Kapitel 7

           7. KAPITEL 1955–1958

 

   Versicherungswirtschaft im Ruhrgebiet: Die umfassende Unterforderung

 

Der niedrige Stand der Versicherungskaufleute schlägt sich in staunenswert niedrigen Vergütungen nieder. Der Präsident des Arbeitgeb erverbandes der Versicherungswirtschaft erklärt die Tarif verhand lungen für seine Branche öffentlich zu einem Witz. „Wenn die Arbeitnehmerseite das dritte Mal aus ihren Beratungen herauskommt“, sagt er, „sagen wir ihnen, was wir ihren Leuten im nächsten Jahr zahlen.“ Davon wissen wir, die wir in den Zechensiedlungen wohnen, nichts. Aber wir nehmen mit der Zeit wahr, dass die Versicherungswirtschaft sogar Proletarierkinder einstellt. Das Hemd eines Bewerbers mag nicht blütenweiß sein. Die Spitzen des Kragens wölben sich. Die Krawatte wurde bemitleidenswert gewickelt. Besser kann das unsereins nicht. Da aber die Versicherungswirtschaft stärker als jede andere Dienstleistungsbranche wächst, hat sie zu nehmen, wen sie kriegen kann.

 

 

In jenen Jahren heißen die Bundesbürger, ja, im Nachhinein wundert man sich, Versicherungsvertreter willkommen. So viele Katastrophen haben sie in den letzten Jahrzehnten erlebt, dass sie nicht noch einmal untergehen möchten. Ihnen verlangt vor allem nach Sicherheit. Sollte eine weitere Katastrophe in Zukunft nicht zu vermeiden sein, möchten sie zumindest entschädigt werden.

 

 

An diesem Bedürfnis setzen die Versicherungsgesellschaften mit ihren Heerscharen an Außendienstmitarbeitern an. So sehr nehmen diese Unternehmen am Aufbau der Republik teil, dass sie der hereinströmenden Prämien nicht Herr werden. Folglich legen sie einen Teil der hereinsprudelnden Gelder in Versicherungspalästen, einen anderen Teil in Fremdimmobilien und einen dritten Teil in ihren Belegschaften an.

 

 

Ich trete beim Bürochef der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG für das östliche Ruhrgebiet zu einem Vorstellungsgespräch an, nachdem ich mich schriftlich beworben und dabei nicht alles falsch gemacht habe. Ich habe das Glück, dass der Filialdirektor wie zufällig beim Bürovorsteher hereinschneit und dem Einstellungsgespräch beiwohnt. Der Filialdirektor interessiert sich nicht für die Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten, mit denen sich seine Verwaltung abgibt. Macht nicht der Innendienst aus jeder Angelegenheit einen Furz? Die direktorale Aufgabe besteht darin, den Außendienst brummen zu lassen. Von diesem kommt seine eigene anteilmäßige Provision. „Kommen wir zum Ende“, drängt er, als der Büroleiter in meinen Unterlagen blättert und eine weitere Frage stellen will. Ein Bürovorsteher widerspricht seinem Filialdirektor nicht. „Montagmorgen, halb acht“, sagt er zu mir. „Seien Sie pünktlich.“ So lässt mich die Versicherungswirtschaft in ihre Heiligen Hallen ein, weil ein Filialdirektor erste Anzeichen von Ungeduld gezeigt hat.

 

 

2.

 

Ich stelle mich am Montag knapp vor 7.30 Uhr vor den Räumen der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG für das östliche Ruhrgebiet ein. Der Eingang in die Filialdirektion steht weit offen, als sei er ein Scheunentor. Mitarbeiter gehen an mir vorbei in die Büros. Ich gehe mit ihnen und strebe dem Zimmer des Bürovorstehers Heinrich Ludwig entgegen. Der hat momentan keine Verwendung für mich. „Bleiben Sie in der Nähe“, sagt er und wendet sich abermals der Ausgangstür zu. Die Eingangstür der Filialdirektion wird werktäglich gegen 6.55 Uhr geöffnet. Punkt 7.30 Uhr wird sie vom Büroleiter persönlich ge schlossen. Mitarbeiter, die später kommen, sind gezwungen, klingelnd Einlass zu begehren. Alsbald öffnet der Büroleiter die Tür, hinter der er gelauert hat, um an diesem Tag seine erste Predigt zu halten.

 

 

Präsenzpflicht und Pünktlichkeit werden in der Versicherungswirtschaft wichtig genommen. Das kommt, weil hier keine Produkte hergestellt werden. Sollte es sie doch geben, kann man sie weder sehen noch anfassen. Deswegen werden in der Versicherungswirtschaft we niger konkrete Fertigkeiten als Gehorsam sowohl gegenüber allgemeinen Regelungen als auch gegenüber einzelnen Anweisungen ge prüft. So mögen Vorgesetzte erwarten, dass man neun Stunden ohne Unterlass an seinem Schreibtisch ausharrt. Dabei darf man ausschließlich Bemerkungen machen, die sich auf aktenmäßig erfasste Vorgänge beziehen.

 

„Jetzt kann ich mich um Sie kümmern“, sagt der Bürovorsteher zu mir, nachdem er sich von seinem letzten zu spät gekommenen Mitarbeiter gelöst hat. „Ich habe Sie für die „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ vorgesehen. Folgen Sie mir.“ Der Büroleiter bringt mich einen langen Gang der „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ entgegen. Rechts und links befinden sich diverse Büros. Sie sind von dem Gang durch Wände abgetrennt. Diese sind unten aus Sperrholz und oben aus Glas. So kann Heinrich Ludwig von seinem Zimmer aus jederzeit sehen, wer von den Mitarbeitern herumsteht oder mit einem anderen Mitarbeiter spricht. Ludwig liefert mich bei der Leiterin der „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ ab.

 

 

„Ich habe Sie der Gruppe der Stempler zugeteilt“, sagt die Abteilungs leiterin Magda Borowski. „Aber warten Sie. Erst stelle ich Sie den anderen Mitarbeitern meiner Abteilung vor. Soviel Stil muss sein, wenn man eine Frau ist.“ Da hat sie es ihrem alten Verehrer Ludger Baranowski wieder gegeben, der nach wie vor nicht von ihr lassen kann, obgleich er mittlerweile vier Kinder von einer anderen Frau sein Eigen nennt und während der Arbeitszeit vier Sperrholzwände von Magda Borowski getrennt bleibt.

 

 

Die Namen der Mitarbeiter rauschen an mir vorbei. Die neuen Kollegen schauen mich an, als ob sie für jede Abwechslung dankbar seien. Sie blicken auf ihre Akten zurück. Meine Abteilungsleiterin weist mich in meine Arbeit ein. Diese besteht wie bei anderen Stemplern darin, einen Stempel zu schwingen und die auszufertigende Versi che rungspolice mit einer fortlaufenden Nummer zu versehen. „Haben Sie das verstanden?“ fragt Magda Borowski. „So viel war das ja nicht“, sage ich. „Diese Versicherungspolicen sollen von Ihnen ge stempelt werden“, sagt Magda Borowski und weist auf acht unvollständige Policen, die auf meinem Schreibtisch liegen. „Glauben Sie, dass Sie das bis zum Ende Ihres Arbeitstages hinbekommen?“ „Das sieht machbar aus“, versetze ich. Frau Borowski überlässt mich meiner Arbeit.

 

 

Ich nehme an meinem Schreibtisch Platz. Dort nehme ich mir die Versicherungspolicen vor. Zack, zack, zack. Und zack, zack, zack. Zack, zack. Schon sind alle mir anvertrauten Versicherungspolicen gestempelt. Ich blicke mich um. Wo bekomme ich weitere Policen her? „Sie sollten sich Ihre Arbeit über den Tag besser verteilen“, haucht mir ein Stempler vom gegenüberliegenden Schreibtisch zu. Fast musste ich von seinen Lippen lesen. „Danke, Kumpel“, sage ich und frage weiter: „Ist das immer so, dass man hier keine Arbeit bekommt?“ „Ich habe noch die Zeiten erlebt, dass wir zwölf Versicherungspolicen an jedem Morgen erhielten“, sagt mein Gegenüber. „Aber dann kam ein neuer Schwung Mitarbeiter herein, und die vorhandene Arbeit musste neu aufgeteilt werden.“ Ein erstes Mal sehe ich für die Bundesrepublik Deutschland eine Angestelltengesellschaft voraus, in der alle beschäftigt, aber ohne Arbeit sind. „Warum machen die Abteilungsleiter diesem Spuk nicht ein Ende?“ erkundige ich mich. „Weil sie es sind, die diese Entwicklung vorantreiben“, sagt mein Gegenüber. „Sie melden nach oben, dass wir vor lauter Arbeit weder ein noch aus wissen.“ „Wird hinten auf den billigen Plätzen nicht gearbeitet?“ ruft Magda Borowski. Mein Gegenüber und ich verstummen. Nach einer Weile nehme ich unser Gespräch wieder auf. Mittlerweile flüstere ich wie die anderen. Ich erkundige mich, ob die Gruppe der Stempler ausschließlich aus Auszubildenden bestehe. „Das ist durchwachsen“, sagt mein Gegenüber, der sich mittlerweile als Lehrling im zweiten Lehrjahr vorgestellt hat. Es gäbe auch voll ausgebildete Ver sicherungskaufleute unter uns. Irgendwann hätten sie sich ihre Chancen auf einen Aufstieg bei Magda Borowski verscherzt, ohne bis heute zu wissen, was ihr Fehler gewesen sei. Nun müssten sie ein Leben lang ihren Stempel schwingen, ohne sich Hoffnungen auf eine Verbesserung machen zu dürfen.

