Kapitel 8

 

8. KAPITEL 1955–1958

 

Die Versicherungswirtschaft im Dreifrontenkrieg gegen Innendienst,

 

Außendienst und Versicherungsnehmern

 

 

Als ich mein erstes Lehrjahr beende, erkenne ich, dass sich die Geschäftsführung mir gegenüber bislang generös gezeigt hat. Sie hat mir am Ende eines jeden Arbeitstages schöne Stunden zugestanden. Aber als ich in das zweite Ausbildungsjahr überwechsele, will sie mir diese ohne weiteres nehmen. Protestierte ich, stieße ich allerorts auf Unverständnis, weil das, was ich als Arbeitsfreude sehe, von den anderen als Arbeitsleid wahrgenommen wird.

 

 

Der Begriff des „Postministers“ wurde von Lehrlingen höherer Ausbildungsjahre geprägt, um die Lehrlinge des ersten Lehrjahres zu verspotten. Diese Bezeichnung setzt sich über alle Ränge bis zu den Abteilungsleitern durch. Als mehrere Ausbildungsgenerationen vergangen sind, tragen die Auszubildenden des ersten Lehrjahres ihren Titel stolz vor sich her. Immerhin sind sie Minister. Die Position eines Postministers bleibt den Lehrlingen im ersten Lehrjahr vorbehalten. Diese haben sich die anfallenden Arbeiten beim Postversand nach Wochenblöcken zu teilen. Das heißt, an jedem Werktag kann nur einer der Auszubildenden Postminister sein. Den Verantwortlichen, allen voran Heinrich Ludwig, ist gleich, in welcher Reihenfolge die Blöcke abgearbeitet werden. In solche Niederungen des Organisationstechnischen begeben sie sich nicht. So ist von vornherein ein Gran Selbstverwaltung in der Organisation des Postministeriums angelegt. Ich werde von den anderen Lehrlingen im ersten Lehrjahr geschätzt, weil ich hilfsbereiter als sie alle zu sein scheine. So bin ich immer bereit, einem anderen die Arbeiten eines Postministers für diesen Tag oder die gesamte Woche abzunehmen. Es gibt andere Lehrlinge, die möchten gleichfalls nicht unkollegial sein. Sie würden einspringen, wenn man sie bäte. Allerdings hätte man sie stärker als mich zu beknien und würden sie anders als ich die geliehenen Stunden zurück haben wollen.

 

 

„Das verstehe ich nicht“, beginnt Norbert Fabricius auf dem Scheißhaus ein Latrinengespräch. „Der Dieter sagt gelegentlich bemerkenswerte Dinge. Aber beim Postministerium verhält er sich, als sei er bekloppt.“ „Solange er mir die Arbeit abnimmt, soll mir egal sein, warum er das tut“, sagt Martin Brückner. Fabricius denkt nach diesem Gespräch weiter über mich nach. Er droht mir auf die Schliche zu kommen. Einmal lauert er mir auf und sagt: „Ich habe eine Frage an dich.“ „Ja bitte“, sage ich. „Ist Arbeit notwendigerweise mit Leid für dich verbunden?“ fragt er. „Oder bringt sie gelegentlich Freude in dein Haus?“ „Nehmen wir an, dass Arbeit Freude bereite“, sage ich. „In diesem Fall kehrten sich die Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern um. Die Arbeitgeber leisteten etwas für die Arbeitnehmer, indem sie ihnen Freude bereiten. Die Arbeit nehmer hätten die Arbeitgeber zu kompensieren. Nenne diese Zahlungen Lohn oder meinethalben Profit. Das ist unerheblich. Hast du einmal gesehen, dass einer von uns Heinrich Ludwig oder Dr. Harald Schnittberger oder die Aktionäre der Allgemeinen Südstern Ver si cherungs AG entschädigt hätte?“ „Ich habe nichts von deinen Worten verstanden“, sagt Fabricius. „Erfreust du dich nun deiner Arbeit oder leidest du an ihr?“ „Leiden wir nicht alle an unserer Arbeit?“ frage ich zurück. „Wäre dem nicht so, hätte das Management nicht alle Produktivitätsreserven aus uns herausgeholt. Bestände unsere Arbeit aus Freude, wozu sollte es Gewerkschaften geben?“ „Nun ja“, gibt Norbert Fabricius vorläufig auf und verlässt die Toilette.

 

 

Dieser Kollege will freilich nicht auf Dauer verlieren. Einige Monate später kommt er in die „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“. Er stellt sich hinter mich und zischelt mir zu: „Nachdem ich dich des Längeren beobachtet habe, bin ich sicher, dass du ein psychiatrischer Fall bist. Da dir die Arbeit nicht Leid zufügt, sondern Freude bereitet, musst du pervers sein.“ „Ja, weißt du nicht, dass die Normalen die eigentlich Bekloppten sind?“ frage ich, weil ich gerade „Die Physiker“ von Dürenmatt gelesen habe.

