht, retardierende Momente. Aber die zweite politische Säule des Ruhrgebiets, die Kommunistische Partei Deutschlands, fällt binnen kürzester Zeit in sich zusammen. Die Menschen im Ruhrgebiet lachen über das Kommunistenblatt, weil in ihm keine Nachrichten stehen. Vielmehr wird dort immer nur polemisiert. Ich lese es, weil ich alles lese, was mir unter die Finger kommt. Auch komme ich fast immer an die kommunistische Zeitung, weil sie umsonst verteilt wird. Ich kenne keinen, der sie einmal gekauft hätte, obgleich auf der Titelseite ein Preis steht. Die politischen Konkurrenten der KPD fragen sich, wie die Kommunisten an das viele Geld für die Produktion einer Zeitung kommen, obgleich es so wenige von ihnen gibt. Wenn meine Stiefmutter außer Haus ist, schalte ich das Radio ein. Ich drehe die Mittel­ und Ultrakurzwelle entlang, bis ich mich in einen DDR­Sender eingewählt habe. Wenn ich den Sprecher höre, stelle ich ihn mir mit Schaum vor dem Mund vor. Das ist mir so fremd, dass ich mich über Kommunisten belustige. Aber vielleicht denke ich nur so, weil mich mein Vater beeinflusst, ohne dass ich solches bemerkt hätte.

 

 

Vater Tränkert nimmt mir mein Gelächter nicht übel. Politische Tiefschläge ist er auf der Zeche gewöhnt. Lesen wir nicht zu Hause dieses Hetzblatt, die Ruhr Nachrichten? Da muss mein Gehirn ja vergiftet sein. Mein Gesprächspartner bleibt freundlich, wenn er von meinem Vater spricht. Der ist auch ein Arbeiter. Er bedauert nur, dass sich sein falsches Bewusstsein unter den obwaltenden Umständen nicht korrigieren lässt. Dabei wäre solches im Interesse meines Vaters. Aber Tränkerts Stimme zittert vor Empörung, wenn er von den Ruhr Nachrichten redet. Er mag die hoch bezahlten Schreiberlinge des Monopolkapitalismus nicht, weil diese wissentlich Lügen verbreiten.

 

 

„Hast du darüber nachgedacht, dass die Welt, in der du lebst, nicht in Ordnung ist?“ fragt mich Tränkert. Mit dieser Frage beginnen unsere politischen Gespräche. Manchmal vergessen wir das Schachspiel darüber. Ein erstes Mal gewinne ich den Eindruck, dass meine Meinung gefragt ist, auch wenn ich mir bewusst bleibe, dass ich indoktriniert werden soll. Walter­Erich Tränkert meint, die Arbeiter würden von einem anonymen System ausgebeutet. Das ist ungerecht, weil die Arbeiter es sind, die alle Werte schaffen. Das System, das bekämpft werden muss, wird Kapitalismus genannt. Andererseits glaubt Tränkert, dass sich die Welt notwendigerweise verbessere. Er ist der Optimist, während ich der Skeptiker bin. Erst kommt der Sozialismus, der gut, dann der Kommunismus, der noch besser ist. Damit sich die Entwicklung zum Sozialismus beschleunigt und wir noch was von ihm zu unseren Lebzeiten haben, müssen wir für ihn kämpfen. Dafür steht Tränkert ein. Ich erinnere Tränkert an die täglichen Tiefschläge, die er auf seiner Zeche einstecken muss. Hat er nicht gesagt, diese seien mit den Jahren schlimmer geworden? Haben in unserer Siedlung nicht früher die Kommunisten geherrscht? Was ist aus ihrer Vormachtstellung geworden? „Die Lehre von den Widersprüchen auf dem Wege zum Sozialismus nehmen wir später durch“, sagt Tränkert.

 

 

Mein Gesprächspartner glaubt, dass alles, was politisch getan werden sollte, ohne Unterlass unter den werktätigen Massen diskutiert werden muss. Aus seiner Sicht besteht die sozialistische Bewegung aus einer grandiosen intellektuellen Debatte. Ich liebe Tränkert, wenn er so spricht.

 

 

„Hier hast du noch einen Saft“, sagt Frau Tränkert und stellt mir ein Glas hin. Sie interessiert sich nicht für Politik. Allerdings hat sie verhindert, dass ihr ältester Sohn den Namen Wladimir Iljitsch erhielt. Tränkert hat zu allen Fragen die richtigen Antworten. Anders als die Katholische Arbeiterbewegung hält er eine Ruhrgebietspolitik für geboten. Er würde sie gern betreiben, wenn er nur könnte. Andererseits fallen bei ihm Ruhrgebiets­, Gesellschafts­ und Weltpo litik in eins. Wenn die Kommunistische Partei Chinas in Schanghai einen Beschluss gefasst hat, sollte der Betriebsrat unserer Zeche, in dem er seit Kriegsende Mitglied ist, dazu Stellung beziehen. Wie gelangen wir an die richtigen Antworten auf unsere Fragen? Glücklicherweise ist das meiste, auch wenn es auf die Auslegung ankommt, geklärt. Die richtigen Antworten befinden sich im Besitz von Männern, die über das richtige Bewusstsein verfügen. Sie sagen den anderen Proletariern, was Sache ist und sie politisch zu tun haben. Manche Revolutionäre sind weiser als andere. Deshalb muss die Gruppe der Revolutionäre hierarchisch geschichtet sein. Glücklicherweise haben der Genosse Stalin und nach ihm der Genosse Berija den richtigen Durchblick. Wer ihnen nicht folgt, sollte in einem ersten Schritt geduldig belehrt werden.

 

 

Ich halte dagegen, dass ich die angebliche Katastrophe des Kapitalis mus nicht zu sehen vermag. Die Ruhr Nachrichten melden davon nichts. Das kann nicht sein, dass unsere Zeitung Grundtatbestände unseres Lebens vollständig ausblendet. Die Arbeit vor Kohle ist hart und belastend. Das trifft zu. Aber lässt sie sich angesichts des gegenwärtigen Standes der Technik anders vollziehen? Der Staub regiert nun mal auf der siebenten Sohle. Wenn Leute zusammenarbeiten, muss es einen geben, der das Sagen hat. Sonst kommt nichts zustande. Abermals verdoppele ich, ohne es zu merken, die Sicht meines Vaters. „Bald arbeitest du selbst auf der Zeche“, sagt Tränkert. „Mit 50 bist du tot. Findest du das richtig?“ Das stimme nicht ganz, erwidere ich. Wenn der Hochsommer naht, kommen etliche Knappschaftsrentner aus ihren Wohnungen gekrochen. Sie setzen sich auf die Treppenstufen am Hauseingang und freuen sich, dass sie nicht frieren. Wenn allerdings die Kälte kommt, das räume ich ein, hilft ihnen kein Kohledeputat. „Was sind das für Wracks“, sagt Tränkert, „wie schnell sie dahinsterben.“

 

 

Tränkert knüpft bei meinen unmittelbaren Erfahrungen an. „Du kennst die Sirenen, die so laut sind, dass die Häuser in der Kolonie hin­ und herzuschwanken scheinen?“ fragt er. Die kennt jeder. Dieser Lärm wird von unserer Zeche gemacht. Sie geben unseren Tagen und Nächten eine Ordnung. Der Beginn einer Schicht wird dreimal angekündigt. Der erste Ruf der Sirenen soll den Bergmann darauf einstellen, dass seine Arbeit in Kürze beginnt. Beim zweiten Mal möge er sich fertigmachen und den Berg hinauf zur Zeche gehen. Beim dritten Mal fahren die Bergleute ein.

 

 

„Ja und?“ frage ich, weil ich nicht verstehe. „Glaubt die Zeche, der Bergmann sei nicht imstande, die eigene Armbanduhr zu lesen?“ fragt Tränkert. „Warum demütigen uns die Lakaien des Kapitalismus so?“ „Vielleicht gibt es eine harmlosere Erklärung“, sage ich, „beispielsweise die, dass man die Kumpels vorsichtshalber erinnern will.“ „Ich empfinde die Sirenen als Signale der Verachtung für die Arbeiterklasse“, sagt Tränkert. Ich sehe ihn an und realisiere, dass er wie ich ein Autodidakt ist. Da spielt einer die russischen Großmeister nach. Er liest wie ein Wilder, auch wenn die Wahl seiner Bücher einseitig ist. Mit Sicherheit hätte er lieber etwas anderes vollbracht als unter Tage einzufahren. Aber es gab nur die Zeche.

 

 

„Erzähle mir, wie die Arbeiter 1945 die Fabriken übernahmen“, sage ich. Diese Geschichte kenne ich längst. Aber vielleicht wird er froher, wenn er sie nochmals erzählt.

 

 

Mein Vater duldet meine Freundschaft mit Tränkert. Er sagt, dass sich die Kommunisten in gute Menschen verwandeln, sobald sie politisch verloren haben. Aber vorher seien sie das nicht.

 

 

5.

 

Als die Briten 1945 ins Ruhrgebiet einmarschieren, fliehen die Nazis und mit ihnen das Management. Tränkert macht zwischen den beiden Gruppen kaum einen Unterschied. Die Arbeiter übernehmen unsere Zeche. Sie werden von der Avantgarde des Proletariats geleitet. Ein letztes Mal zeigt die Kommunistische Partei Deutschlands im Ruhrgebiet ihre politische Macht.