 

 

Das bedeute nicht, dass unsere Abteilungsleiterin nicht alle Mita rbei ter mit der Möglichkeit eines beruflichen Aufstiegs zu führen und verführen suche, fährt mein Gegenüber fort. Zuvor hat er sich vorsichtig umgesehen. Jetzt vermutet er, dass Magda Borowski anderweitig zu beschäftigt ist, um unser Gespräch stören zu können. Erst locke sie, dann versage sie sich. Damit binde sie ihre diversen Ge folg schaften innerhalb der Abteilung fester an sich. Andererseits lohne sich ein Aufstieg finanziell nur wenig. Manchmal gäbe es nur einen neuen Titel. Die Arbeit, die man nach einer Beförderung verrichte, sei fast so anspruchslos wie die vorangegangene, sofern sie sich überhaupt verändert habe. Zwar durchwandere man als Lehrling mehrere Abteilungen. Aber die Arbeit für Lehrlinge in anderen Abteilungen sei fast noch kleinteiliger als bei uns gestrickt. „Und die Berufsschule?“ frage ich mein Gegenüber, weil mir dort am ehesten ein wenig Abwechslung möglich erscheint. „Warten Sie ab, bis Sie den §38a des Versicherungskontraktgesetzes (VKG) kennengelernt haben“, sagt der Lehrling. „Wenn Sie den können, wird die Kaufmannsgehilfenprüfung für Sie zu einem Kinderspiel.“ Ich sage: „Wenn es keine Arbeit für uns gibt, sollten wir einen trinken gehen.“ Halb erhebe ich mich, wohlwissend dass ich lediglich scherze. „Sind Sie verrückt?“ haucht mein Gegenüber. „Wir sitzen hier, um Arbeit zu simulieren. Dafür bekommen wir unser Geld und eventuell eine lebenslängliche Anstellung.“ Ich folgere, dass ich in der Versicherungswirtschaft gut überleben kann. Wenn ich keine Ar beit bekomme, wird es für mich kaum möglich sein, etwas falsch zu machen.

 

 

3.

 

Ich empfinde mich als Insasse einer Hölle, die aus einer umfassenden Unterforderung besteht. Es gibt nichts, was meinen Gehirnzellen erlaubte, sich zu betätigen. Ich präge den Begriff der „Isolationsfolter“. Später erfahre ich, dass mein Begriff von anderen übernommen wurde. Neuerdings macht er in politisierten Zusammenhängen auf nationaler Ebene die Runde.

 

 

Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen, wenn ich überleben will, zumal ich nicht in den Sack hauen kann. Ich würde zu einem Asozialen gestempelt, der seine Chancen gehabt und alle vergeigt hat. Vielleicht nähme mich nicht einmal der Pütt. Auch habe ich noch nicht meine Probezeit herum. Demnach muss ich doppelt angepasst erscheinen.

 

 

Meine provisorische Lösung lautet, dass ich ein Manuskript erstelle. Ich spreche mir Mut für mein Vorhaben zu. Wer viel gelesen hat, kann auch viel schreiben. Bevor ich in die Versicherungswirtschaft einstieg, habe ich ein erstes Manuskript verfasst. Ich habe es „Theorie der Scheiße“ genannt, weil es sich um eine Ausformulierung der Spielregeln des gleichnamigen Würfelspiels handelte. In meinem zweiten Manuskript erörtere ich, wie man mit nicht vorhandener Arbeit umgehen und gleichwohl bei Kräften bleiben kann.

 

Ich halte die in der „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ geltenden Spielregeln einigermaßen ein, indem ich in einer halbgeöffneten Akte schreibe. Sobald ich mehrere Sätze verfasst habe, mache ich die Akte zu. Ich schaue verstohlen, ob ich beobachtet werde. Ich ziehe eine schon gestempelte oder noch nicht gestempelte Versicherungspolice heran. Ich tue so, als ob ich über sie sinnierte. Nach einer Weile öffne ich die Akte, die die letzte Seite meines Manuskriptes enthält.

 

 

Die Stempler um mich herum beäugen mich interessiert. Aber sie sagen nichts und verraten mich nicht, weil ich keine Konkurrenz für sie bin. Ich werde auf absehbare Zeit nicht aufsteigen und an ihnen vorbeiziehen. Wenn sie sehen, was ich hier anstelle, ist es unwahrscheinlich, dass Magda Borowski mich jemals befördern wird. Warum sollten sie mir schaden wollen? Im Gegenteil, ich sorge für etwas Abwechslung, wenn der Arbeitstag niemals vergehen will.

 

 

Der stellvertretende Abteilungsleiter kommt mir auf die Schliche. Aber er sagt nichts. Er sieht sich in unserer Abteilung halb als Vorgesetzter, halb als Kollege. In dieser Ambivalenz wird er gefangen bleiben. In meinem Fall hat er sich vorläufig entschieden, mein Kollege zu sein, obgleich ich andererseits nur ein Lehrling bin. Das mag sich in jeder Minute ändern.

 

 

Haben die Inhalte meines Manuskriptes etwas mit dem zu tun, was die anderen erleben könnten? Alles, was ich beschreibe, findet sein Gegenstück in der Realität. Allerdings verharmlose ich manches. Die Wahrheit würde mir keiner abnehmen.

 

 

Ich nenne mein zweites Manuskript „Zeitmanagement in der Versicherungswirtschaft“. Insgesamt entdecke ich acht Möglichkeiten, an einem Schreibtisch zu überleben, wenn man kaum oder keine Ar beit bekommt. Alle Strategien, soweit ich sie kennenlernte, haben ihre besonderen Vor­ und Nachteile.

 

 

Eine erste Möglichkeit, mit kaum vorhandener Arbeit umzugehen, besteht darin, nicht um sich zu schauen, vielmehr reinzuhauen und mit seiner Arbeit alsbald an ihr Ende gekommen zu sein. Wählt man diese Option, mag man für eine Nanosekunde in einen Rausch der Geschwindigkeit geraten und sich in ihm glücklich gefangen fühlen. Diese Vorstellung von Glück kommt mir persönlich entgegen. Ich werde mich nie davon distanzieren. Den Ansatz nenne ich „Nach der Arbeit die Sintflut“. Allerdings räume ich mit dieser Benennung ein, dass die, die dieses Verfahren anwenden, einen Preis zu entrichten haben. Ist ein Moment des Glücks neun Stunden anschließendes Leiden wert?

 

 

In meinem zweiten Verfahren werden die Stunden des Arbeitstages durch die Anzahl der zu bearbeitenden Versicherungspolicen geteilt. So erhält man gleich große Intervalle. In einem ersten Schritt liegt es nahe, es dabei zu belassen, so dass das Intervall eine Konstante ist, die sich auf einen Werktag bezieht. Der Zweck dieser Berechnung besteht darin, das Stempeln der Versicherungspolicen über den Tag zu verteilen. So wird die trübe Stimmung unter den Mitarbeitern durch die Hoffnung aufgehellt, man werde das nächste Intervall lebendig erreichen. Dazu kommt das Wissen, dass alle Intervalle zeitlich begrenzt sind. So mag sich ein Stempler seine Zeit damit vertreiben, verstohlen auf die Uhr zu blicken und zu berechnen, wie viel Zeit seit der letzten Stempelung vergangen und wie viel Zeit zu überstehen ist, bis er abermals seinen Stempel schwingen darf.

 

 

Es bleibt nicht aus, dass die Stempler das Modell der Intervalle weiterentwickeln. Varianten ergeben sich, sobald die Stempler die Intervalle zwischen den geschwungenen Stempeln nicht als Konstante, sondern als Variable auffassen. So mag das eine Intervall lediglich eine Viertelstunde, das nächste aber vier Stunden umfassen (Strategie Nummer 3).

 

 

Eine weitere Möglichkeit, seine Intervalle variabel zu halten, besteht darin, dass man seinen Stempel einmal zu Beginn, dann in der Mitte und zuletzt am Ende des Intervalls schwingt. Oder man wählt innerhalb eines Intervalls so genannte Interventionspunkte, die so unkonventionell sind, dass man sich fragt, wie man darauf gekommen ist. Allerdings ist nicht klar, wie sich das dritte und vierte Verfahren an seinen Ergebnissen erkennen lässt (Strategie Nummer 4). Stempler tendieren nach meinen Beobachtungen dazu, den Beginn eines Intervalls zu wählen, um den Stempel zu schwingen. Mein Ge­ genüber teilt mir für dieses Phänomen eine einleuchtende Be gründung mit: „Wir haben solange gewartet, und jetzt können wir nicht mehr.“ Welches Modell mit variablen Intervallen ist dem anderen überlegen? Darüber ließe sich ein Leben lang streiten. Daher mag der eine oder andere verlangen, man möge zum Modell konstanter Intervalle zurückkehren. An dieser Stelle meines Manuskripts erhebe ich Einspruch. Warum soll man sich nicht mit einer Frage ewig auseinandersetzen, frage ich, wenn sich die Arbeitszeit so besser totschlagen lässt. Somit bin ich bei philosophischen Fragestellungen angekommen: Muss man für alle offenen Fragen zu Ergebnissen kommen? Warum vertragen wir Unsicherheiten schlecht, selbst wenn sie uns nützen und Sicherheit im Grunde auf Einbildung beruht? Ein Kapitel weiter spreche ich die Möglichkeit wenn nicht Notwendigkeit einer Personalisierung oder Individualisierung an: Existiert das optimale Modell variabler Intervalle auf Abteilungs­ oder sogar auf Unternehmensebene? Oder ist das optimale Modell notwendigerweise von Mitarbeiter zu Mitarbeiter verschieden? Wäre dem so, hätte jeder seinem Gusto zu folgen und diesem zu frönen? Ich stelle mir eine weitere Frage: Sollte der Mitarbeiter die Länge seiner Intervalle vorher festlegen und sich unbedingt an die eigene Festlegung halten? Meine Antwort darauf lautet „Ja“, sodass ich zumindest hier zu einem eindeutigen Ergebnis komme. Die Begründung dafür ist einfach: Täte der Mitarbeiter das nicht, kehrte er unvermittelt zum Modell „Nach der Arbeit die Sintflut“ zurück und würde je nach seiner mentalen Ausstattung darunter leiden.

 

 

Das fünfte Verfahren nenne ich das „sportliche“. Die Mitarbeiter, die diesem Ansatz folgen, legen es darauf an, Versicherungspolicen so lange nicht zu stempeln, wie sie das schaffen, und das möglichst länger als dies jeder Kollege, der nunmehr ein Wettbewerber geworden ist, kann. Dieses Modell erfreut sich in meiner Umgebung großer Beliebtheit, weil das Ausleben von Konkurrenzbeziehungen den Blutdruck hebt und die Wangen rötet. Ich trete gelegentlich gegen mich selbst an und verbessere meine persönliche Bestleistung. Den wahren Meistern in diesem Spiel gehe ich aus dem Weg, weil sie aus meiner Sicht zu viel Leid auf sich laden. Wenn sie zwei Tage lang keine Versicherungspolice gestempelt haben, laufen ihnen Bindfäden aus Schweiß übers Gesicht. Sie halten sich unter Aufbietung größerer Kräfte an ihren Schreibtischen fest. Gleich, sollte man meinen, kippen sie um und winden sich auf dem Boden in Krämpfen. Aus der Versicherungswirtschaft ist bekannt, dass ein mitarbeiterübergreifender Arbeitsvollzug desto häufiger stockt, je seltener er beschickt wird. Würde ich in Plausibilitäten gedacht haben, hätte der umgekehrte Zusammenhang nahegelegen. Das „sportliche Modell“ liefert die Erklärung: Wenn man nichts zu tun bekommt, tut man selbst nichts mehr.

 

 

Manche Kollegen wenden sich vom „sportlichen Modell“ ab, nach­ dem sich die Aussendungsvorbereiter in der „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ über die Stempler be schwert haben. Diese halten im Workflow der Abteilung die Arbeitss tufe nach den Stemplern besetzt. Ihre Aufgabe besteht darin, die gestempelte Versicherungspolice über eine Büroklammer mit einem An schreiben an den Versicherungsnehmer zusammenzuheften.

 

 

Nach dem einige von ihnen über mehrere Tage keinen Nachschub er halten haben, erleiden sie Koliken. Die Abteilungsleiterin Magda Bo rowski greift hart durch, nachdem sie eine Beschwerde erhalten und eigene Nachforschungen angestellt hat. Sie lässt den Halter des aktuellen Hausrekordes nach Rücksprache mit Heinrich Ludwig in die „Abteilung zur Prüfung von Versicherungsanträgen“ versetzen. Solches, glaubt sie, entfalte abschreckende Wirkungen, da der dortige Abteilungsleiter Ludger Baranowski mit seinen Mitarbeitern ruppiger als Magda Borowski umgeht. Der hatte sich selbst jede Milde verboten, nachdem ihm die Borowski einen Korb gegeben hatte. Ich entdecke ein sechstes Modell, als es zu Stockungen im Arbeitsvollzug der uns vorgelagerten „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ kommt. Warum sich solches ereignet hat, wissen wir nicht. Jedenfalls haben sich alle Mitarbeiter unserer Abteilung die Frage zu stellen, wie sie diesen Stau überleben wollen. Bricht man diese Frage auf die Stempler herunter, so lautet sie: Wie entgehe ich über längere Zeit den Koliken, wenn es weit und breit keine zu stempelnde Versicherungspolice gibt? Die Antworten, die sich nach etlichen Versuchs­und­Irrtums­Verfahren ergeben, lauten: Man muss das Gehirn von jedem Gedanken befreien, damit es nicht unter dem Ausbleiben aller Sinneseindrücke in pulsierende Schmerzen fällt. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es mehrere Wege wie die Augen zu schließen, sich zu bemühen, keinen Gedanken aufkommen zu lassen, und sich selbst mit „Om“ statt „Herr Meier“ anzureden. Versuche, eine möglichst vollständige Entleerung des eigenen Gehirns zu bewirken, fasse ich unter dem Begriff des „Büroschlafs“ zusammen. Schläft also jemand spontan ein oder dämmert er vor sich hin, ohne sich dabei etwas zu denken, fällt er nicht unter meine Vorstellung von „Büroschlaf“.

 

 

Mein siebentes Modell verdanke ich Gregor Vogel. Ich wende mich ihm zu, weil ich ihn für einen Büroschläfer halte. Da irre ich mich. Vogel sitzt mit undurchdringlicher Miene und untadeliger Haltung am Schreibtisch, während sein Stempel leicht über eine zu stempelnde Versicherungspolice schwebt, so als wolle er in jedem Augenblick auf das Dokument herunterfahren. Stunde um Stunde geht vorüber, ohne dass sich der Stempel einen Millimeter bewegt hat. Wenn ich nach Feierabend als einer der ersten die Filialdirektion verlasse, ist Vogel am eigenen Schreibtisch sitzen geblieben. Kehre ich am nächsten Werktag zurück, sitzt mir Vogel schräg gegenüber. Sollte Vogel die Filialdirektion nicht verlassen haben? Nach wie vor sieht er wie aus dem Ei gepellt aus. Das ist eine weitere Möglichkeit, mir die Zeit zu vertreiben, indem ich Vogel bei der Arbeit zusehe. Oder was immer das sein mag, wenn es keine Arbeit ist. Aber nie erwische ich den Kollegen, wie er seinen Stempel auf eine Versicherungspolice fallen lässt.

 

 

Ich denke mir eine weitere Abwechslung aus. Einmal am Tag gehe ich mit einer Akte als Alibi in der Hand zu Vogel herüber, um ihm, während ich die Akte vor dem Mund halte, eine Schweinerei ins Ohr zu flüstern. Vogel versteht sie nicht oder hört mir nicht zu. Jedenfalls rührt er sich nicht. Jetzt möchte ich es genau wissen. Ich verzichte auf meinen Feierabend und bleibe an meinem Schreibtisch sitzen. Hier will ich solange ausharren, wie es sein muss. Die Stunden vergehen. Die anderen Kollegen sind seit langem gegangen. Gregor Vogel sitzt an seinem Tisch und lässt den Stempel über eine Versicherungspolice schweben. Kurz vor 22 Uhr geschieht etwas. Gregor Vogel lässt den Stempel auf die erste Versicherungspolice fallen. Rrumms! Er zieht im Affenzahn weitere Policen heran, um sie zu stempeln. Rrumms, rrumms, rrumms! Als Vogel alle ihm zur Bearbeitung übergebenen Policen gestempelt hat, legt er sie in das Ausgangskörbchen. Er steht auf, hängt sich seine Strickjacke um und verlässt die Filialdirektion. Ich verstehe immer noch nicht. Andererseits heißt es: Jetzt oder nie. Also mache ich mich an die Verfolgung. Auf dem Platz vor der Reinoldikirche hole ich ihn ein. Ich stelle ihn und sage: „Geld oder Leben.“ Gregor Vogel wendet mir sein bleiches Antlitz zu und fragt: „Wie bitte?“ „Hallo, Herr Kollege, Sie erinnern sich an mich“, sage ich. „Ich bin ein Stempler wie Sie und sitze Ihnen in der „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ schräg gegenüber.“ „Das mag sein“, sagt Gregor Vogel. „Allerdings sage ich Ihnen gleich, dass ich mir meine Kollegen nicht merke.“

 

 

Ich lade ihn zu einem Bier ein, aber er sagt wie zu erwarten ab. „Ich verstehe nicht, wie Sie 14 Stunden und mehr benötigen, um ein paar Versicherungspolicen zu stempeln, während wir anderen Stempler in wenigen Minuten mit unserer Arbeit fertig sind“, sage ich. Meine Frage interessiert Gregor Vogel. Also gibt er gern Aus kunft. „Wenn Sie die Versicherungspolicen mehrerer Stempler zu Ver gleichszwecken nebeneinanderlegten, sähen Sie den Unterschied“, sagt er. „Spätestens, wenn Sie ein Mikroskop zur Hilfe nähmen, bemerkten Sie, dass der eine Stempel etwas schräger als der andere auf die Police gesetzt ist. Das ist nur eine Qualitätsdimension unter anderen. Haben Sie gemerkt, wie blass die Farbe mancher Stempel auf den Versicherungsscheinen ist? Die Farbe anderer Stempel ist hingegen zu dick. Sie schauen darauf und denken, gleich beginne die Tinte zu tröpfeln.“

 

 

„Sie meinen, dass Ihre Versicherungspolicen ein wenig besser als die unsrigen gestempelt sind?“ vergewissere ich mich. „Ich strebe die bestmögliche Bestempelung an und glaube sagen zu dürfen, dass ich in meiner Arbeit weit fortgeschritten bin“, sagt Gregor Vogel. „Ich wähne mich der bestmöglichen Stempelung nahe.“

 

 

„Was soll das für einen Sinn ergeben, wenn man ein Mikroskop heran ziehen muss, um merken zu können, dass Ihre Stempelungen besser als die unsrigen sind, aber keiner durch das Mikroskop sehen will?“ frage ich. „Kein Vorgesetzter, den ich kenne, wäre bereit, derart genau hinzusehen. So steigen Sie nie auf.“ „Es geht mir nicht darum, akzeptiert zu werden“, sagt Gregor Vogel. „Ich möchte meine Arbeit nur ordentlich machen.“ „Nicht ordentlich, vielmehr perfekt“, korrigiere ich ihn. „Nun ja“, sagt Vogel.

 

 

Weil Gregor Vogel der vollendeten Stempelung einer Versicherungspolice nahegekommen ist, hat er einen immer größeren Aufwand zu treiben, um ein zusätzliches Gran Vervollkommnung zu erzielen. Deshalb wird Vogel bald Nachtschichten einlegen müssen. Dazu ist er, wie er mir unmittelbar vor unserem Abschied an diesem Abend versichert, bereit.

 

 

Sind damit alle Möglichkeiten, versicherungswirtschaftliche Zeit am eigenen Arbeitsplatz totzuschlagen, abgehandelt und ausgeschöpft? Das ließe sich sagen, wenn man keine besonderen Risiken eingehen will und sich ungesetzliche Aktivitäten nicht vorzustellen wagt. Sogar unter Stemplern wird bestritten, dass ein weiterer Ansatz, das würde der achte sein, existiert. Ich nenne das achte Modell „Bewusst eingeplante Fehler“. Diese Option darf nicht offen gehandelt werden. Seine Umsetzung ist mit hohen Risiken verbunden.

 

Andererseits sind die Freuden groß, die man durch seine Anwendung erfährt. Zum Modell „Bewusst eingeplanter Fehler“ gehört, dass der Fehler entdeckt wird. Nur so können sich Spannung und Dramatik entwickeln. Wenn sich Heinrich Ludwig und Magda Borowski richtig aufregen, dauert es lange, bis sie sich wieder beruhigen. Einfache Mitglieder folgen dem Vorbild ihrer Vorgesetzten und regen sich mit deren Erlaubnis auf. Keiner langweilt sich oder bekommt Koliken. Das gilt auch dann, wenn sonst nichts passiert.

 

Zu diesem Verfahren gehört ferner, dass ein Schuldiger entdeckt wird. Das ist meist derjenige, der den Fehler gemacht hat. So blöd sind die Vorgesetzten nicht, dass sie das nicht herausfänden. Demnach hat man dafür zu zahlen, was man angerichtet hat. Freilich mag es das wert sein. Ist der Schuldige ertappt, hat er sich selbst der Blödheit zu bezichtigen. Dabei muss er glaubwürdig wirken. Kämen Heinrich Ludwig oder Magda Borowski auf die Idee, nicht Dummheit, sondern Bosheit seien im Spiel gewesen, wollten sie Blut sehen. Ein böswilliger Mitarbeiter würde auf ewig der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG für das östliche Ruhrgebiet verwiesen. Darüber hinaus misshandelten die Oberen sein Zeugnis so sehr, dass er nie wieder eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit erhielte. Die Vorgesetzten dürfen demnach nie auf die Idee kommen, dass das „Modell bewusst eingeplanter Fehler“ existiert.