 

 

Walter­Erich Tränkert wird von seiner Zentrale zu einem von drei Arbeiterräten bestimmt. Um die Einheit der Arbeiterklasse zu wahren, nehmen die drei einen Sozialdemokraten hinzu. Das ist Walter Krupinski. Alle Räte halten engen Kontakt zu ihren Zentralen. Die Politik für den Arbeiter muss von allgemeinen Grundsätzen geleitet sein. Damit halten es die Sozialdemokraten weniger genau, als ob sie die Evangelischen im Klassenkampf wären. Während die kommunistischen Räte wissen, dass es zur konsequenten Positionierung gegen den Klassenfeind keine Alternative gibt, tritt Krupinski für die Partnerschaft von Arbeit und Kapital ein. Krupinski ist von einer derartigen politischen Blindheit geschlagen, dass sie an Korruption grenzt und in eine politische Niederlage der Arbeiterbewegung münden muss. Tränkert schleudert ihm auf einer Sitzung des Arbeiterrates einen aus der Weimarer Republik geläufigen Vorwurf entgegen: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“

 

 

Wenn es um die Regelung konkreter Probleme geht, vertragen sich die Arbeiterräte besser. Insbesondere gilt es, die Produktion in Gang zu bekommen. Die Räte finden gemeinsame Lösungen, obgleich ihre grundlegenden politischen Meinungen radikal andere sind. Das Management kehrt nach einem oberflächlichen Prozess der Entnazifizierung zurück und übernimmt die Leitung der Zeche. Die britische Militärregierung sorgt dafür, dass Betriebsratswahlen anberaumt werden. Nach diesen Wahlen hat sich politisch alles auf der Zeche verändert. Die Kommunisten wurden aus dem Betriebsrat gefegt. Es gibt nur Sozialdemokraten dort und – ja, schau mal – Be­ nedikt Ramczowski von den Katholiken. Die Gemeindewahlen fallen ähnlich enttäuschend aus. Die Kommunisten stehen als politische Kraft vor dem Nichts. Da ist keine Quantität mehr, die sich in Qualität umschlagen ließe. Dabei kann man nicht sagen, dass die Arbeiterräte nicht gut gearbeitet hätten. Im Gegenteil, sie standen Tag und Nacht im Dienst der Weltrevolution und im Dienst ihrer Kollegen, was aus Tränkerts Sicht immer das gleiche ist.

 

 

Derweil machten die Kumpels andere Erfahrungen. Der Bergbau ist ein gefräßiger Moloch, der neue Arbeiter ohne Unterlass in sich hineinschaufelt. Zwar wollen die, die seit längerem im Ruhrgebiet wohnen, nicht in den Pütt. Aber die Flüchtlinge, die aus den Ostgebieten zu uns herüber gemacht haben, sind froh, eine Arbeit zu bekommen. Mittlerweile ist jeder zweite oder dritte Kumpel ein Flüchtling. Da lassen sich ihre Geschichten nicht überhören. Eines ihrer bevorzugten Themen sind die Gräueltaten der Roten Armee.

 

 

Nicht, dass es nicht andere Geschichten über sie gäbe. Ein Kumpel ist aus dem Sudentenland eingetroffen, nachdem er einen Umweg über Bayern gemacht hat. Er berichtet, wie er mit anderen einen Treck aus deutschen Familien zusammengestellt hat, um aus der Tsche choslowakei zu fliehen. Nach einigen Kilometern werden sie von den Tschechen eingeholt und gefangen genommen. Die Milizen stellen sie an die Wand und spielen an den Abzügen ihrer Gewehre. Im letzten Moment, bevor Schüsse fallen, kommt ein sowjetischer Major. Dieser hat nur wenige Soldaten bei sich. Dennoch schreit er die Tschechen an. Die fürchten, dass der Major trotz seiner militärischen Unterlegenheit wild um sich schießen lässt. Den Russen ist alles zuzutrauen. So rettet der Major vielen Deutschen das Leben. Aber in den meisten Geschichten kommen die Russen nicht so gut weg. Das sollen alles nur erfundene Erzählungen der Flüchtlinge sein, erkundige ich mich. Tränkert sagt nichts. Am Ende sagt er widerstrebend einige Worte. Bei den Flüchtlingen im Osten wirkt die nationalsozialistische Propaganda gegen die Sowjetunion nach. Der feudale landwirtschaftliche Osten wurde von der NS­Propaganda stärker als das Industrieproletariat an der Ruhr infiziert. Daher lassen sich die Flüchtlinge auch heute noch, diesmal von den kapitalistischen Me dien, leichter verführen.

 

 

Was Tränkert nicht wahrhaben will, glauben andere Kumpels. Sie setzen die Verfehlungen der sowjetischen Armee mit dem Sozialismus und Kommunismus gleich. Das muss ihre Wahlentscheidungen im Westen beeinflussen. Der aus allen politischen Gestaltungsmöglichkeiten heraus geworfene Tränkert tröstet sich, dass es Widersprüche und gelegentliche Rückschläge gibt. Das hat schon Karl Marx gesagt.  Auch schöpft er Hoffnung, weil die Kumpels nach wie vor zu ihm kommen. Sie sagen: „Walter, wir meinten dich nicht persönlich, als wir dich nicht in den Betriebsrat gewählt haben.“ Sie sagen sogar: „Walter, könntest du dich um dieses und jenes für mich kümmern?“

 

 

Walter kümmert sich. Auch kandidiert er auf Weisung seiner Zentrale für die nächsten Betriebsratswahlen auf der Liste der Unabhängigen. So wird er das Stigma des Kommunisten los. Weil ihn viele auf der Zeche als Persönlichkeit schätzen, wird Walter­Erich Tränkert abermals zum Betriebsrat gewählt.

 

 

Die Kommunisten beginnen wieder, Hoffnung zu schöpfen. Dafür haben sie Mal für Mal gute Gründe. Der Genosse Mikojan hat ein Grund satzreferat vor dem Politbüro der KPdSU gehalten. Der Zu sam menschluss von Kommunisten und Sozialdemokraten im Osten beginnt, wie diverse Resolutionen zeigen, reiche Früchte zu tragen. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands baut den Sozial ismus in Ostdeutschland auf und meldet täglich Erfolge an den Fron ten der Produktion.

 

 

Im Betriebsrat wird Walter Krupinski zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Nach der Sitzung nimmt er Tränkert an die Seite. „Ich weiß, dass du ganz in Ordnung bist, außer dass du der falschen Partei angehörst“, sagt er. „Wenn du zu uns rüber machst, kann ich was für dich tun.“ Damit meint er: Wenn Walter­Erich Tränkert in die Sozial demokratische Partei Deutschlands eintritt, sorgt Krupinski dafür, dass er freigestellt wird. Von weiteren Karriereschritten will er im Moment nicht reden, weil ein Schritt immer dem anderen folgen muss. So folgert er nach seinem reformistischen Ansatz. „Aber ihr befindet euch politisch im Unrecht“, sagt Tränkert. Weil er standfest bleibt, muss er weiter malochen, obgleich er fast so viele Stimmen wie Krupinski bekommen hat.

 

 

Walter Krupinski sorgt dafür, dass Benedikt Ramczowski freigestellt wird. Dem hat er einen anderen Vorschlag unterbreitet. Ramczowski hat in der Katholischen Arbeiterbewegung zu bleiben und natürlich in jener Partei, die behauptet, christlich zu sein. Die Katholische Arbeiterbewegung wird eine Weile weiterbestehen – so lautet Krupinskis Kalkül – und nicht ganz ohne Einfluss im Ruhrgebiet sein. Da ist es gut, wenn man dort einen hat, auf den Verlass ist.

 

 

Gerade beginnen die Kommunisten und ihre U-Boote in den Gremien neue Hoffnung zu schöpfen. Hat der Genosse Walter Ulbricht nicht abermals Wichtiges und Richtiges gesagt? Da bricht eine neue Flüchtlingswelle über das Ruhrgebiet herein. Diesmal sind es die Leute aus der Sowjetzone, später der Deutschen Demokratischen Republik, die herüber machen. Die neuen Flüchtlinge wissen keinen anderen Weg als in den Bergbau zu gehen. Sie sind dankbar, dass es für ihren Lohn etwas zu kaufen gibt. Sie berichten von der Konsolidierung der sowjetrussischen Herrschaft im Osten durch deutsche Lakaien. „Hast du gehört, dass sie wieder die Normen erhöht haben? Bei denen muss man mehr als unter Kapitalisten malochen.“ „Meinen Bruder, den Kleinbauern, haben sie zwangskollektiviert.“ Solches muss die Meinung der Kumpels und ihrer Familien im Ruhrgebiet nachhaltig bestimmen. Die letzten verbliebenen Kommunisten werden aus Betriebsräten und Gemeinderäten gejagt.

 

 

Tränkert zeigt mir derweil, dass die deutschen Kommunisten vom SED­Bezirk Suhl bis zum SED­Bezirk Plotzkow von Erfolg zu Erfolg eilen. Die Werktätigen schreiten unter ihrer Führung zur Freiheit, zur Sonne. Überall sind die Produktivkräfte entfesselt, seit es zu einer revolutionären Umgestaltung der Produktionsverhältnisse gekommen ist. Aber kaum hat sich die Bundesrepublik Deutschland konstituiert, da beginnt ihre Hatz auf die Kommunisten. Die Kommunistische Partei Deutschlands soll verboten werden.

 

Kommunisten sind auch nur Menschen. Daher fallen sie, als sie von Verfolgung bedroht wurden, reihenweise um. Das kann man nach dem dialektischen Materialismus nicht anders erwarten. Solches gilt umso mehr, als den Abtrünnigen die Arbeit für die Partei nichts außer Fron, Frust, Gewöhnung an blindem Gehorsam und parteiinterne Verfolgungen eingebracht hat. Jene, die zur Sozialdemokratie übergewechselt sind, behaupten gegenüber Tränkert, dass sie politische U­Boote geblieben seien und im Stillen weiter für die Weltrevolution wirkten. Bald hat Tränkert außer mir keinen politischen Gesprächspartner mehr, zumindest keinen, mit dem er offen reden kann. Tränkert ist bereit, für seine Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. „Das muss sein“, sagt er und will aus dem, was auf ihn zukommt, keine große Geschichte machen.

 

 

Ich erzähle meinem Schachfreund von jenem Mann, der kürzlich meinen Vater besucht hat. Dieser Mann hat mir verboten, von ihm zu berichten. Der Mann, der sich an unserem Küchentisch niedergelassen hat, spricht von der Notwendigkeit, in diesen gefährlichen Zeiten wachsam zu bleiben. Es gäbe Wühlmäuse, die unsere freiheitlich­demokratische Grundordnung unterminierten. Mein Vater sagt, dass er nie etwas für Kommunisten übriggehabt habe. Das gelte auch für die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften seien der bevorzugte Angriffspunkt der KPD, sagt der Mann. Das wäre kaum so, ließen sie sich nicht gern unterwandern.