 

 

Wird ein Mitarbeiter eines Intelligenzquotienten beschuldigt, den die Wissenschaftler in dieser Niedrigkeit nicht für möglich halten, muss er Reue zeigen. Was, zwei Versicherungspolicen hat er mit derselben Nummer gestempelt? „Ich weiß auch nicht, wie ich mit der Maschine gespielt habe“, sagt der Mitarbeiter.

 

 

„So blöd sind Sie immerhin nicht, dass Sie nicht wüssten, wie blöd Sie sind“, sagt Magda Borowski, als sie wieder halbwegs versöhnt ist. Allerdings mag sie sich bestätigt fühlen. Hat sie die Stempler nicht zu Stemplern gemacht, weil sie für andere Aufgaben unbrauchbar waren? Im Grunde hätten diese Leute nicht in die Versicherungswirtschaft gehört. Hätten sie sich doch mit dem Hauen von Kohle oder dem Hüten von Ziegen vor der Zechenkantine begnügt.

 

 

Die anderen Mitarbeiter der Abteilung für die Ausfertigung schauen einander an, bevor sie ihre Blicke zurück zu den Akten wenden. Was hatten wir, denken sie sich, für einen ereignisreichen Tag. Ist es nicht schön, dass dieser Blödmann unter uns weilt und Zoff auf sich gezogen hat, zumal er nie an uns vorbeiziehen und aufsteigen wird. Natürlich gibt es theoretisch noch weitere Modelle des „Zeitm a nagem ents in der Versicherungswirtschaft“. Darauf komme ich erst, als ich mein Manuskript längst vergessen habe. So könnte man die eigene Arbeitsmenge vermehren, indem man dem Kollegen die Ak­ ten stiehlt. Aber darauf kamen wir damals nicht. Wir standen zu sehr unter Beobachtung und waren zu kastriert, um böse zu werden.

 

 

4.

 

Wohl benötigen wir Strategien des Zeitmanagements, um in der Versicherungswirtschaft zu überleben. Allerdings taugen diese Strategien kaum, um sich das Leben am eigenen Arbeitsplatz angenehmer zu gestalten oder gar, sich eigene Gedanken zu machen. So sind sie nicht hilfreich, wollten wir uns gegen das herrschende Meinungsbild in der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Ver si che rungs AG für das östliche Ruhrgebiet wenden.

 

 

Lässt sich dieses Klima in wenigen Worten zusammenfassen? Es hat die folgenden Sätze hervorgebracht, die wir alle mittragen sollen, wenn es uns nicht noch schlechter ergehen soll: Wir arbeiten am Rande unserer Kapazität. Oder: Wir sind hoffnungslos überarbeitet. Oder: Wir arbeiten mit letzter Kraft gegen die uns überwältigenden Arbeitsfluten an. Oder: Wir drohen unter unserer Arbeitsmenge zu­ sam menzubrechen. Ließe sich sagen: Wir sind chronisch überfordert? Diese Formulierung ist unbrauchbar, weil sie so klingt, als würden wir fehlerhaft arbeiten. So blöd sollten nicht einmal Stempler und Aussendungsvorbereiter sein, dass sie ihre Fehler, obgleich sie ihnen dauernd unterlaufen, vor sich hertrügen. Das Meinungsbild in der Filialdirektion wird von den Abteilungsleitern bestimmt. Ihre Mitarbeiter lesen ihnen ihre Ansichten von den Lippen ab. Sie geben sie als ihre eigenen wieder. Das sollen sie auch. So entsteht ein einheitliches Meinungsklima. Wären wir teilweise unterschiedlicher Meinung, brächte das nicht nur den Betriebsfrieden in Gefahr. Man stelle sich vor, einige von uns gingen an die Öffentlichkeit und verrieten, dass wir nichts zu tun hätten. Das Ruhrgebiet bräche in großes Gelächter aus, gerade weil es uns glauben würde. Unsere Region hat schon immer gewusst, dass die Bürohengste nicht arbeiten geschweige malochen können. Mitarbeiter dürfen im Grundsatz nur über die eigenen Akten reden. Aber da unsere Überlastung immer überwältigender wird, machen die Abteilungsleiter eine Ausnahme. Die Mitarbeiter dürfen sich dazu mit einer persönlichen Anmerkung an ihren Vorgesetzten wenden. Dem stimmte sogar Baranowski zu. Also sagen wir ihnen und uns, dass wir hoffnungslos überarbeitet seien. Wäre es anders, könnten die Abteilungsleiter keine zusätzlichen Mitarbeiter anfordern. Das ist jedoch das, was die Hauptverwaltung Südstern von ihnen will.

 

 

Am Anfang haben unsere Abteilungsleiter eine Weile nicht verstanden, was die Kölner Zentrale von ihnen verlangte. Selbst dem Büroleiter Heinrich Ludwig erschienen ihre Anweisungen zu unsinnig, als dass er hätte glauben können, dass sie bestünden. Daher muss unser Bürovorsteher in einem längeren telefonischen Unterw eisungsgespräch in die Spur gesetzt werden, zu dem sich der Personaldirektor  in Köln am Ende bequemt. Ludwig gibt alles, woran er sich aus diesem Gespräch erinnert, in Einzelgesprächen an seine Abteilungsleiter weiter. So sagt er: „Um die interne betriebliche Effizienz zu erhöhen, müssen wir das Organisationsprinzip der Arbeitszerlegung intensivieren. Da für haben wir weitere Mitarbeiter einzustellen.“ Er fügt hinzu: „Versicherungskaufleute kosten fast nichts, weil sie so wenig verdienen. Folglich müssen wir, wenn wir Geld sparen wollen, Leute rekrutieren.“ Oder er sagt: „Versicherungskaufleute können fast nichts und verdienen aus diesem Grunde so wenig. Deshalb müssen wir viele von ihnen einstellen, damit die Arbeit dennoch bewältigt wird.“ Dazu sagt er ergänzend: „Unsere Filialdirektion ist für das östliche Ruhrgebiet zuständig und wegen der vielen Leute, die hier wohnen, eine der größten. Deshalb nähme mich unsere Hauptverwaltung persönlich ins Gebet, marschierten wir in unserem personellen Wachstum nicht an vorderster Front.“ Speziell zu Frau Borowski sagt er: „Unser Personaldirektor hat erfahren, dass in Ihrer Abteilung die Positionen des Versicherungspolicenstemplers und des Aussendungsvorbereiters nur teilweise voneinander getrennt sind. Er hält das für einen unmöglichen Zustand.“

 

 

Die Abteilungsleiter haben in ihren Gesprächen mit Heinrich Ludwig längst nicht alles verstanden. Aber die zentrale Kölner Botschaft wird ihnen klar. Sie sollen sich in schriftlicher Form weitere Mitarbeiter wünschen. Kaum haben die Abteilungsleiter erste personelle Anforderungen bei ihrem Bürovorsteher eingereicht und hat dieser ihre  Anforderungen an die Kölner Zentrale weitergereicht, da sind sie bewilligt. Von diesem Punkt an kommt eine sich selbst verstärkende Entwicklung in Gang. Alle Abteilungsleiter tun, was ihnen von den oberen Ebenen verordnet worden ist. Die rasche Bewilligung erhöht ihren Eifer. Bald möchte jeder die größte Abteilung unter sich haben. Was, Magda Borowski hat sich mit einem Schwung neuer Mitarbeiter vor die anderen Abteilungen an die Spitze gesetzt? Schon schiebt Ludger Baranowski eigene Forderungen nach. Er will Borowski nach Anzahl der unterstellten Mitarbeiter erreichen, wenn nicht übertreffen. Das geht nicht so weit, dass unsere Filialdirektion bald alle Einwohner des östlichen Ruhrgebiets eingestellt hätte. „Warum eigentlich nicht?“ frage ich und gebe meine Frage an mein Gegenüber weiter. „Dazu gibt es eine Restscham“, haucht mein Gegenüber. „Was meinst du damit?“ frage ich. „Die Abteilungsleiter tun, was ihnen die Oberen sagen“, sagt mein Gegenüber. „Aber irgendwo muss eine Grenze sein.“ Nach einer längeren Gesprächspause findet er einen weiteren Grund: „Jede Arbeitszerlegung kommt irgendwann, wenn man sie weiter betreibt, an ihr Ende. Noch lässt sich eine Arbeitsgruppe, die einen Arbeitsgang ausführen soll, beliebig aufblähen. Was könntest du beispielsweise tun, wenn du eine halbe Versicherungspolice pro Tag zum Abstempeln bekämst?“ „Ich würde mir am Montag eine Versicherungspolice vornehmen“, sage ich. „Am Mittwoch käme die nächste an die Reihe. Um von dieser Unterforderung nicht überwältigt zu werden, ginge ich vom Konzept variabler Intervalle aus.“

 

Tage vergehen, da gibt mir mein Gegenüber einen Bericht über den Stand der Personalentwicklung, den er sich am Vortag in Gesprächen auf der Toilette verschafft hat: „Mittlerweile verfügen die ersten Abteilungen in unseren Filialdirektionen über Mitarbeiter, denen keine Arbeit zugeteilt werden kann. Oder man hat sie bei der Zuordnung von Aufgaben vergessen. Noch gehen in die für Filialdirektionen angemieteten Räume unendlich viele Schreibtische rein. Die Folge ist, dass die zuletzt gekommenen Kollegen in den Ecken herumstehen und sich nach einer Eingliederung mit eigenen Arbeitsplätzen sehnen. Damit wird die Lage für die Abteilungsleiter immer schwieriger. Denn jene Mitarbeiter, die noch Arbeit bekommen, dürfen von ihren eckenstehenden Kollegen nicht abgehalten werden, diese zu tun.“ Obwohl unser Büroleiter über immer mehr Mitarbeiter gebietet, hat er nach wie vor ein schlechtes Gefühl. Zwar leitet er alle Anträge seiner Abteilungsleiter zwecks Einstellung weiterer Mitarbeiter ohne Ver zögerung an die Hauptverwaltung weiter. Aber mit den von Köln ausdrücklich angeforderten positiven Anmerkungen dazu tut er sich schwer. Darüber hat es ein weiteres telefonisches Grundsatzgespräch zwischen Heinrich Ludwig und dem Personaldirektor gegeben. „Ein Bürovorsteher kann nur glücklich sein, wenn er die Ersuchen seiner Mitarbeiter abschlägig bescheidet“, vertraut Heinrich Ludwig seinem Direktor an. „Das habe ich während meines beschwerlichen Aufstiegs durch die versicherungswirtschaftlichen Hierarchieebenen gelernt. Jetzt sagen Sie mir, dass ich alles befürworten soll.“ „Wir haben die deutsche Versicherungswirtschaft so organisiert, dass niemand sein Glück in ihr finden kann“, antwortet der Personaldirektor. „So weit kommt das noch, dass wir das Geld, das wir haben, mit Freude aus dem Fenster ballern. Das mögen, wenn sie können, die südeuropäischen Assekuranzen tun. Vielmehr hängen wir hier der Arbeitsleidtheorie an.“ Selbstverständlich lenkt Heinrich Ludwig an dieser Stelle voll ein: „Jetzt verstehe ich, dass es auf eigenständige Beiträge eines kleinen Rädchens im Getriebe wie das meine nicht ankommen kann. In diesem Punkt bin ich voll und ganz auf Ihrer

 

Seite.“

 

 

„Sie laden sofort zu einer Besprechung auf Abteilungsleiterebene ein“, gebietet der Personaldirektor. „Sie erinnern daran, dass die Zeit der beschäftigungspolitischen Bescheidenheit auf immer vorbei ist. Stellen Sie zu Ihrem eigenen Erschrecken fest, dass die Fi lialdirektion, die für das westliche Ruhrgebiet zuständig ist, nach Anzahl der Mitarbeiter an Ihnen vorbeigezogen ist. Von unseren Bezirks­ und Filialdirektionen im Rheinland werden die Bedenken aus dem Westfälischen erst recht nicht geteilt. Denen macht es nichts aus, in

 

Hunderten, ja, in Tausenden von Beschäftigten zu denken und die Massen auf ihre Abteilungen zu verteilen.“ „Ich gehe noch heute durch die Abteilungen und sammele weitere Anforderungen nach Mitarbeitern ein“, verspricht Heinrich Ludwig. „Die Filialdirektion Essen werden wir mir nichts dir nichts hinter uns lassen.“

 

Gelegentlich muss die Hauptverwaltung wenngleich nicht bei uns zu drastischen Maßnahmen schreiten. So glaubte eine Bezirksdirektion im Sauerland, auf zusätzliche Mitarbeiter verzichten zu dürfen. Ihr werden mittlerweile Vorgaben gemacht, wie viele neue Kollegen sie in den kommenden drei Monaten anfordern muss. Abteilungsleiter, die stur geblieben sind, haben sich nach neuen Regeln zu richten: Für jeden Mitarbeiter, den sie anfordern, werden zwei bewilligt. Für jedes Widerwort, das sie ihrem Büroleiter in personalpolitischen Fragen geben, kommt ein weiterer Mitarbeiter hinzu.

 

 

Wie sollte man diesem Druck widerstehen, zumal er über Drohungen mit Zwangsmaßnahmen verschärft wird? Am besten denken wir uns zusätzliche Formulierungen aus, die das gebotene Meinungsklima verstärken. Mein Gegenüber geht mit gutem Beispiel voran. „Bestünden wir darauf, genügend Arbeit zu bekommen, müssten Leute entlassen werden“, sagt mein Gegenüber. „Das kann nicht in unserem Interesse sein.“

 

 

„Wir sollten auf den Pütt gehen und dort eine Angestelltengesellschaft aufbauen“, halte ich dagegen. „Wenn wir auf der siebenten Sohle verschüttet werden, fahren wir fort, uns zu siezen und sehen für jeden eingeschlossenen Kumpel einen weiteren Titel vor.“

 

 

5.

 

Ließe sich doch etwas gegen das herrschende Meinungsklima tun?

 

 

Könnte man eines Tages soweit kommen, offen und öffentlich eigene Gedanken zu äußern, obgleich wir nur ein Rad im versicherungswirtschaftlichen Getriebe sind? Diese Frage fällt mir eines Tages ein und hört nicht auf, mich zu beschäftigen. Also frage ich, weil ich sonst nichts zu tun habe, unseren Betriebsrat.

 

Manfred Krause ist der Vorsitzende eines Betriebsrates, der in der Geschichte der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG keinmal getagt hat. Wir wissen nicht, wer die anderen Mitglieder des Betriebsrates sind. Sie offenbaren sich nicht, weil sie die hochgezogenen Augenbrauen der Geschäftsleitung fürchten. Krauses Aufgaben bestehen darin, Mitglieder für die Angestelltengewerkschaft zu werben, gewerkschaftliche Mitgliedsbeiträge zu kassieren und gelegentlich zu nicken, wenn ihm Heinrich Ludwig einiges über innerbetriebliche Entwicklungen erzählt. Das ist bislang noch nicht vorgekommen. Andererseits hat Ludwig unseren Gewerkschaftsvertreter im Einvernehmen mit dem Personaldirektor in der Hauptverwaltung zum Abteilungsleiter befördert. Das geschieht, damit Krause Ruhe gibt, solange er Betriebsratsvorsitzender ist. Allerdings bekommt Krause keine Mitarbeiter gestellt. So weit geht die Liebe zu einem verkappten Gewerkschaftsfunktionär nicht. Ohnehin haben Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre nach dem Betriebsverfassungsgesetz in Scheidung zu leben. Demnach hat die Geschäftsführung Krause nicht verfolgt, sondern eingekauft. Ich werde an die Verein nah mung der Katholischen Arbeiterbewegung durch die Sozial dem o kratie im Ruhrgebiet erinnert, nur dass es diesmal unsere Ar beitn ehmervertretung ist, die die Pfründen für sich höher bewertet als eine wackere Interessenvertretung in unseren Diensten.

 

 

Zwar trete ich in die Angestelltengewerkschaft ein, als mich Krause an spricht und behauptet, sich um meine innerbetrieblichen Probleme kümmern zu wollen. Damit setzt er immerhin im Gegensatz zu den anderen Abteilungsleitern voraus, dass es solche gibt. Aber ich möchte doch wissen, was seine Versprechungen wert sind. So einflussreich ist ein Betriebsratsvorsitzender schon, dass ich die „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ verlassen darf, um das Betriebsratsbüro aufzusuchen. Also sage ich: „Wir Mitarbeiter in der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG sind hoffnungslos unterfordert.“ „Sie meinen überfordert, Kollege Bre demeier“, sagt Manfred Krause. „Aber nein, Sie haben mich richtig verstanden, Kollege Krause“, sage ich. „Wenn Sie nichts zu tun haben, seien Sie froh“, sagt Manfred Krause. Damit gibt er die übliche gewerkschaftliche Stellungnahme wieder, wenn das Thema der chronischen Unterbeschäftigung in diversen Angestelltenbetrieben und ­branchen versehentlich hochkocht.

 

 

„Unsere systematische Unterforderung macht uns auf Dauer ebenso wie die chronische Überforderung kaputt“, sage ich. „Sie sollten sich unsere Aussendungsvorbereiter ansehen, wie sie sich in Krämpfen winden, sobald sie mehrere Tage ohne Versicherungspolice geblieben sind. Darf ich Sie mit dem von mir geprägten Begriff der „Iso la tionsfolter“ vertraut machen?“

 

 

„Wenn Sie bei Ihrer Ausgangsmeinung bleiben und wiederkommen möchten, frage ich in der gewerkschaftlichen Kreisverwaltung nach“, sagt Krause. Da weiß er noch nicht, dass ich mir einen Sport daraus mache, bei ihm wieder und wieder vorzusprechen. Am Ende kapituliert Manfred Krause und fragt in der Tat bei der gewerkschaftlichen Kreisverwaltung nach. Krause ist jede Neigung zum Widerspruch in seiner jahrzehntelangen Anstellung bei Südstern abhandengekommen. Sogar ich habe mich jetzt gegen ihn durchgesetzt, wenngleich nur vorläufig und lediglich in einem Punkt.

 

 

Die Kreisverwaltung lässt sich gleichfalls viel Zeit, bis Manfred Krause meine Erinnerungen leid ist und der gewerkschaftlichen Kreis verwaltung auf die Füße tritt. Diese zögert ihrerseits, setzt sich dann aber doch mit der gewerkschaftlichen Hauptverwaltung in Verbindung.

 

 

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie“, sagt Man fred Krause, als ich einmal mehr bei ihm vorspreche. „Im Or gan isationsbereich unserer Gewerkschaft gibt es nirgendwo eine Unter forderung. Dafür liegt in allen unseren Betrieben eine chro nische Überbelastung vor. Auch kann es eine systematische Unterfor derung weder in der Versicherungswirtschaft noch in der Bundesrepublik Deutschland geben, weil sie in keinem Antrag an den Ge werkschaftstag irgendeiner Gewerkschaft thematisiert worden ist.“ „Was ist die gute Nachricht?“ frage ich. „Sowohl die gewerkschaftliche Kreisverwaltung als auch die gewerkschaftliche Hauptverwaltung kann über Ihre Frage nur den Kopf schütteln“, sagt Manfred Krause. „Dennoch hat ein junger Gewerkschaftssekretär eine Li tera tur recherche für Sie durchgeführt. Den von Ihnen unterstellten Zusammenhang kann es nicht geben, weil er in der Literatur der Ar beiterb ewegung nicht behandelt worden ist. Wir Angestellten sind nicht gezwungen, uns auf Karl Marx zu beziehen, glücklicherweise, darf ich hinzufügen, weil wir keine Proletarier sind. Aber zu denken gibt doch, dass Marx die Ausbeutung der Arbeiterklasse ausschließlich mit Überforderung gleichgesetzt hat.“

 

 

„Ich bin es nicht, der von Ausbeutung redet“, sage ich. „Davon kann in der Versicherungswirtschaft nicht die Rede sein, da wir nichts produzieren und nirgendwo bei uns ein Mehrwert entsteht. Es geht uns lediglich so schlecht oder sogar schlechter als schlecht, als würden wir ausgebeutet.“

 

 

„Die gute Nachricht ist die, dass die Kreisverwaltung Sie zu einem gewerkschaftlichen Wochenendseminar lädt“, sagt Manfred Krause.  „Dort will man Sie mit der gewerkschaftlichen Arbeit und dem gewerkschaftlichen Denken vertraut machen. Denn wie mir der Vorsitzende der gewerkschaftlichen Kreisverwaltung gesagt hat: ,Die besten Kollegen sind am Ende die, die zu Beginn die kritischsten waren’.“ „Ich soll mich, links zwei drei, in die Angestelltenklasse einreihen?“ frage ich. „Sie dürfen kritisch sein, Kollege Bredemeier, als Gewerkschafter müssen Sie es sogar“, sagt Manfred Krause. „Aber die Kritik, die Sie üben, sollte doch irgendeinen Sinn machen.“ Ich springe auf, öffne die Tür und sage: „Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen, wie die Aussendungsvorbereiter in Koliken verfallen, wenn sie über längere Zeit keine Versicherungspolice erhalten haben. Nun kommen Sie schon.“ Manfred Krause sträubt sich. Ich lasse nicht locker. Also kommt er in die „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ mit. Magda Borowski vernimmt die Schritte, die sich ihr nähern. Sie kann bestens hören, aber weniger sehen und ist zu eitel, ihre Brille zu tragen. Sie fragt ihren stellvertretenden Abteilungsleiter: „Ist da jemand, der mit mir sprechen will?“ „Herr Krause möchte Ihnen, wie mir scheint, einen Besuch abstatten“, sagt der stellvertretende Abteilungsleiter.