 

 

„Sie kennen diesen Tränkert“, sagt der Mann und kommt endlich zur Sache. Er wisse, dass Tränkert Kommunist sei, sagt mein Vater. Aber als Betriebsrat habe er sich nichts zuschulden kommen lassen. Im Gegenteil nehme er die Interessen der Kollegen besser als andere Betriebsräte wahr. Das wundere ihn jetzt, sagt der Mann. Das sei einfach zu erklären, meint mein Vater. Die anderen Betriebsräte seien in ihr Amt gekommen und dortgeblieben, weil sie Sozialdemokraten seien. Tränkert müsse sich den Respekt seiner Kollegen täglich aufs Neue verdienen. Jetzt wundere ich mich. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Vater so differenzierend beobachten und urteilen kann. „So habe ich Sie mir nicht vorgestellt“, sagt der Mann. „Ich hatte gehört, Sie seien einer von uns.“

 

 

Als der Mann gegangen ist, frage ich meinem Vater: „Wenn die In dustriegewerkschaft Bergbau so ist, wie du behauptest, warum bist du ihr beigetreten?“ „Was meinst du, warum der Organisationsgrad im Bergbau weit über 80% liegt?“ fragt mein Vater. „Wenn du auf der siebenten Sohle verschüttet wirst, bist du darauf angewiesen, Kum pels zu haben.“

 

 

6.

 

Mittlerweile hat die sozialdemokratische Politik der Partnerschaft zwischen Arbeit und Kapital Früchte getragen. Die Zahl der Betriebsräte in den Ruhrgebietsbranchen Kohle und Stahl wird aufgestockt. Die Betriebsräte erhalten eine faktische Vetomacht in den Betrieben.

 

 

Die Gewerkschaften entsenden einen der Ihren in die Leitungen der Konzernzentralen als Vorstandsmitglied. Diese Regelungen werden unter dem Begriff der „qualifizierten Mitbestimmung“ zusammengefasst. Ein Top­Manager des Bergbaus erklärt, er halte nichts von den neuen Regelungen. Er frage sich, was an der „Mitbestimmung“ qualifiziert sei. Die Sozialdemokratie sieht diese Einlassung als Kriegserklärung an. Sie ruft den Generalstreik für das Ruhrgebiet aus.

 

 

Die Kommunisten jubeln: „Da machen wir mit!“

 

 

Danach schauen sie sich den Aufruf der sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften genauer an. Der Generalstreik gilt lediglich für einen Tag. „Das ist doch bescheuert“, meint mein Vater und ist damit ausnahmsweise einer Meinung mit den Kommunisten. Allerdings begründet er sie anders: „Warum soll man einen Generalstreik ausrufen, nur weil ein Mann – und sei es ein Generaldirektor – seine Meinung sagt?“

 

Ich habe nach wie vor Probleme damit, an eine ausreichende Menge an Lesestoff zu kommen. Deswegen unternehme ich einen weiteren Anlauf. „Darf ich das lesen?“ frage ich Tränkert und schaue auf die vielen Bücher in der Ecke seiner Wohnung. Tränkert wiegt seinen Kopf. Ob ich alles verstehe? Auch im Schach sollte man nicht bei den Großmeistern anfangen, vielmehr Eröffnungen einüben. „Das Kapital“ von Karl Marx hat Tränkert mehrere Male zu lesen begonnen. Letztlich ist er gescheitert. Marx ist so schwierig zu verstehen wie er grundsätzlich Recht hat. Aber Engels und Lenin lesen sich wie Romane. Da ist es gut, dass sie gleichfalls im Recht sind.

 

 

Tränkert ist zu einem Entschluss gekommen. „Was hältst du davon, wenn ich dich allmählich zu den sozialistischen Klassikern führe und dir am Anfang Literatur aus der Zechenbibliothek mitbringe?“ „Eine Bibliothek?“ frage ich fassungslos. „Gibt es die wirklich?“

 

 

Noch am gleichen Tage stelle ich meinen Vater zu Rede: „Warum hast du mir das nicht gesagt?“ „Aus der Zechenbibliothek kann ich dir nichts mitbringen“, entgegnet mein Vater. „Die befindet sich immer noch in den Händen der Kommunisten. Sie schaffen ausschließlich Propaganda an.“ Eines der ersten Bücher, die Tränkert mir mitbringt, ist eine Schwarte über Fernost. Ein weiteres Mal vollziehe ich den chinesischen Bürgerkrieg nach. Diesmal bin ich auf der Seite der Kommunisten. Die rotchinesischen Soldaten sind gleichzeitig Bauern. Sie zeigen den Bauern, die keine Soldaten sind, wie man auf dem Lande zu besseren Erträgen kommt. So gewinnen sie ihre Herzen.

 

 

Wenn die Rote Armee eine Stadt erobert hat, organisiert sie eine An hörung auf dem Marktplatz. Die ausgebeuteten Massen berichten, wie sie gequält worden sind. Jene, die im Morast kapitalistischer Moral versunken waren, üben Selbstkritik. Sollte ihre Reue echt sein, erhalten sie die Möglichkeit, Werktätige wie die anderen zu werden. Nur das Bewusstsein einiger Großbauern ist derart verdorben, dass sie von vornherein nicht zu retten sind. Das macht aber nichts, weil es viele Chinesen gibt, sagt Mao Tse Tung.

 

 

Mein erster literarischer Held wird Upton Sinclair. Ich lese alles von ihm, soweit es sich im Bestand der Zechenbibliothek befindet. Das sind dicke Bücher mit fast immer dem gleichen Plot. Die Vereinigten Staaten werden von Monopolkapitalisten beherrscht. Sie intrigieren gegeneinander. Ob der eine oder andere gewinnt, ist gleichgültig, da ihre Manöver immer auf Kosten der Werktätigen gehen Der Sohn eines Monopolkapitalisten wendet sich gegen seinen Vater und bald gegen alle Kapitalisten. Er kämpft für das Gute. Dabei macht er sich den Umstand zunutze, dass die Monopolkapitalisten aus propagandistischen Gründen so tun, als seien die USA ein Rechtsstaat und eine Demokratie. Allerdings müssen die Erfolge des rechtschaffenen Sohnes in einem System wie dem der Vereinigten Staaten begrenzt bleiben. Als die Schlachthöfe von Chicago nach einem Buch von Sinclair reorganisiert und die schlimmsten Missstände dort beseitigt sind, tanze ich in Abwesenheit meiner Stiefmutter um den Küchentisch. Das merke ich mir für mein ferneres Leben: Zwar ist Wissen nicht Macht. Aber Wissen kann gelegentlich, wenn die Umstände günstig sind, etwas bewirken.

 

 

Zwischenzeitlich frage ich Tränkert, ob die Zechenbibliothek ausschließlich politische Bücher angeschafft hat. „Wir haben einige Liebesromane für die Bergmannsfrauen im Angebot“, sagt Tränkert. „Die würden mich gleichfalls interessieren“, sage ich. „Aber Dieter“, sagt Tränkert, „das ist nichts für dich.“ Ich starre Tränkert an. Ist das nicht ein Wunder, frage ich mich, dass dieser Mann drei Kinder und sei es unter der Bettdecke zustande gebracht hat?

 

 

In den folgenden Jahren muss ich selber malochen und sehe WalterErich Tränkert nur noch gelegentlich. Der wird auf der Zeche zum wievielten Mal wiedergewählt. Nach wie vor ist er nicht freigestellt. Dazu muss er leiden, weil er von seinen sozialdemokratischen Kollegen im Betriebsrat gefrotzelt wird. „Was machst du mit uns, wenn die Weltrevolution ausgebrochen ist?“ fragt Walter Krupinski. „Werden wir alle nach Sibirien verbracht?“ „Ihr werdet verurteilt, Marx und Engels zu lesen“, antwortet Tränkert.

 

 

Alljährlich werden Tränkert und sein ältester Sohn auf getrennten Wegen in die DDR geschickt. Für den Vater ist das teilweise ein Dank für die geleistete Arbeit unter den widrigen und gefährlichen Verhält­nissen der BRD. Auch sind die beiden nach einem längeren politischen Leben weitab vom Schuss zurück auf die Linie der Partei zu bringen. Als die Beiden aus der DDR zurückgekehrt sind, verkündet der Vater, dass in der DDR mittlerweile alles besser als bei uns im Westen ist. Das gilt auch für Kleinigkeiten, bis zu den im Osten viel kompakteren Brötchen. Den Sohn nenne ich neuerdings Wladimir Iljitsch. Ich ziehe mit ihm durch die Kneipen. Auf dem Nachhauseweg lehrt er mich, Arbeiterlieder zu singen. Das „Junge Rotgardistenblut“ nistet sich bei mir als Ohrwurm ein. Ich singe es gelegentlich heute noch.

 

 

7.

 

Fast alle Schüler meiner Klasse sind Kinder von Bergleuten. Die Väter sagen ihren Söhnen: „Geh nicht in den Pütt. Das ist was für Flüchtlinge.“ Meine Mitschüler geben was auf die Meinung ihrer Väter. Sie bekämen was auf die Mütze, täten sie es nicht.

 

 

Die Meinung der Väter beruht auf Erfahrungen aus erster Hand. Anders als spätere Generationen wissen sie aus eigener Anschauung, worüber sie reden. Meine Mitschüler bestätigen sich wechselseitig in ihrer Meinung, dass der Bergbau nichts für uns ist, derweil wir von ihm leben.

 

 

Zum ersten Mal spürt der Bergbau einen Mangel an jungen angelernten Arbeitern. Die über Jahrzehnte zur Selbstverständlichkeit ge­ wordene Praxis, dass wir alle in den Pütt müssen, wird infrage gestellt. Da sieht man, was alles passieren kann, wenn es dem Arbeiter zu gut geht. Als erste Branche führt der Bergbau ein Marketing für seinen Ausbildungsmarkt ein. Meine Klasse wird zu einer Fahrt unter Tage und anschließender Bockwurst mit Kartoffelsalat geladen. Unter Tage erklärt ein fürsorglicher Steiger, dass im Bergbau alles weniger schlimm ist als behauptet wird. Während wir in einer Werkstatt über Tage unsere Bockwurst verzehren, bekräftigt ein Ausbildungsleiter: „Die Unfälle auf der siebenten Sohle werden stark übertrieben dargestellt. Auf hoher See und dem Bau ist es noch schlimmer.“ Zudem liegt die Bundesrepublik Deutschland in der Sicherheitsforschung vorn. Man sollte die Unfallstatistiken in der Ukraine und China zum Vergleich heranziehen, wären sie verfügbar. Die sozialpolitische Absicherung der Unfallopfer im Bergbau ist einzigartig bei uns. Die brauchen nie wieder zu arbeiten, selbst wenn sie könnten. Die Ausbildung im deutschen Bergbau ist gleichfalls weltweit berühmt. „Dann sehen wir uns wieder“, sagt der Ausbildungsleiter und schüttelt jedem von uns die Hand. So freundlich ist noch kein Lehrer zu uns gewesen. Wir sehen uns an und glauben kein Wort. Nicht, dass wir übermütig würden. Unsere kühnsten Träume bestehen darin, Werkzeugmacher auf der Hütte einen Stadtteil weiter zu werden. Dort geht man erst mit 60 statt mit 50 Jahren kaputt.