 

 

„Manfred, bist du es?“ fragt Magda Borowski. „Habe ich dir nicht gesagt, dass sich nichts für mich geändert hat?“ „Du bist die Kratzbürste wie vor dreißig Jahren geblieben“, sagt Manfred Krause. Er sagt das so zärtlich, wie er sich traut. „Wenn es darum nicht geht, worum geht es dann?“ fragt Magda Borowski. „Das habe ich dir gleichfalls gesagt, dass ich in deine Popel­Gewerkschaft nicht eintrete. Bei euch kann man nicht einmal mit Messer und Gabel essen.“ „Dieser junge Mann behauptet, dass ihr unter chronischer Unterforderung leidet“, sagt Manfred Krause. „Er hat das Kreisbüro und am Ende sogar die Hauptverwaltung unserer Angestelltengewerkschaft damit befasst.“ „Wie sollen wir an chronischer Unterforderung leiden, wenn ich gerade zwei neue Stellen beantragt und bewilligt bekommen habe?“ fragt Magda Borowski. „Da sehen Sie es“, sagt Krause zu mir. „Es bringt nichts, wenn Sie diese Fragen mit Frau Borowski bereden“, sage ich. „Informieren Sie sich nicht ausschließlich aus zweiter Hand. So trauen Sie dem Offensichtlichen und folgen Ihren eigenen Sinnen. Kommen Sie mit und ich zeige Ihnen, wie ein unterforderter Aussendungsvorbereiter seine Koliken bekommt.“

 

 

Unmittelbar danach realisiere ich, dass Krause nicht zu den Schreibtischen in den hinteren Reihen der Abteilung gehen wird. Wenn Magda Borowski und ich Druck auf ihn ausüben, gibt er, ja logisch, dem Druck von Magda Borowski nach. „Du solltest dich gleichfalls um einen Mitarbeiter bemühen“, sagt Frau Borowski. „Oder leidest du an chronischer Unterforderung?“

 

 

6.

 

Ich nutze eine weitere Möglichkeit, mir das Überleben eines Ar beitstages in der Filialdirektion zu erleichtern. Sie besteht darin, dass ich alle Versuche eines versicherungswirtschaftlichen Zeitm anagements und jedes Geflüster mit meinem Gegenüber fahren lasse. Ich ziehe von dannen. Die Leitung der Filialdirektion hat ihr Bestes getan, ihren Mitarbeitern jede Mobilität außerhalb ihres Sitzplatzes am eigenen Schreibtisch zu nehmen. Innerhalb der Abteilung sind Bewegungen ausschließlich wenn überhaupt mit einer Akte in der Hand gestattet. Jedes Verlassen der Abteilung wird registriert, auch wenn die Geschäftsführung vor einem ausdrücklichen Verbot zurückschreckt. Derzeit beschränkt sie sich auf unsystematische Kontrollen, ob man im Dienste der Firma unterwegs gewesen ist. Gleichwohl gibt es in der Strategie der Geschäftsführung zur Entmutigung jeder körperlichen Betätigung einen Schwachpunkt. Das ist der Gang zu den Toiletten. Später werde ich entdecken, dass es zusätzliche Möglichkeiten der Verflüchtigung gibt. Dennoch bleiben die Toiletten das wichtigste Ziel aller Mitarbeiter, die sie in Notlagen und zum Zeitvertreib aufsuchen. So viele Mitarbeiter versammeln sich gelegentlich dort, dass sich vor den Türen der Herren­ und Damentoilette Schlangen bilden. Nur vor der dritten Toilettentür drängelt sich keiner. Dieser Raum bleibt dem Direktor der Filialdirektion Dortmund, Dr. Harald Schnittberger, vorbehalten.

 

 

Unser Bürovorsteher unternimmt im Alleingang einen Versuch, den Besuch der Toiletten in der Filialdirektion zu unterbinden, mindestens jedoch einzudämmen. Daran scheitert er. Sein Experiment beginnt, als er sich eines Morgens an seiner Bürowand mit Blick auf die Stenotypistinnen auf die Zehenspitzen stellt. Während der Ar beitstag vergeht, gibt es immer weniger durch die Glasscheiben zu  beobachten, da immer mehr Mitarbeiter die Toiletten aufgesucht haben. Am Ende stehen die verbliebenen Versicherungskaufleute auf und beginnen zu laufen, um nicht den letzten Platz in den Schlangen vor den Toiletten einzunehmen. Die Filialdirektion wird von einer Stampede heimgesucht. Da hält den Bürovorsteher nichts mehr und er geht selbst auf das Klo.

 

 

Sobald Heinrich Ludwig die Herrentoilette betritt, teilen sich die Schlangen vor ihm wie das Rote Meer vor dem Volk Israel auf seiner Flucht aus Ägypten. Der Bürovorsteher steht unmittelbar vor einem Pissoir. Aber Heinrich Ludwig wird von mehreren Seiten von Mitarbeitern beobachtet. Noch scheint er zu wissen, was für ein Geschäft dort zu tätigen sei. Oder er hält es seiner Autorität für nicht zuträglich, wenn ein einfacher Versicherungskaufmann seinen Pimmel sieht. Als wenn wir es wagten, so genau hinzusehen.

 

Also schlägt Heinrich Ludwig einen Haken und steuert eine Kabine an. Diese wird alsbald für ihn freigemacht. Notfalls hätte man den einfachen Versicherungsangestellten hinter der Tür mit Geschrei und Trommeln an der Tür und der Androhung von Brachialgewalt trotz heruntergelassener Hose vom Topf geholt. In der Kabine be tätigt Heinrich Ludwig mehrere Male die Spülung um anzuzeigen, dass er sich an die Verrichtung seines Geschäftes gemacht hat. Vor der Kabine warten die Versicherungskaufleute schweigend auf ihn. Irgendwann, wissen sie, wird Heinrich Ludwig herauskommen müssen. Als unser Bürovorsteher aus der Kabine kommt, teilen sich die Schlangen vor ihm wie seinerzeit das Rote Meer.

 

 

Seit diesem Ereignis wird Ludwig nicht mehr auf der Toilette gesichtet. Die Abteilungsleiter reihen sich aus Sorge um ihren Status nicht in die Schlangen vor der Herrentoilette ein. Sie verachten jene, die Latrinenparolen erfinden, verbreiten und an sie glauben. Die sind doch beschissen. Unter den Abteilungsleitern stellt Manfred Krause eine Ausnahme dar. Er begibt sich gern unter einfache Versicherungskaufleute, um seine Verbundenheit mit den Massen zu zeigen. Gleich zeitig sammelt er Gewerkschaftsbeiträge ein und wirbt neue Mit glieder. Wenn eine radikale Abhilfe nicht möglich ist, sagen die Führungskräfte in der Filialdirektion, sollten wir gemeinsam versuchen, die Zahl der Gänge zu den Toiletten zu verringern. Einer versichert dem anderen, dass er in Kürze tätig werden wird. Wenn Ludger Baranowski jetzt mit einem einfachen Versicherungskaufmann spricht, der sich in Aufbruchsstimmung befindet, sagt er: „Ich sehe Sie selten an Ihrem Schreibtisch sitzen. Müssen Sie immerzu aufs Klo, weil Sie krank sind?“

 

 

Gisela Schneider ist eine von uns Stemplern. Auch ihr reichen die Möglichkeiten versicherungswirtschaftlichen Zeitmanagements nicht. Folglich sucht sie regelmäßig die Damentoilette auf. Die Abteilungsleiterin Magda Borowski sagt, als Gisela hinausschleichen will und Frau Borowski sich beim stellvertretenden Abteilungsleiter erkundigt hat, wer da leichtfüßig gehe: „Geben Sie zu, Frau Schneider, Sie müssen nicht Pipi machen. Sie wollen sich vor den Spiegel stellen und schön sein.“ Gisela Schneider gestattet sich eine Spur Koketterie, indem sie antwortet: „Und wenn dem so wäre, Frau Borowski?“ „Dafür ist die Zeit außerhalb der Arbeitszeit da“, sagt die Borowski. Ich weiß, dass ich es mit meinen Gängen auf die Herrentoilette nicht übertreiben darf. Folglich beginne ich einen typischen Arbeitstag, indem ich mich an meinem Schreibtisch im versicherungswirtschaftlichen Zeitmanagement übe. Aber gegen 10 Uhr morgens finde ich, es sei an der Zeit, mich für die bisherigen Mühen des Tages zu entschädigen. Also stehe ich auf und schlage schlendernd den Weg zur Herrentoilette ein.

 

 

Auf der Toilette wird häufig wiederholt, was in den Abteilungen ge flüstert wird. Haben wir nicht gigantische Mengen abzuarbeiten? Aller dings wird solches lauter als in den Abteilungen gesagt, damit wir einander trotz laufender Spülung verstehen. Auch dürfen wir auf der Herrentoilette freier sprechen, weil alles, was wir auf einem Scheiß haus bereden, bedeutungslos sein und folgenlos bleiben muss. In unseren Ausdrucksweisen schleicht sich die eine und andere Fä kalie ein.

 

 

Gelegentlich kommt vor, dass wir Lehrlinge auf der Toilette unter uns sind. Dann diskutieren wir, warum unser Filialdirektor eine eigene Toilette besitzt. „Das kann nur bedeuten, dass er ein anderes Geschlechtsteil sein eigen nennt“, sagt Norbert Fabricius. „Oder es  handelt sich beim Filialdirektor nicht um einen richtigen Menschen, vielmehr um einen Roboter“, sage ich. „In diesem Fall erhält er Inputs statt dass er Outputs von sich gäbe. Dann wäre sein Klo besser eine Energietankstelle zu nennen.“ „Wenn er ein Roboter wäre, wo hätte er da sein Lasergewehr?“ fragt Fabricius.