 

 

Um zum Stehkragenproletariat vorzustoßen, sollte man möglichst die Handelsschule oder die Höhere Handelsschule besucht haben. Zwei Schüler aus unserer Klasse gehen dahin und verlängern so ihre Schulzeit. Ansonsten muss der Ernst des Lebens, das wissen wir von unseren Vätern, mit 14 beginnen. „Noch länger zur Schule gehen und die Zeit totschlagen?“ sagen wir künftigen Arbeiter, wie alle von uns erwarten. „Das fiele uns nicht im Traum ein.“

 

 

Während wir unsere letzten Monate in der Schule verbringen, verlässt ein Schüler nach dem anderen die Klasse. Er hat eine Lehr­ oder Arbeitsstelle gefunden und der Arbeitgeber braucht ihn sofort. Arbeit rangiert im Ruhrgebiet vor Bildung, soweit Bildung überhaupt eine Rolle spielt.

 

 

Paul ist der einzige, der seinen Lehrvertrag hinschmeißt und in unsere Klasse zurückkehrt. Er wollte die Romantik auf See kennenlernen.

 

 

Aber er hat immer nur das Deck seines Kahns auf dem Rhein­HerneKanal geschrubbt. Dieser Junge ist der erste in unserer Klasse, der doch in den Pütt geht. Eine zweite Niederlage kann und will er sich vor den Augen seiner Familie nicht leisten.

 

 

Die Hütte hat Hunderte an Bewerbern in die Werkskantine geladen. Sie haben fast einen Werktag lang Tests auszufüllen und fühlen sich danach geschlaucht. „Was wollt ihr erst sagen, wenn ihr einen ganzen Tag überstehen müsst und nur feilen dürft?“ spotten die Ausbildungsleiter. Noch ist der Mangel an Nachwuchs bei ihnen nicht angekommen.

 

 

Am nächsten Morgen haben die Bewerber abermals in die Kantine zu fahren. Dort schreiben sie einen Aufsatz für den Werkspsychologen. Es dauert mehr als einen Monat, bis die Hütte ihre Bescheide versendet. Einer aus meiner Klasse zieht das schönste Los, das er sich vorstellen kann. Er darf Werkzeugmacher werden.

 

 

Für die Mädchen gibt es weniger Berufe als für Jungen und erst recht keine Berufung. Sie dürfen Friseuse oder Verkäuferin werden. Während sie von einer Karriere als Stewardess träumen, um den Mitgliedern der oberen Klassen Kaffee zu kochen, werden sie bestenfalls Sachbearbeiterin in einer Versicherung oder in einer Bank.

 

 

Dort bleiben die Mädchen ein berufliches Leben lang an einem Schreib tisch gefesselt, während ihre männlichen Kollegen an ihnen vorbeiziehen und vielleicht Unterabteilungsleiter werden. Das macht nichts, weil die Mädchen sowieso heiraten und Kinder bekommen. Wenn sie großes Glück haben, erhalten sie einen Unterabteilungsleiter als Gatten. Der wird sie versorgen. Anders als mancher Bergmann hat er keine lockere Hand. Allenfalls mag er sich seelische Grausamkeiten ausdenken. Sie zieht die Kinder groß und bügelt die Hemden. Im Be reich seelischer Grausamkeiten macht sie mit den Jahren ihr Handicap wett.

 

 

Wenn Flup morgens in den Unterricht kommt, fragt er: „Wer hat noch keinen Lehrvertrag oder Arbeitsplatz?“ Von Woche zu Woche gehen weniger Hände hoch. An einem anderen Morgen kommt Flup mit einer seltsamen Frage in die Klasse: „Kennt jemand einen, der Mitglied in der Christlich Demokratischen Union ist und Hausmeister werden möchte?“ Wir kennen keinen. „Ihr könnt ja in eurer Nachbarschaft herumhören und mir Bescheid geben“, sagt Flup. Da ich nicht verstehe, was diese Anfrage bedeutet, gehe ich zu Walter­Erich Tränkert. „Das muss eine weitere Abmachung zwischen Krupinski und diesem Ramczowski sein“, sagt Tränkert. Mein Gewährsmann hört sich in politischen Kreisen an der Zeche um.

 

 

Zwei Tage später teilt er mir Einzelheiten mit. Wenn es eine neue Vereinbarung gibt, muss es eine alte geben. Diese wurde geschlossen, kaum dass Krupinski und Ramczowski Betriebsräte auf der Zeche geworden waren. Walter Krupinski und Benedikt Ramczowski sind gleichzeitig Mitglieder im Rat unserer Stadt. Die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion sieht sich als verlängerten Arm des Betriebsrats. Sollten sich Kohle und Stahl melden, werden die von der Wirtschaft gewünschten Beschlüsse im Rat fraktionsübergreifend ohne Debatte gefasst. Ansonsten laufen die christlich­demokratischen Opponenten im Rat wie gesengte Säue herum. Keiner ist da, der ihnen sagt, was sie zu tun haben. Ihre Wortmeldungen im Rat sind für den Papierkorb. Kaum einer von ihnen scheint zu wissen, was er politisch erreichen will. „Wenn du Ordnung in diesen Haufen bringst, mache ich dich zum Kämmerer“, sagt Krupinski. So wird ein früheres Bündnis zwischen Krupinski und Ramczowski wieder in Kraft gesetzt.

 

Benedikt Ramczowski bringt Ordnung in seine Fraktion. Von jetzt an wird die Opposition die Mehrheitsfraktion unterstützen und ge­ legentlich Als-­Ob­-Opposition für unwissende Bürger betreiben. Aller dings kann Ramczowki nicht Kämmerer werden. Die Mehrheitsfraktion stellt fest, dass er nicht über die formalen Voraussetzungen für dieses Amt verfügt. „Das macht nichts“, sagt Walter Krupinski. „Dann machen wir dich zum Direktor unserer Gas­ und Wasserwerke. Dort bekommst du einen Dienstwagen mit Fahrer und eine zweite Sekretärin, die dir immerzu Kaffee kocht.“ So kommt alles in Ordnung. Das meint Walter Krupinski, bis Benedikt Ramczowski nach mehreren Jahren zu ihm kommen und Klage führen wird. „Meine Fraktion ist nicht zufrieden, weil nur ich von unserer Vereinbarung profitiere“, sagt er. „Sie möchte mehr Pfründen.“ „Ich verstehe euren Standpunkt“, sagt Walter Krupinski. „Allerdings habe ich mich mit der Mehrheitsfraktion abzustimmen.“

 

 

„Sei mal ehrlich“, sagt Benedikt Ramczowski. „Ihr habt uns all die Jahre viel zu günstig eingekauft.“ „Wir werden das hinbekommen“, sagt Walter Krupinski, nachdem er sich innerlich einen Ruck gegeben hat. „Wahrscheinlich schaufeln wir für euch ein paar Stellen für Hausmeister an den Schulen frei.“ Das ist die neueste Abmachung zwischen Krupinski und Ramczowski.

 

 

„Die Sozialdemokraten im Revier haben zu viele Kandidaten für Führungspositionen“, sagt Walter­Erich Tränkert. „Das kommt,  weil alle meinen, dass sie Sozialdemokraten werden müssten, wenn sie etwas werden wollen. In Wahrheit bietet die Sozialdemokratie den Katholiken mehr Sinekuren als diese besetzen können.“ „Um Karriere zu machen, sollte man in die CDU eintreten?“ frage ich. „Du sagst es“, sagt Tränkert. „Es geht der Sozialdemokratie nicht darum, jede öffentliche Stelle mit einem Sozialdemokraten zu besetzen, vielmehr um die für sie günstigste Parteibuchstruktur. So hält sie sich eine Opposition, die ihren Namen verdient, vom Leibe und sichert sich den langfristigen Erhalt ihrer Macht im Revier.“

 

 

„Aber ganz oben kann man nur landen, wenn man Sozialdemokrat ist“, sage ich. „Das ist auch wieder wahr“, sagt Tränkert. „Du hättest eine Karriere wie sie hinlegen können“, überlege ich. „Dazu hättest du alle Chancen gehabt.“ „Einige in meiner Partei kamen in Versuchung“, sagte Tränkert, „ich aber nicht.“

 

 

Der Berufsberater vom Arbeitsamt kommt in meine Klasse und stellt die Unterteilung des Arbeitsamtes in Abteilungen vor. Demnach ist er in seinen Ausführungen arbeitsamts­, nicht bewerberorientiert. Am anschließenden persönlichen Gespräch nimmt mein Vater teil. „Was möchtest du werden?“ fragt der Berufsberater. „Ich möchte ein Autor werden“, sage ich. Der Berufsberater bricht in bellendes Gelächter aus. „Du bist ein Witzbold“, sagt er. „Warum nicht gleich Bundeskanzler?“ „Nein, besser der Führer“, sage ich und beiße mich auf die Zunge. Schweigen senkt sich über unser Gespräch. Mein Vater sieht mich streng an, weil ich ihn blamiert habe.

 

 

„Also was willst du werden?“ fragt der Berufsberater und steht kurz davor, mir eine Kopfnuss zu verpassen, obgleich er sich vor meinem Vater zusammenzunehmen sucht. „Jetzt aber ernsthaft.“ „Ich habe keine Ahnung“, sage ich. Die Chancen, die mir diese Leute geben, interessieren mich nicht. „Der Junge liest gern“, sagt mein Vater. „Dann sollte er Schriftsetzer werden“, sagt der Berufsberater und macht auf eine seiner Listen einen weiteren Strich. „Haben Sie nichts anderes?“ frage ich ihn. „Von mir aus kannst du auch Versicherungskaufmann werden“, sagt der Berater.

 

 

Ich absolviere die obligatorischen Tests in mehreren Druckereien. Man würde mich in einer Zeitungsakzidenz aufnehmen. Mit einer Schrift setzerlehre liege ich nach den Einschätzungen meiner Klassenkameraden weit unter den Werkzeugmachern, aber noch in der Zone der Gewinner. Die Versicherungswirtschaft verstehen sie jedoch nicht. Ich will in das Stehkragenproletariat, obgleich ich keine Höhere Handelsschule besucht habe? Ich werde mich vielleicht nicht entscheiden können.

 

 

Mannet Rommerskirchen hat sich entschieden und fährt unter Tage ein. Er ist der vierte aus unserer Klasse von rund dreißig Jungen, der doch in den Bergbau geht. Er sagt: „Während ihr malocht und euch dennoch nichts leisten könnt, habe ich vom ersten Tag an Geld in derTesch und bald eine Freundin im Arm.“

 

 

8.

 

Ich besuche die nächste Veranstaltung der Sozialdemokratie in unserer Siedlung. Diese Genossen bestimmen, wo es bei uns langgeht. Sie sind demnach unter allen politischen Strömungen die wichtigste. Auch fehlen sie bislang in meiner Sammlung persönlicher Erfahrungen.

 

 

„Wenn die Sozialdemokraten die neuen Herren im Ruhrgebiet sind, muss man sie kennenlernen, findest du nicht?“ versuche ich mich ge­ genüber Tränkert zu rechtfertigen. „Du bist so jung und willst schon Karriere machen?“ fragt Tränkert. „Eine Hausmeisterstelle an einer Schule wäre nicht schlecht“, sage ich. „Die Lehrer verstünden nicht, was ich zu tun hätte. Ich hätte eine Wohnung direkt am Arbeitsplatz. Vielleicht hätte ich sogar Chancen. Ich könnte mich damit bewerben, dass ich mich in der Schule auskenne.“ „Kaum bist du dort, wirst du wie alle anderen“, sagt Tränkert. „Wenn man aufrecht durch das Leben gehen will, muss man jederzeit bereit sein, ins Gefängnis zu gehen.“

 

 

„Die Sozialdemokraten treffen alle politischen Entscheidungen im Ruhrgebiet“, sage ich. „Aber wenn etwas schiefgeht, sind immer die anderen schuld.“ Das ist mir aufgefallen. „Das wird noch schlimmer, wenn sie die Wahlen auf Landesebene gewinnen und die Landesr egierung stellen und alle Entscheidungen über das Ruhrgebiet fällen“, sagt Tränkert. „Soweit lassen es das Rheinland und die Westfalen nicht kommen“, sage ich. „Warte ab“, sagt Tränkert, der meint, dass sich bei uns im Westen alles verschlimmern muss, bis sich mit der Übernahme der BRD durch die DDR auch bei uns alles zum Besten wendet.

 

 

Mir scheinen Hunderte in den Großen Saal des „Deutschen Hauses“ gekommen. Die Kellnerinnen kommen mit ihren Bestellungen nicht durch. Ihnen wird der Weg zu ihren Kunden an den Tischen durch immer neue Grüppchenbildungen aus Genossen erschwert, die ihren Sitzplatz noch nicht gefunden haben.

 

Ich winde mich durch die Menge, bis ich Ede Marciniak entdecke. Der wohnt in einer Mietwohnung in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserem Haus. Wir sehen ein wenig auf Marciniak und seine Familie herunter, weil sie um das Haus herum nach hinten in den Garten müssen, um ihr Klo zu erreichen. „Kann ich mich zu dir setzen?“ frage ich ihn. Er nickt mir zu. „Gefällt es dir hier?“ fragt er. Soll heißen: Ich weiß, dass dein Vater anderer politischer Meinung ist und du dich mit dem Kommunisten Tränkert verbrüderst. „Einiges los hier“, sage ich. „Das kannst du nur sagen, weil du keine Ahnung hast“, sagt Ede Marciniak „Das ist hier früher viel voller gewesen.“

 

 

„War das wirklich so?“ frage ich. Ich weiß, Ede Marciniak spricht gern von den alten Zeiten und ich lerne mit jedem seiner Sätze hinzu. Vor wenigen Jahren war eine Ortsvereinssitzung der SPD von einer Ortskartellsitzung der Industriegewerkschaft Bergbau nicht zu unterscheiden. Für jeden Bergmann war der Besuch der SPD­Versammlung eine Verpflichtung. Oder so sollte es sein. Wenn man nicht zugegen war, entgingen einem wichtige Neuigkeiten aus Zeche und Siedlung. Was problematisch war, wurde gleichfalls erörtert. Vielleicht wurde sogar Abhilfe in Aussicht gestellt.

 

 

„Die SPD hat dafür gesorgt, dass die Lebensmittelkarten richtig verteilt wurden“, erinnert mich Ede Marciniak an die glorreichen Zeiten der Sozialdemokratie. Er schaut mich an, als wüsste ich nicht, was Lebensmittelkarten sind. „Ihr habt die Wohnungen in den neuen Siedlungen gerecht zugeteilt“, sage ich. So taub bin ich nicht, dass ich nicht hörte, was die Sozialdemokraten unsereinem zu sagen haben. Partei und Bevölkerung waren aufs engste miteinander verbunden, träumt Marciniak sich in die ersten Jahre nach Kriegsende zurück. Der Ortsvereinsvorsitzende ging durch die Straßen und wurde an Straßenecken und aus offenen Fenstern der Wohnungen angesprochen. Der hieß Walter Krupinski und war der Vater des jetzigen Stadtrats. „Ja, ich erledige das, Jupp“, sagte er. „Ja, Erna, ich kümmere mich darum.“ „Ja, Williken, ich sorge dafür, dass das so gemacht wird.“ Wenn man den Ortsvereinsvorsitzenden auf der Straße verpasst hatte, ging man zu ihm ins Betriebsratsbüro. Zwischen den Angelegenheiten der Zeche und denen der Gemeinde wurde kaum unterschieden.

 

 

„Warum ist der Besuch sozialdemokratischer Veranstaltungen mit den Jahren zurückgegangen?“ frage ich. „Die Kumpels glauben, unser Laden liefe von selbst und sie bekämen politisch alles ge­ schenkt, ohne dass sie sich selbst engagieren müssten“, antwortet Marciniak. „Da irren sie sich.“ Auch habe sich vieles verändert. Statt mit der Sozialdemokratie in den 1. Mai zu tanzen, laden die Bergleute und ihre Ehefrauen Verwandte und Freunde neuerdings zu privaten Feiern ein. Das komme noch schlimmer, wenn sich das Fernsehen durch setzen sollte.

 

 

Die wenigen Bergmannssöhne, die unter Tage einfahren, machen nicht einfach nach, was ihre Väter ihnen vormachten. In die Industriegewerkschaft Bergbau mögen sie gehen. Aber zusätzlich Mitglied der SPD werden? Jetzt zögern die meisten. Spricht man sie an, weisen sie auf die hohen Mitgliedsbeiträge der Sozialdemokratie hin. Als ob es ein einziges SPD­-Mitglied gäbe, das den vollen Beitrag entrichte. So einen Jungspund wie mich, der interessiert ist und eine Versammlung der SPD aufsucht und vielleicht Mitglied werden möchte, gab es seit Jahren nicht. Nachdem weitere Mietskasernen in unmittelbarer Nachbarschaft hochgezogen wurden, sind wir keine Bergarbeitersiedlung mehr, sondern eine Gemeinde mit Bergleuten und anderen Arbeitern. Die Arbeiter, die in mittelgroßen Betrieben außerhalb von Kohle und Stahl malochen, kommen auf einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 50% oder darunter. Mittlerweile ist der Großvater tot, der allen gesagt hat, dass sie in die SPD eintreten müssen. Nicht zu reden von den Flüchtlingen, die nach ihren Erfahrungen im Osten jeglicher politischen Beteiligung abhold sind. Sie sehen sich die Funktionäre der SPD und der IG Bergbau an und finden, dass diese politisch völlig anders ticken mögen und in ihren Anweisungen zurückhaltender sind. Aber in ihren Sprechweisen, ihrer Körpersprache, ihrem jovialen Gehabe. ihrer leichten Erregbarkeit, ihrem lauten Geschrei und mit ihren gelegentlich leeren Versprechen erinnern sie sehr an die Genossen und Kollegen im Osten.

 

 

„Gleichwohl wird die SPD von fast allen gewählt“, komme ich dazwischen. „Das gehört sich so“, sagt Ede Marciniak. „Das wissen hier alle, dass man die SPD wählen muss. Warte, wenn du Lehrling geworden bist und der Partei beitreten willst, spreche ich mit Walter Krupinski. Dann brauchst du mehrere Jahre keine Beiträge zahlen und marschierst dennoch an der Spitze des Fortschritts mit.“ Neuerdings fühlen sich die Arbeiter auf ihren eigenen Versammlungen weniger wohl. Denn seit die SPD hohe Wahlsiege im Ruhrgebiet einfährt und die Macht in den Städten des Ruhrgebiets übernommen hat, nimmt sie als erstes Zugriff auf die Stellen der Stadtverwaltung und der städtischen Betriebe. Kaum hat sie damit begonnen, strömen die karriereorientierten Angestellten in die Partei und reden über Einstufungskriterien, Anforderungsprofile, Formularkriege, Eroberungen von Planstellen und Gelegenheiten zum Aufstieg. Auch wenn sie die überkommenen Arbeiterlieder mitsingen, es ist nicht so wie es früher einmal war.