 

 

Norbert Fabricius lässt sich abends in der Filialdirektion einschließen. Er sucht in der Nacht die Damentoilette auf. Das behauptet er wenigstens. Als wir Lehrlinge wieder unter uns weilen, erzählt er: „Die Graffitis dort sind um einiges wilder als die Zeichnungen auf unserem Klo.“

 

 

„Was sagen Sie da?“ fragt Ludger Baranowski, während er ausnahmsweise die Herrentoilette betritt. „Alles, was wir Auszubildende zu sagen haben, ist selbstverständlich nur für das Scheißhaus bestimmt“, sagt Fabricius. „Dann halten Sie mal die Kacke am Dampfen“, sagt Baranowski, während er in die Kabine geht.

 

Baranowski vergisst nie ein Widerwort, das man ihm gegeben hat oder ein Wort, das man dafür halten könnte. Wir vermuten, dass Fabricius bei ihm für alle Zeiten verschissen hat. Und richtig, kaum ist er in Baranowskis Abteilung versetzt, da wird er von seinem neuen Abteilungsleiter angeschissen.

 

 

Mittlerweile habe ich mehrere Abteilungen der Filialdirektion durchwandert. Ich habe Ludger Baranowski überlebt. Persönlich fand ich die Leiterin der Buchhaltung schlimmer. Am Ende bin ich in die „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ zurückgekehrt. Ich rückte in meiner alten Abteilung eine Schreibtisch­reihe vor. Während ich sechs Versicherungspolicen am Tag zum Ab stempeln erhalte, bekommen die Lehrlinge in der Schreibtischreihe hinter mir lediglich fünf.

 

 

Neuerdings wird mein Monatsgehalt bargeldlos aufs Konto überwiesen. In jedem Lehrjahr wird es um einen Betrag erhöht. Dieser ist mehr symbolischer Natur. Wenn ich mein Geld besser einteilen würde, könnte ich mir zwei Taschenbücher in der Woche am Hauptbahnhof leisten. Das Angebot an erschwinglichen Büchern hat sich erhöht, nachdem der Fischer­Verlag den Erfolg von Rowohlts Rotationsromanen nachahmen will und eine eigene Taschenbuchreihe eröffnet hat. Früher einmal sind alle Abteilungsleiter in der Filialdirektion Männer gewesen. Für eine erste Auflockerung haben weit vor meiner Zeit die Beförderungen Magda Borowskis und Gabriele Sanders gesorgt. Das geschah innerhalb eines halben Jahres. Weitere Gemeinsamkeiten zwischen Borowski und Sanders sind schwerlich zu finden. Während Magda Borowski mit jedem aufstiegsorientierten Versicherungskaufmann spielte und keinen genommen hat, hätte Gabriele Sanders jeden genommen, wäre einer vorbeigekommen. Da ihre Fähigkeit zu lieben nicht gefragt gewesen ist, nimmt sie späte Rache an ihren männlichen Lehrlingen. Damals entstand zwischen Magda Borowski und Gabriele Sanders eine Feindschaft, die über die Jahrzehnte Bestand gehabt und Bitterkeit hinterlassen hat.

 

 

Bill Haley tourt durch die Staaten und spielt Rock around the clock. Weltweit nehmen die Jugendlichen seine Musik als unwiderstehlichen Ruf der Freiheit wahr. Binnen kurzem wird nach weiteren Liedern gerockt. Rock’n Roll is here to stay, wenn es nach den Mitgliedern meiner Alterskohorte ginge. Die Erwachsenen lehnen Rock’n Roll stärker als andere Negermusik ab, an die sie sich allmählich gewöhnt haben. Das ist der Lärm von Affen, sagen sie uns, wenn sie sich mit Bananen bewerfen. Dazu nennen sie uns Halbstarke. Sie bezeichnen uns als stark, weil wir uns so vorkommen, wenn wir unsere Musik hören, und halb, weil wir aus ihrer Sicht halbe Portionen sind. Die Rundfunkanstalten tun, als gäbe es Rock’n Roll nicht.

 

 

Als erste hat der Westdeutsche Rundfunk ein Einsehen. An jedem Mitt woch zwischen halb sieben und halb acht tritt der ehemalige britische Besatzungssoldat Chris Howland ans Mikrofon. Er darf die Lieder in den Top Charts aus den USA, Großbritannien und Deutschland präsentieren. Die Erwachsenen werfen uns hinaus, wenn wir uns zu dieser Zeit vor das Radio setzen. Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, hörst du diese Negermusik nicht, sagen sie. Manfred Rennecke hat ein eigenes Zimmer bekommen, seit seine Familie in eine größere Mietskaserne gezogen ist. Wir treffen uns mittwochs auf seiner Bude und ziehen uns Rock’n‘Roll als Droge herein. Rock´n Roll erobert die Plattenspieler in den Kneipen des Ruhrgebiets. Aber wer von uns wäre in der Lage, mehrere Male zwanzig Pfennige für ein Lied zu erübrigen?

 

 

Der Film Rock Around the Clock ist nach Deutschland gekommen. In den Metropolen kommt es zu einem Aufstand der Halbstarken. In diesen Tagen darf ich erste Zahlen ins Hauptbuch schreiben. Rock´n Roll ist auch bei der Leiterin der Buchhaltung angekommen. „Sollten Sie in diesen Film gehen, sorge ich dafür, dass Sie entlassen werden“, sagt Gabriele Sander und meint es wie immer ernst.

 

 

Das größte Kino in unserer Stadt ist das Capitol und bringt es auf zweitausend Plätze. Ich erwische eine der letzten Karten für die Vorstellung gegen halb sechs. Während der Wochenschau fällt ein junger Mann vom Balkon zu uns herunter. Das ist an außergewöhnlichen Ereignissen zunächst alles. Kaum hat der Film begonnen, ist er am Ende. Später erfahre ich, dass die Freiwillige Selbstkontrolle alle Stellen herausgeschnitten hat, die Jugendliche wie mich gefährden können. In Zweifelsfällen entschied sie sich für den Schnitt. So ist es ein Wunder, dass unsere Zensoren das eine und andere Lied drin gelassen haben, obgleich es sich um einen Musikfilm handelt. Als ich aus dem Kino hinaus auf die Straße trete, ist die Stadt mit jungen Menschen gefüllt. Ein Polizeiwagen fährt die Hansastraße herauf und herunter. Über einen Lautsprecher wird mitgeteilt, dass wir die Innenstadt zu verlassen haben. Wir bleiben fast alle, weil wir neugierig sind. Ein paar Jugendliche beginnen, Autos umzuwerfen oder sie anzuzünden. Der Polizeiwagen fährt die Straße weiter herauf und herunter. „Verlassen Sie sofort die Innenstadt“, ruft ein Wachtmeister durch den Lautsprecher. „Das ist unsere letzte Warnung.“ Ich habe mich auf die Lütge Brückstraße einer tief gestaffelten Hundertschaft der Polizei gegenübergestellt. Während ich die Polizisten beobachte, wundere ich mich, wie martialisch sie gekleidet sind. Ein Oberer der Polizist ruft: „Los!“ Damit gibt er das Einsatzzeichen. Die Polizisten stürmen nach vorn. Ein Polizist schlägt mit seinem Knüppel auf meinen Arm. Dieser wird auf der Stelle taub. Am nächsten Tag darf ich eine Zahl in das Hauptbuch der Buchhaltung malen. Das gelingt mir nur mühsam. Gabriele Sander mault, als sie mein Werk begutachtet. Sie sagt: „Sie haben eine noch saumäßigere Klaue als sonst.“

 

 

8.

 

Ich befinde mich im dritten Ausbildungsjahr, als wir von Ankündigungen unserer Hauptverwaltung aufgeschreckt werden. Angeblich stehen wir vor einer Revolution. Allerdings sind wir skeptisch. Die Hauptverwaltung der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG hat eine partielle Restrukturierung unserer Filialdirektion angekündigt. Wir kennen die Begriffe „partiell“ und „Restrukturierung“ nicht und sind dennoch unbesorgt. Was immer unsere Verwaltung im Sinn haben mag, sie hat uns früh informiert. Bislang taten wir gut daran, die Informationen aus Köln nicht zur Kenntnis zu nehmen. Denn so läuft es immer: Die Hauptverwaltung kündigt Ver änd erungen an. Anschließend passiert nichts. Oder es hat sich etwas ereignet. Aber wir bekommen es nicht mit.

 

 

Die Führungskräfte unserer Filialdirektion werden gelegentlich zu In formations­ und Weiterbildungsveranstaltungen in die Zentrale geladen. Dort lernen sie, dass die Direktoren für Personelles und  Or ganisatorisches wechseln mögen, das Personelle und Organisatori sche aber bestehen bleiben. Allerdings mögen sich die Begriffe wandeln, mit denen das Personelle und Organisatorische zu charakterisieren ist.

 

 

Magda Borowski fährt in die Zentrale. Mal kommt sie mit „Human Relations“, ein anderes Mal mit „Management by Objectives“ zurück. „Was bedeutet das alles?“ erkundigt sich der stellvertretende Abteilungs leiter, weil Magda Borowski erwartet, dass er danach fragt. „Für die „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ be deutet das nichts“, sagt Magda Borowski. „Ich mache das seit ewigen Zeiten so, und jetzt erst kommen die da oben dahinter.“

 

 

Ludger Baranowski sieht die Ereignisse gelegentlich anders. Während einer Weiterbildungsveranstaltung in Köln schüttelt er wiederholt seinen Kopf. Die Veranstaltung ist fast an ihr Ende gekommen, da stellt Baranowski den Personaldirektor zu einem Toilettengespräch. „Ich fühle mich überaus gut informiert“, sagt Baranowski, während er neben seinem Personalleiter vor einem Pissoir steht und strullt. „Dezentralisierung, Initiative, Motivation, Job Enrichment, Job En largem ent, Qualitätszirkel – ich habe diese Dinge alle verstanden. Eines allerdings begreife ich nicht. Ich weiß nicht, was ich in meiner Abteilung damit machen soll.“ „Das sage ich Ihnen im Vertrauen“, sagt der Personaldirektor, während sich beide die Hosen zu ratschen. „Sie machen genauso weiter wie bisher. Aber Sie verwenden ab sofort die von mir eingeführten Begriffe.“

 

Magda Borowski und Ludger Baranowski nehmen gemeinsam an einer weiteren Veranstaltung in der Zentrale teil. Als Frau Borowski aus Köln zurückgekehrt ist, gibt sie sich allen Mitarbeitern gegenüber gütig. Wir trauen der aufgegangenen Sonne nicht. Daran tun wir gut, denn ihr Wohlwollen währt nicht länger als zwei Tage.