 

Einer aus unserer Kolonie hat sich zum Referatsleiter in der Stadtverwaltung hochgedient. Er lädt seine Mitarbeiter, soweit sie in unserer Siedlung wohnen, zu allen Ver anstaltungen der Partei ein. Der Referatsleiter kommt auch heute als einer der ersten in die Versammlung. Er besetzt einen Tisch in der Nähe des Vorstandes und belegt alle Stühle mit Kleidungsstücken, damit sich kein Arbeiter an diesen Tisch wagt. Allmählich tröpfeln die Mitarbeiter des Referatsleiters in die Versammlung und an den Tisch ihres Chefs. Wenn sie beieinanderhocken, blickt der Referatsleiter in die Runde und sagt: „Ich sehe euch an und glaube, dass ihr alle aufsteigen könntet.“ Er schickt jedes Mal einen anderen Mitarbeiter los, Bier zu besorgen und begründet dies nur scheinbar augenzwinkernd: „Wir wollen mal sehen, wie tüchtig er ist.“ Es ist gar nicht so einfach, auf einer Massenveranstaltung an Bier zu kommen, auch wenn man sich zu den Kellnerinnen durchzudrängeln sucht. Aber der Angestellte, der diesmal für seinen Vorgesetzten sprintet, strengt sich an, weil es aus seiner Sicht um Leben und Tod für ihn geht, um einen Erfolg vorweisen zu können. Wenn das Bier doch auf den Tisch kommt, warten diese Genossen auf das Geheiß ihres Referatsleiters, dass sie antrinken dürfen. Sie prosten einander gravitätisch zu und wechseln spätestens jetzt vom vertrauten „Sie“ in den Amtsstuben zum unvertrauten „Du“ in der Politik. Am nächsten Morgen kehren sie zum „Sie“ in der Verwaltung zurück, auch wenn mittlerweile jeder Mitarbeiter im Referat ein Genosse geworden ist. Ede Marciniak er zählt, dass neuerdings Lehrer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands beitreten. Die meisten kommen zwar bloß von den Volks schulen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, dass die Studienräte nachrücken. „Schließlich bestimmen wir, wer auf den Gymnasien Direktor wird“, sagt er.

 

 

Marciniak zeigt mir einen Volksschullehrer. „Die städtischen Beamten gehen ja noch“, sagt er. „Aber wenn der aufsteht und seine Reden schwingt, ginge ich am liebsten nach Hause. Dann ist das nicht mehr meine Partei.“ „Warum kommt er zur SPD, wenn er auf Leute wie dich trifft und merkt, dass er unwillkommen ist?“ frage ich. „Er muss nur warten, bis ein zweiter Lehrer in die Partei eintritt“, sagt Marciniak. „Dann können sie sich untereinander unterhalten. Irgendwann übernehmen die Lehrer die Partei, und wir sind die Gelackmeierten.“

Mehrere Mitglieder des Ortsvereinsvorstandes haben das für sie re­ ser vierte Podium betreten. Zwar stehen sie noch, aber „Gleich geht es los“, sage ich. „Wie, was?“ fragt Ede und lässt sich von mir aus seinen Träumen aus Zeiten reißen, da alles besser gewesen ist.

 

 

9.

 

Ich habe voreilig gesprochen. Denn Walter Krupinski wieselt weiter von einem Tisch zum anderen und ignoriert seine Kollegen am Vorstandstisch, um die Hände alter Genossen zu schütteln. Kaum meint einer der Angesprochenen, dass Krupinski sein bester Freund sei, hat dieser sich abgewandt und ist mit dem nächsten seiner An hänger im intimen Gespräch.

 

 

„Na, Walter, ist dein Junge zufrieden?“ fragt Walter Krupinski und schüttelt Ede Marciniak die Hand. Marciniaks Sohn wollte nicht in den Pütt und ist dank der Vermittlung und Einflussnahme Krupinskis beim Referatsleiter in der Stadtverwaltung untergekommen. „Ja guck mal“, sagt Walter Krupinski, während er sich umdreht und dem Referatsleiter zuwinkt. „Da sitzt dein Kurzer direkt neben seinem Chef.“

 

 

„Also mir hat er gesagt“, sagt Ede Marciniak und verstummt, weil sich Walter Krupinski nun doch auf dem Weg zum Vorstandstisch begeben hat. Dieser befindet sich auf einem Podium, wo an Samstagabenden zum Tanz aufgespielt wird. Die mittlere Position am Tisch nimmt Walter Krupinski ein. Er wird zur Rechten und Linken von weiteren Vorstandsmitgliedern flankiert. Die werden auf dieser Veranstaltung wenig zu sagen wissen, weil sie im Schatten ihres Vorsitzenden sitzen. Der Ortsvereinsvorsitzende ist Betriebsratsvorsitzender unserer Zeche und einer der stellvertretenden Vorsitzenden des Unterbezirks. Gerade hat er die Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat des Bergbaukonzerns verstärkt. Dazu nimmt er ein Aufsichtsratsmandat in der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft wahr. Da sieht man, wofür die Siege der SPD in ihren Wahlkämpfen in Kombination mit der „qualifizierten Mitbestimmung“ gut sind.

 

 

Mittlerweile ist Walter Krupinski im gleichzeitigen Verrichten wichtiger politischer Aufgaben erfahren und um eine Konzentrierung seiner Arbeit auf das politisch Wesentliche bemüht. Indem er in seinen Grundsatzreferaten auf lokale und regionale Aspekte verzichtet, gelingt ihm die Fokussierung aufs Wesentliche. Aber wenn Positionen an Genossen und Kollegen zu vergeben sind, muss Politik wieder revierspezifisch werden. Man hat nun mal die Genossen einzusetzen, die man hier hat. Walter Krupinski lässt es sich nicht nehmen, einmal im Jahr das Grundsatzreferat in seinem Ortsverein zu halten. Allerdings hat Krupinski von Jahr zu Jahr mehr am Hut. Deshalb ist ein Referat Krupinskis kaum vom anderen zu unterscheiden. Das ist gut für uns, weil wir immer wissen, wo wir gerade in seinem Referat sind und wann wir Krupinski mit unserem Applaus zu bedienen haben. Walter Krupinski hält ein und entfaltet den Ückendorfer Anzeiger. Er sagt: „Wie unser Chefredakteur, der Genosse Alfred E. Neumann, in seinem letzten Leitartikel richtig festgestellt hat.“ Er beginnt daraus vorzulesen. Irgendwann geht er zu aktuellen Bezügen unabhängig von der Parteizeitung über. Wir klatschen und sind stolz auf Krupinski, weil er einer von uns ist und es so weit gebracht hat. In der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands scheint es einfach, das Richtige zu sagen. Wir werden daran erinnert, dass wir solidarisch für die Gerechtigkeit eintreten und für den Weltfrieden und die Demokratie mitverantwortlich sind. Wer mutig sein und die Genossen wachrütteln will, kommt nicht darum herum, den „Sozialismus“ zu buchstabieren. Es schadet nicht, an ein aktuelles Ereignis anzuknüpfen oder einen Bezug zu unserer Stadt herzustellen, aber nötig ist das im Grunde nicht.

 

Während die Katholische Arbeiterbewegung zu einem Geselligkeitsverein degeneriert und die Kommunistische Partei Deutschlands zu einer winzigen Sekte schrumpft, löst sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands von Inhalten und Konzeptionen. So muss man sich nicht vorzeitig festlegen, wenn es konkrete Entscheidungen zu treffen gilt.

 

 

Am Ende singen wir „Brüder, zur Freiheit, zum Lichte empor“. Walter Krupinski schafft es, am lautesten zu schmettern. Wir beschließen die Ortsvereinssitzung mit einem donnernden Applaus für den Genossen Krupinski. O nein, es geht weiter.

 

 

Ausnahmsweise stehen Entscheidungen an, weil der nächste Unterbezirksparteitag seine Schatten voraus wirft. Wie stünde der stellvertretende Vorsitzende des Unterbezirks auf dem Unterbezirksparteitag da, wenn sein eigener Ortsverein nicht mit eigenen Anträgen zur Umverteilung des Volksvermögens und zur Erhaltung des Weltfrie dens vertreten wäre? Der zweite Vorsitzende des Ortsvereins, Rudi Böhmer, ruft die Anträge der Reihe nach auf. Das sind alles Abschriften, die rührige Genossen mit Hilfe des „Vorwärts“ erstellt haben. Die Antragsberatungskommission des Unterbezirkstages liebt Anträge aus dem „Vorwärts“, weil sie dann weniger umschreiben und zusammenfassen muss. Die Anträge werden verlesen. Danach schreitet der Genosse Böhmer zur Abstimmung. Regelmäßig kommen wir zu Zustimmungsquoten von etwa 100%. Ganz genau wissen wir das allerdings nicht, da unsere überwältigende Zustimmung über Akklamation hergestellt wird. Walter Krupinski stößt Rudi Böhmer in die Seite. Damit signalisiert er ihm, dass er reden will. Rudi Böhmer sagt: „Ich erteile unserem Ortsvereinsvorsitzenden das Wort.“

 

 

Der Ortsvereinsvorsitzende steht auf und sagt: „Wie ihr vielleicht schon erfahren habt, liebe Genossinnen und Genossen, ist der Lehrer Michael von der Heyde von der Volksschule Holzstraße un ser Genosse geworden.“ Dazu gibt es verhaltenen Applaus, weil Kru pinski eine Pause gemacht hat. „Ihr sollt wissen, dass ich diesen Beitritt sehr begrüßt habe“, fährt Krupinski fort. „Liebe Genossinnen und Genossen, ich werde nicht müde, euch zu sagen, dass wir nicht nur diese Leute benötigen. Aber diese Leute brauchen wir auch.“ Wir applaudieren. Der Lehrer ist mittlerweile aufgestanden und verbeugt sich nach allen Seiten. „Unser Genosse von der Heyde hat es sich nicht nehmen lassen, unmittelbar nach seinem Beitritt solidarisch zu wirken“, fährt Krupinski fort. „Er hat einen Antrag für unseren Unterbezirksparteitag formuliert, und ich sage euch, liebe Genossinnen und Genossen, der kommt nicht aus dem „Vorwärts“.“ Wir sind für eine Schrecksekunde weggetreten. Dann staunen wir. Na so was. Alsbald wissen wir jedoch, was zu tun ist, und applaudieren den Beiden herzlich.

 

 

Unser neuer Genosse trägt seinen selbstformulierten Antrag vor. „Ich schreite zur Abstimmung“, sagt Rudi Böhmer. Wir heben die Hand. „Damit ist der Antrag einstimmig angenommen“. sagt Rudi Böhmer. Walter Krupinski hebt beschwörend die Hand. Diesmal wartet er nicht ab, dass ihm das Wort erteilt wird. „Nein, so geht das nicht“, sagt er. „Wir sind eine demokratische Partei, in der viel diskutiert wird. Erst muss uns der Genosse von der Heyde erklären, was er mit seinem Antrag gemeint hat.“ Der Genosse von der Heyde steht auf und erläutert, was er mit seinem Antrag gemeint hat. „Habe ich dir nicht gesagt, dass unsere Partei so vor die Hunde gehen wird?“ sagt Ede Marciniak. Aber er spricht leise. „Ich schreite zur Abstimmung“, sagt Rudi Böhmer. Wir heben die Hände. „Damit ist der Antrag einstimmig angenommen“, sagt Böhmer.

 

Ich beginne mich zu langweilen. Da stößt Ede Marciniak mich an. „Jetzt wird es spannend“, verspricht er im Flüsterton.

 

 

Auf der Zeche kreist das Gerücht, dass Walter Krupinski Rudi Böhmer zum politischen Abschuss freigeben will. Ein Grund soll sein, dass Böhmer ihm auf einer Vorstandssitzung widersprochen habe. Eine andere Erklärung lautet, dass Krupinski neue Mitglieder für die Sozialdemokratische Partei Deutschland gewinnen will. Damit diese auf ihrer ersten Ortsvereinssitzung nicht abgeschreckt werden und womöglich nie wiederkommen, sorgt er auf den Sitzungen für dramatische Momente.

 

 

Ede Marciniak hat recht gehabt. Ein Konflikt, an dem am Ende Blut fließen muss, wird inszeniert. Allerdings macht sich Walter Krupinski seine Hände nicht selbst schmutzig. Dafür hat er seine Leute. Einer der älteren Genossen steht auf. Er will wissen, ob der Genosse Böhmer den satzungsgemäßen Mitgliedsbeitrag zahlt. Rudi Böhmer beginnt zu stottern. Er verheddert sich in seinen Sätzen. Am Ende kommt heraus, dass er den satzungsgemäßen Mitgliedsbeitrag nicht zahlt. Aber er will es ab sofort tun. Das sei selbstverständlich, meint er. Vereinzelte Buhrufe ertönen. Weshalb hat der Genosse Böhmer das, was aus seiner Sicht selbstverständlich ist, nicht vor vornherein gemacht? 

 

 

Ich habe einer politischen Hinrichtung beigewohnt. Die Genossen um uns herum haben glänzende Augen. Einerseits gruselt es sie, weil sie selbst nicht beitragstreu sind und es sie theoretisch auf der nächsten Ortsvereinssitzung genauso erwischen könnte. Andererseits sind sie empört. Der Böhmer hat in seinen politischen Reden getan, als ob er die personifizierte sozialdemokratische Tugend sei. Und jetzt das. Ich berichte Walter­Erich Tränkert. „Die nehmen die Katholen und Kommunisten nicht einmal zur Kenntnis“, sage ich. „Sie führen ihre Siege auf die eigenen Leistungen und Verdienste zurück und sehen nicht, dass die politische Konkurrenz ohne ihr eigenes Zutun zusammengebrochen ist.“

 

 

„Die Sozialdemokraten wollen Wahlen gewinnen und Positionen besetzen, nichts sonst“, sagt Tränkert. „Ich halte das für falsch. Das ist alles viel zu kurzfristig und pragmatisch gedacht.“ Wenn Tränkert das Wort „Pragmatismus“ in den Mund nimmt, klingt es nach einer Verurteilung. Er fügt hinzu: „Wenn ihnen ihre strukturelle Mehrheit im Ruhrgebiet abhandengekommen ist, werden sie es nicht einmal bemerken.“ „Das kann aber dauern“, entgegne ich und habe damit ausnahmsweise gegenüber Tränkert Recht.

 

 

 

10.

 

In jeder Woche lese ich, kaum dass er am Montagmorgen herausgekommen ist, den SPIEGEL. Ich lasse nicht eine Zeile aus. Noch bin ich Lichtjahre von meiner Enttäuschung über den SPIEGEL entfernt. Ich kann kaum abwarten, bis der neue SPIEGEL erscheint. Erst nach mehreren Ausgaben komme ich dahinter, dass dieser nicht am Ende, sondern am Anfang der Woche herauskommt.

 

 

Es ist Montagmorgen und ich halte das aktuelle Exemplar in den Händen. Ich nehme zur Kenntnis, dass die Burschenschaften wieder auferstanden sind. Die Studenten, die die Burschenschaften repräsentieren, versichern dem SPIEGEL, dass sie im Augenblick nichts Reaktionäres vorhaben. Vielmehr fungieren die Bünde als eine Vergabestelle von Führungspositionen. Dafür sind ihre Alten Herren da, die gern etwas für den Nachwuchs tun, wenn dieser die gleichen Ansichten wie sie hat. Was es in der Bundesrepublik nicht alles gibt, staune ich, von dem ich bislang nichts gewusst habe.

 

 

Ich wende mich von der Titelgeschichte ab und beginne von vorn zu blättern. Nach den Leserbriefen kommen die Berichte zur Deutschlandpolitik unter der Rubrik „Bonn“. Mir stockt der Atem. Das kann nicht sein, sage ich mir. Der SPIEGEL behauptet, dass der Bergbau im Ruhrgebiet kaputtgeht. Für mich hört sich das an, als würde die Sonne erkalten. Wie ich einige Jahre später erfahre, ist die auf Kohle und Stahl basierende Wirtschaft des Ruhrgebiets seit mehr als einem halben Jahrhundert veraltet. Als in der Weltwirtschaftskrise alles darniederlag, merkte das keiner. Die Nazis verzögerten den fällig gewordenen Strukturwandel ein weiteres Mal, weil sie Kohle und Stahl für ihre Rüstung benötigten. Als ganz Deutschland zerbombt war, benötigten wir noch einmal Kohle und Stahl. Das geschah auf Kosten des Ruhrgebiets, dem es zum dritten Mal verwehrt wurde, sich zu erneuern. Mittlerweile ist der Druck auf die heimische Kohle stärker geworden. Weil wir so tief in die Erde buddeln müssen, um an die heimische Kohle zu kommen, kostet ihre Förderung mehr als in anderen Ländern. Öl wird zu Preisen an unsere Gestade geschwemmt, dass wir an Tausend und eine Nacht glauben. Bald wird Kernenergie für die Gewinnung von Strom eingesetzt.

 

 

Im Ruhrgebiet sind wir an Kohlehalden gewöhnt. Das sind Zwischenlager, die angelegt werden, um die Schwankungen der Nachfrage auszugleichen. Während ich mit dem Zug von der Siedlung zu meiner Lehrstelle und zurückfahre, lehrt mich der Augenschein, dass die Halden in den vergangenen Monaten höher geworden sind. Das ist ein erstes Indiz, dass die SPIEGEL­Redakteure ihre Geschichte nicht völlig erfunden haben.

 

 

Die Bergassessoren sehen sich im weltweiten Wettbewerb um die beste Produktionstechnik vorn, wenn nicht als die Nummer 1. Von wirtschaftlichen Zusammenhängen halten sie nichts. Als sie doch in ihre Bücher hineinschauen, ist es für den deutschen Steinkohlenbergbau beinahe zu spät. Sie realisieren, dass ein Großteil der Nachfrage nach heimischer Kohle weggebrochen ist. Die kehrt niemals wieder. Ist der Steinkohlenbergbau demnach im Ruhrgebiet erledigt? Das ist nicht der Fall. Die Bergassessoren sind Weltmeister im politischen Lobbying. Seit Kaiser Wilhelm haben sie sich durchgesetzt und können darauf vertrauen, dass der Staat hilft, wenn die Nachfrage aus geblieben ist. Sobald der Aufschwung zurückkehrt, kehrt der Bergbau zu seinen früheren Ansichten zurück und tut, als ob er privatwirtschaftlich organisiert sei.

 

Also bequemt sich der Vorsitzende des Gesamtverbandes Steinkohlenbergbau vom Casino zum Telefon und ruft den Bundeskanzler in Bonn an. Der wird es richten. Wie die anderen Politiker hat der Kanzler dem Glaubensbekenntnis der Interessenten für die Kohle zugestimmt, mindestens nicht widersprochen. Dieses lautet: „Die Bundesrepublik Deutschland beginnt zu brennen, wenn in Günnigfeld die rote Fahne gehisst wird.“ Als das Telefon im Bundeskanzleramt klingelt, tritt die eigentliche Katastrophe für den deutschen Bergbau ein. Wie sich zeigt, ist „der Alte“ in den Urlaub nach Cadenabbia gefahren, um dort Boccia zu spielen. Verfügt der deutsche Bundeskanzler an seinem Urlaubsort über ein Telefon? Das ist nicht leicht zu eruieren. Aber wenn der Bundeskanzler ein Telefon hätte, wäre er im Urlaub allenfalls für den Präsidenten der USA und den Ministerpräsidenten Frankreichs zu sprechen, wird im Bundeskanzleramt verlautbart. Für wirtschaftliche Zusammenhänge interessiert er sich nicht oder allenfalls, wenn Wahlen anstehen. Oder „der Alte“ weiß alles und möchte seinen Wirtschaftsminister gegen die Wand laufen lassen. Der glaubt in letzter Zeit, dass er der bessere Bundeskanzler sei. Er muss es nur werden. „Wenn in Günnigfeld die rote Fahne gehisst wird, beginnt die Bundesrepublik Deutschland zu brennen“, wendet der Präsident des Gesamtverbandes Steinkohlenbergbau in seinem Gespräch mit dem Bundeskanzleramt ein. „Das mag sein“, sagt der Staatssekretär, der mit seinem Kollegen im Bundeswirtschaftsministerium befreundet ist und von diesem ins Kanzleramt empfohlen wurde. „In den nächsten Wochen geht jedoch Boccia vor.“

Demnach haben sich die Bergassessoren an den Wirtschaftsminister zu halten. Das sagen sie sich voller Graus. Aber was hilft es? Alles, was im deutschen Steinkohlenbergbau Rang und Namen hat, wirft sich in Schale und fährt im Autokorso von Essen nach Bonn.