 

Wie wir später erfahren, hat Magda Borowski einen Referenten auf der Veranstaltung näher kennengelernt. Der ist weniger popelig als die Männer, mit denen sie sich in der Filialdirektion herumschlägt. Dafür ist er verheiratet und liebt seine zwei Kinder. So werden sich der Referent und Magda Borowski mit seltenen Nächten im Wochenendhaus des Referenten begnügen müssen.

 

 

Ludger Baranowski kehrt von einer weiteren Weiterbildungsveranstaltung zurück und lässt sich nach längerer Abwesenheit auf der Herrentoilette sehen. Dort schlägt er die Hände über den Kopf und ruft: „Technischer Fortschritt!“ Wir nicken ihm zu. Wir sehen den Technischen Fortschritt als Hintergrundgeräusch, wie er regelmäßig von Köln aus gesendet wird. Das kommt und geht wie der Karneval. In diesem Fall sind wir unserer Meinung sogar sicherer als sonst: Technischer Fortschritt ist was für Proleten. Diese werden an Maschinen gestellt und machen raboti. Wir Angestellte bekommen derweil unsere Federkiele gespitzt.

 

In der Buchhaltung sind große Pakete eingetroffen. Darin sind angeblich Maschinen verpackt. Wir sind überzeugt, diese werden nie aus ihren Paketen geholt. Die Lehrlinge werden sie in den Aktenkeller bringen, wo sie allmählich verrotten. Aber nein, die Maschinen sind nach zwei Tagen ausgepackt. Sie lugen als unförmige Monster aus der Buchhaltung zu uns herüber. Wir beginnen zu flüstern, wenn wir an ihnen vorbeigehen.

 

Binnen weniger Wochen wird die Zahl der Mitarbeiter in der Buchhaltung von 22 auf zwei reduziert. Die verbliebenen Zwei werden an die Buchungsmaschinen gesetzt. Dort hämmern sie verbissen in die Tasten. Die Hauptverwaltung hat festgelegt, wie viel Mita rbei ter entlassen werden müssen. Die Geschäftsleitung entscheidet, welche Mitarbeiter das sind. Bevor die Geschäftsführung ihre Ent scheidungen trifft, geht sie von der Annahme aus, dass jungen Menschen die Bedienung der Buchungsmaschinen leichter fällt als gestandenen Versicherungskaufleuten. Die Jungen bekommen geringere Gehälter. Sie lieben den innerbetrieblichen Wandel und hassen ihn nicht. Daher darf Martin Brückner einstweilen in der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG für das östliche Ruhrgebiet bleiben. Glücklicherweise hat er gerade seine Kaufmannsgehilfenprüfung abgelegt. So kommt er für den Job in der Buchhaltung nicht nur infrage. Er bekommt ihn.

 

 

Wenn ich ihm gelegentlich auf dem Gang begegne, frage ich mich, ob jene, die entlassen wurden, es besser als er haben. Ich halte ihn an, während er an mir vorbeieilen will. Ich rede ihm zu, während er durch mich hindurchschaut. Ich schüttele ihn, bis er aufwacht und mich einen Augenblick lang hört. „Ich höre, du seiest Technischer Kaufmann geworden“, sage ich ihm. „Ich muss in der Tat zu meiner Buchungsmaschine zurück“, antwortet er.

 

 

„Du lässt dich nicht mehr auf der Herrentoilette sehen“, sage ich. „Das solltest du aber. Wir haben ein neues Graffiti an einer Kabinenwand. Aus meiner Sicht stellt es Harald Schnittberger im Geschlechtsverkehr mit, ja was meinst du wohl, dar.“ Martin Brückner bekommt erneut glasige Augen. „Ich muss an meinen Arbeitsplatz gehen“, sagt er. „Ich schaffe sonst meine Arbeit nicht.“

 

 

Mithin sind in meiner Filialdirektion die ersten Fälle realer Überfor derung eingetreten. Die Wirklichkeit passt sich an die Literatur der Arbeiterbewegung und die Voraussetzungen gewerkschaftlichen Handelns in der Buchhaltung an. Während Martin Brückner an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, suche ich die Herrentoilette auf. Dort bin ich der einzige Gast. Das ist noch nie vorgekommen. Ich betätige gleichzeitig mehrere Spülungen und rufe: „I get no satisfaction!“ Norbert Fabricius betritt die Toilette. Er schaut um sich und fragt: „Was ist hier los?“ Ich erkläre ihm, warum wir allein sind. Seit die Geschäftsführung die meisten Buchhalter entlassen hat, leben die Versicherungskaufleute in den anderen Abteilungen in Angst. Sie fürchten, es könne sie und ihre Abteilung als Nächste treffen. Deshalb, glauben sie, sei es besser, die Geschäftsführung nicht zu irritieren und verzichten auf ihren üblichen Gang zur Toilette. Derweil stellen die anderen Abteilungen nach wie vor zusätzliche Mitarbeiter ein, als ob nichts geschehen sei. Aber wie lange das währt, kann man nicht wissen, wenn man ein kleiner Versicherungskaufmann geblieben ist.

 

Die Neuordnung der Buchhaltung verstehe ich weniger gut, konzediere ich. „Warum?“ fragt Norbert Fabricius. „Was soll nicht einsichtig sein?“ „In der Buchhaltung ist es entgegen den offiziellen Angaben keineswegs zu einer Rationalisierung gekommen“, sage ich. „Vielmehr nahmen die Arbeitsmenge und die tatsächlich zu leistende Arbeitszeit zu.“

 

 

„Aber sind die Maschinen nicht dazu da, Arbeit einzusparen?“ fragt Norbert Fabricius. „Das ist der übliche Vorwand“, sage ich. „In Wirklichkeit werden Maschinen eingesetzt, weil sie da sind. Früher wurden die Zahlen ohne Umschweife ins Hauptbuch eingetragen. Jetzt wird die Eingabe der Zahlen in die Buchungsmaschinen notwendigerweise um mehrere Phasen, das sind die der Arbeitsvorbereitung und ­nachbereitung, ergänzt. Ich habe Martin Brückner in der Buchhaltung beobachtet. Obgleich er sich die größte Mühe gibt, Zeit zu gewinnen, benötigt er mehr Zeit, eine Zahl in die Maschine einzugeben, als er früher für das Hauptbuch benötigte.“ „Aber die Maschinen rechnen besser als menschliche Intelligenzen“, gibt Norbert Fabricius zu bedenken. „Ich schlage jede Buchungsmaschine bei den Additionen und Subtraktionen“, sage ich. „Sollte es weitere Rechenoperationen in der Buchhaltung geben, so sind sie mir bislang nicht untergekommen.“

 

„Worauf willst du hinaus?“ fragt Norbert Fabricius. „Hätte man aus den früheren Mitarbeitern der Buchhaltung alles herausgeholt, was möglich gewesen wäre, hätte man 21 von 22 Mitarbeitern entlassen können“, sage ich. „Wäre dem so, wie du sagst, warum verhält sich unsere Geschäftsführung so?“ möchte Fabricius wissen. „Buchungsmaschinen sind teuer“, sage ich. „Sie haben sich zu amortisieren. Deshalb muss in einer mit Technik ausgestatteten Buchhaltung notwendigerweise die Arbeitsproduktivität gesteigert werden. Anders gesagt, die Menschen sind es, die für die Maschinen auf kommen müssen.“

 

 

Ein neuer Werktag hat begonnen. Ich strebe meinem Schreibtisch in der „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ zu. Ich lasse mich an meinem Schreibtisch nieder. Zu meiner Linken finde ich eine neue Kollegin vor. Gabriele Sanders lässt einen Stempel über eine Versicherungspolice schweben. Man hat sie nicht entlassen. Ohnehin wurde sie durch eine längere Kündigungsfrist geschützt. Womöglich wollte man ihre jahrzehntelange Treue zur Filialdirektion belohnen. Also hat man Frau Borowskis Anforderung entsprochen und ihr einen neuen Stempler bewilligt, gleichzeitig jedoch Gabriele Sanders auf die zugestandene Stelle gesetzt.

 

 

Der stellvertretende Abteilungsleiter steht neben ihr und sagt: „Das machen Sie schon ganz gut, Frau Sanders.“ An mich gewandt sagt er: „Sie kümmern sich um die neue Kollegin?“ „Das tue ich gern“, antworte ich. Ich wende mich an Frau Sanders und sage zu ihr: „Was immer Sie nicht verstehen mögen, nur heraus damit.“

 

 

Als Gabriele Sanders eine Woche lang Versicherungspolicen gestempelt hat, bleibt sie der „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ fern. „Ich habe mir gleich gedacht, dass sie es nicht packen würde“, sagt Magda Borowski. Als nächstes meldet sich Frau Sanders ältere Schwester. Diese teilt Heinrich Ludwig in einem Telefongespräch mit, dass ihre jüngere Schwester aus heiterem Himmel verstorben sei.

 

Zum ersten Mal zu meinen betrieblichen Lebzeiten springt die Haupt verwaltung über ihren Schatten. Da Gabriele Sanders erst vor wenigen Tagen degradiert worden ist, soll sie eine Beerdigung be kommen, wie sie einer Abteilungsleiterin der Allgemeinen Südstern Ver sicherungs AG zusteht. Das heißt, dass wir alle an Frau Sanders Bestattung teilnehmen. 

 

 

Ein Redner aus der Hauptverwaltung eilt herbei. Ein zweiter Trauerredner wird von der Humanistischen Union engagiert. Ein kleiner Spritzer aus dem antiklerikalen Arsenal der Arbeiterbewegung ist an Gabriele Sanders haften geblieben. Hat sie sich an den Glauben ihrer Eltern an den Sozialismus erinnert, als sie ihr Vermächtnis aufgesetzt hat? Der Redner aus der Hauptverwaltung stimmt ein Loblied auf Gabriele Sanders an. Er spricht in Superlativen. Ich wundere mich, wie Frau Sanders so viele Tugenden so lange verborgen halten konnte. Da verwechselt der Redner die Pronomen. Auf einmal ist die ehemalige Leiterin unserer Buchhaltung ein Mann. Ich verstehe. Der Kölner Referent weiß nichts von Frau Sanders und hält einmal mehr sein Standardreferat.

 

Was für ein Leben, denke ich, und das soll alles gewesen sein? Der Sarg mit Frau Sanders sterblicher Hülle gleitet automatisch ins Feuer und in die ewige Vergessenheit.