 

 

Anders als der Bundeskanzler weiß der Wirtschaftsminister wenig von den Realitäten des Lebens, weil er von der Hochschule kommt. Der Professor glaubt, dass das, was er in seinen Büchern geschrieben hat, einen engen Bezug zur Wirklichkeit aufweise. Oder besser, dass es die Wahrheit und Wirklichkeit sei. Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass eine fehlinformierte Öffentlichkeit die gegenwärtige wirtschaftliche Blüte auf den Wirtschaftsminister zurückführt. Uns ginge es gut, meint sie, weil unser Wirtschaftsminister für uns gesorgt hat. In Wahrheit ist der Mann eine Galionsfigur. Der Aufschwung wäre auch ohne ihn gekommen, da der Wiederaufbaubedarf im zerbombten Deutschland ein gigantischer war.

 

 

Der Bundeswirtschaftsminister bittet in sein bescheidenes Büro. Dort einigt man sich, mit einer Darstellung der aktuellen Lage zu be­ ginnen. Ohne eine Analyse und Bewertung des Hier und Heute soll nichts über das Knie gebrochen werden. Derzeit sinken die Ums ätze im Steinkohlenbergbau dramatisch. Obgleich die Wirtschaft in anderen Branchen boomt, ist eine Wiederbelebung der Nachfrage nach deutscher Kohle nicht zu erkennen. Demnach befinden wir uns in einer strukturellen, nicht konjunkturellen Krise. Werden die Umsatzein brüche nicht binnen kürzester Zeit kompensiert, ist der deutsche Steinkohlenbergbau am Ende. Die Konzerne müssten eine Zeche nach der anderen schließen. Dazu wären sie aus Verantwortung gegenüber ihren Aktionären gezwungen.

 

 

Jetzt realisieren die Assessoren, dass der Wirtschaftsminister sie in der Eröffnungsphase ihres Gespräches nicht mit den üblichen marktwirtschaftlichen Standardsätzen zu necken versucht hat. Noch wollte er sie terrorisieren. Vielmehr hat er alles so gemeint, wie er es gesagt hat. Keinesfalls will er, wie sich nun zeigt, die Schatulle staatlicher Zuwendungen öffnen.

 

 

„Sie möchten wirklich“, vergewissert sich einer der Bergassessoren, „dass in Günnigfeld die rote Fahne gehisst wird?“ „Wir sollten hier über wirtschaftliche Zusammenhänge reden“, sagt der Bundeswirt schaftsminister. „Für andere Verantwortungsbereiche ist mein Haus nicht zuständig.“ „Reden wir von den Hunderttausenden von Arbeits plätzen, die in Kürze verlorengehen“, sagt der Bergassessor. „Das Ruhrgebiet würde zu einem wirtschaftlichen Notstandsgebiet.Möchten Sie solches politisch verantworten?“

 

 

Ohne dass dies einer gemerkt hätte, hat dieser Mann gerade eine Premiere vollbracht. Ein Bergassessor hat ein erstes Mal den Be ­ griff des „Ruhrgebiets“ nicht nur gedacht, vielmehr in den Mund genommen. Wenn die nächste Bergbaukrise im Ruhrgebiet ansteht,  werden alle Bergassessoren wissen, welche propagandistische Wucht dieser Begriff entfalten kann und wie er sich gegen das Ruhr gebiet wenden lässt. Der Augenblick ist vorübergegangen. Der Bundeswirt schaftsminister befindet: „Der Markt wird Ihre Kumpels schon absorbieren. Wir befinden uns mitten in einem Boom.“ Die Bergas sess oren sehen sich entgeistert an. Unser Land hat einen Wirt schafts minister, der geisteskrank ist. „Geben Sie uns eine kleine Li quid i tätshilfe, auf dass wir uns umorientieren können“, sagt der Vorsitzende des Gesamtverbandes Steinkohlenbergbau, als sich ihr Ges präch dem Ende zuneigt. „Wir wären bereit, uns auf wenige Milliarden zu beschränken.“ „Ein Vorschlag zur Güte eben“, fügt er hinzu. Diesen Vorschlag muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. 1957/58 beträgt der Bundesetat gerade mal 30 Milliarden DM. Auch meint der Verbandsvorsitzende es mit seinem Vorschlag nicht ehrlich. Vielmehr rechnet er anders: Wenn die ersten Milliarden geflossen sind und ein Präzedenzfall geschaffen ist, wird „der Alte“ aus Cadenabbia zurückgekehrt sein. Alsbald werden alle Politiker wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland zu brennen beginnt, sobald die rote Fahne in Günnigfeld gehisst ist.

 

 

Aber der Wirtschaftsminister will sich nicht von Interessenten und Lobbyisten über den Tisch ziehen lassen. „Sie haben sich bislang um das Produzieren, aber nie um Ihren Absatz gekümmert“, sagt er. „Statt Kohle zu verteilen, sollten Sie lernen, wie man Kohle verkauft.“ „Wie sollen wir Kohle verkaufen, wenn es keine Nachfrage nach deutscher Kohle gibt?“ fragt ein Bergassessor. „Wenn dem so ist, muss ich nicht einmal in meinem Lehrbuch nachschlagen, um Ihnen zu raten“, sagt der Minister.

 

 

In den folgenden Wochen frage ich alle, die ich kenne und die etwas wissen könnten, nach der Zukunft der Kohle. Meine Gesprächspart ner verstehen die Frage nicht. Sie blicken verständnislos. Was hast du gesagt, fragen sie. Was soll mit der Kohle sein? Ja, wird im Ruhrgebiet nicht der SPIEGEL gelesen? Ich lese jeden Morgen die Ruhr Nachrichten. Ich kaufe den Ückendorfer Anzeiger und die Westd eutsche Allgemeine Zeitung dazu. Ich finde nichts von einer Bergbaukrise. Sollte der SPIEGEL und damit auch ich einer Ente  auf gesessen sein?

 

 

Von einem Tag auf den anderen geht dann alles sehr schnell. DieBergassessoren sehen zur raschen Schließung vieler Zechen keine Alter native. So haben sie dem Wirtschaftsminister am Ende doch, obgleich sie das wahrscheinlich nicht wollten, die Wahrheit gesagt. Jetzt vergeht kaum eine Woche, in der nicht die Schließung einer weiteren Zeche angekündigt und eingeleitet wird. Die Nachbarstadt Bochum besteht wirtschaftlich aus wenig mehr als dreißig Zechen. Binnen Jahresfrist ist sie bergwerksfrei.

 

Die Zeche meines Vaters wird stillgelegt. Die Kumpels werden in die Arbeitslosigkeit entlassen. Für die älteren Kumpels wird ein Sozialplan ausgehandelt. Sie beziehen ein Jahr Arbeitslosengeld und danach Rente, obgleich dies nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen nicht möglich ist. Aber die Bonner Sozialpolitiker können sich nicht um solche Kleinigkeiten kümmern. Sie haben zu verhindern, dass in Günnigfeld die rote Fahne gehisst wird.

 

 

Meinem Vater wird die Rente gekürzt. Andererseits hat er weniger Staublunge und ein paar Lebensjahre mehr als wenn er weitergearbeitet hätte. So hat er einmal in seinem Leben doch Glück gehabt. Wir ziehen in ein Hochhaus der Kurt­Schumacher­Siedlung. Das ist die vielleicht größte Annäherung des Ruhrgebiets an das Märkische Viertel. Dort kennen wir zwar keinen Menschen. Aber dafür haben wir ein Klo in der Wohnung und besitzen eine Badewanne. Wir sind begeistert, dass uns kein Nachbar hört, während wir in das eigene Klo scheißen. In meiner Zechensiedlung ist der Zusammenhalt verloren gegangen. Man sieht sich kaum mehr, selbst wenn man nicht umgezogen ist. Ohne den Rückhalt der Zeche verwandeln sich enge Freundschaften in Nichts. Trifft man sich doch einmal, weiß man aus Verlegenheit nicht, was man sagen soll. Jeder lebt sein eigenes Leben, das nunmehr anders als das Leben der anderen ist. Von unserer Zeche bleibt der Name einer Bushaltestelle übrig. In wenigen Jahren wird niemand wissen, was „Siebenplaneten“ war. Die Musealisierung des Ruhrgebiets hat noch nicht eingesetzt. Die jetzigen historischen Artefakte sind auf immer verloren.

 

 

Politik und Medien des Ruhrgebiets haben die Stilllegungen zur Kenntnis genommen. Niemand fragt, wie es dazu gekommen ist. Keiner stellt die Frage, welche politischen Konsequenzen aus der ersten Bergbaukrise zu ziehen sind. Wir nehmen alles hin und malochen weiter, wie uns gesagt wird.

 

 

Während der Süden des Ruhrgebiets bergbaufrei ist, wird im Norden des Reviers weiter gefördert. Das kommt, weil die dortige Kohle höher liegt und sich mit geringeren Kosten fördern lässt. Die größte Stadt im Norden ist Gelsenkirchen. Dort wird in diesem Jahr ein weiterer Stadtfilm gedreht. In den Filmen kommen Kohle und Stahl nicht vor, weil sie so selbstverständlich wie die Luft sind. „Wenn wir weiter so gut vorankommen, werden wir bald alles haben, was Bielefeld hat“, verlautbart der Oberbürgermeister, während er eine weitere Grünzone einweiht. Soll heißen, die Bergbaukrise im Süden geht uns nichts an. Mutig schreiten wir dem Schwellenwert von 400.000 Einwohnern in unserer Gemeinde entgegen. Niemand kommt auf die Idee, dass die Stadt in wenigen Jahren vor dem Nichts stehen wird.

 

 

Die Bergassessoren sind besonders erbost, weil der Bundeswirtschaftsminister in einem zentralen Punkt Recht behält. Die Bundesrepublik befindet sich im Boom. Die freigesetzten jungen Bergleute kommen in anderen Branchen und Tätigkeitsbereichen unter. Das Ruhrgebiet tritt in seine erste und letzte Modernisierung ein. Nur schade, dass sie so kurz ist und unvollständig bleibt. In Kürze wird sich keiner erinnern, dass es diese Phase gegeben hat.

 

 

„Das passiert uns nicht wieder“, schwören die Bergbauassessoren einander in ihren Casinos. „Von nun an sind wir gewappnet und halten den Strukturwandel im Ruhrgebiet auf.“