 

 

„Du bist es nicht, der den anderen einen Gefallen erweist, wenn du das Postministerium übernimmst“, fährt Fabricius fort. „Vielmehr tun sie dir einen Gefallen.“ „Wäre dem so, was folgertest du?“ frage ich. „Ich könnte den anderen Lehrlingen sagen, was du für einer bist“, sagt Norbert Fabricius. „Aus arbeitsmedizinischer Sicht wäre eine solche Warnung geboten. Wer weiß, ob deine Krankheit nicht ansteckend ist. Allerdings ziehe ich eine ökonomische Sichtweise vor. Stell dir vor, ich informierte die anderen Lehrlinge. Dann träten sie das Postministerium nach wie vor an dich ab. Aber von nun an würden sie eine Entschädigung von dir verlangen. Das könnte dir teuer zu stehen kommen. Oder du entschädigst mich für mein Schweigen. In diesem Fall hättest du, weil ich dir zugetan und bescheiden geblieben bin und wenig verlangen würde, ein Schnäppchen gemacht.“ „Nur zur Klarheit, möchtest du Geld?“ frage ich. „Das wäre ich bereit zu akzeptieren“, sagt Norbert Fabricius. „Ich werde dich weit besser belohnen“, sage ich. „Wie das?“ fragt Fabricius. „Komm mit“, sage ich.

 

Die Filialdirektion verfügt über einen Keller mit historischen Akten. Dort gehen wir hin, wenn die Schlangen vor den Toiletten zu lang geworden sind. Zwar hat kein Lehrling je eine historische Akte für seine Arbeit benötigt. Glücklicherweise haben unsere Oberen darüber nicht nachgedacht. Somit bezweifeln sie nicht, dass wir gelegentlich im Aktenkeller zu tun haben. Allerdings meinen sie, dass alles hopphopp gehen muss.

 

 

Der Schlüssel zum Aktenkeller wird in der Telefonzentrale aufbewahrt. Er hängt an einem Nagel an der Wand direkt neben der Tür. Jeder Mitarbeiter kann hinein marschieren, den Schlüssel an sich nehmen und nach unten schlendern. Allerdings sieht es die Leiterin der Telefonzentrale nicht gern, wenn ihr der Schlüssel zum Aktenkeller entwendet wird. Geschieht dies dennoch, macht sie sich auf den Weg zum Bürovorsteher. Sie möchte Heinrich Ludwig mitteilen, ja was eigentlich. Der Bürovorsteher geht in den Aktenkeller, um darauf zu achten, dass kein Lehrling zulange im Aktenkeller bleibt.

 

 

Notfalls bleibt er hinter dem Lehrling stehen, bis dieser eine Akte aus dem Packen gezogen, hineingeschaut und zurückgefriemelt hat. Wir Lehrlinge haben dennoch eine Chance, zu einer längeren Pause zu kommen. Die Leiterin der Telefonzentrale telefoniert oft und lange und merkt zunächst nicht, was um sie herum geschieht. Wenn sie Heinrich Ludwig informiert hat, kann dieser womöglich erst später kommen, weil er sich mitten in einem Gespräch mit einem Abteilungsleiter oder sogar dem Filialdirektor befindet.

 

 

Norbert Fabricius ist nie im Aktenkeller gewesen. Kaum habe ich ihn nach unten mitgenommen, da möchte er am liebsten zurück ins Büro. Er schrickt zusammen, weil er glaubt, er habe Heinrich Ludwig in der Nähe gehört.

 

 

„Du wirst so was von den Pötten sein, sobald du siehst, was ich dir zu schenken gedenke“, versichere ich ihm. „Hier, mache es dir gemütlich. Ich brauche eine Weile, bis ich die große Überraschung für dich zusammengezimmert habe.“ Während ich rede, breite ich mehrere Laken aus, die ich vor einiger Zeit aus dem Schrott vor einem benachbarten Keller entwendete. Norbert Fabricius legt sich hin und sagt: „Das will ich schwer hoffen, dass mich dein Angebot zufriedenstellt. Ich fände es bedauerlich, wenn ich gegen dich vorgehen müsste.“ „Dir werden vor Dankbarkeit die passenden Worte fehlen“, versichere ich und lege den Schlüssel zum Aktenkeller neben ihm.

 

 

Ich gehe durch die Regale mit den historischen Akten. Auf Zehenspitzen kehre ich zurück. Ich schleiche mich aus dem Keller. Vor der Eingangstür der Filialdirektion lasse ich es läuten. Die Leiterin der Telefonzentrale öffnet die Tür und erstarrt, als sie mich sieht. „Der Kollege Fabricius sucht nach historischen Akten“, teile ich ihr mit. „Ich wollte ihm helfen, aber er schickte mich weg.“ Schon ist die Telefonistin weg, um unserem Bürovorsteher Bericht zu erstatten. Als Heinrich Ludwig den Aktenkeller betritt, ist Norbert Fabricius in seinen Laken eingeschlafen. Was danach kommt, erfahren wir nicht. Aber wir können es uns vorstellen. Das wird Fabricius lehren, mir an die Karre zu fahren.

 

 

2.

 

Ich gehe vom ersten Ausbildungsjahr in das zweite über. Ein neuer Schwung Lehrlinge tritt in die Filialdirektion ein. Ich darf einen Lehr ling in den Postversand einarbeiten. Anschließend darf ich nicht mehr ein Postminister sein.

 

 

Zur Einarbeitung wird mir Ralf Stratmann zugeteilt. Stratmann ist in unserer Filialdirektion der erste, der von einem Gymnasium kommt, nachdem er seine Studien dort nicht fortsetzen durfte. Damit ist er der Vorbote eines kommenden Trends. Noch ein paar Jahre und richtige Abiturienten schwirren als Auszubildende durch die Direktion. Das setzt sich fort, bis sie alle ehemaligen Volksschüler verdrängt haben. Bleibt für diese nur noch die Wohlfahrt und Arbeitslosigkeit? Stratmann bringt Stil in unsere Hütte. Das ist ein Talent, dass sich in unserer Filialdirektion bislang nicht gezeigt hat. Das heißt jedoch nicht, dass wir nicht in der Lage wären, Stil zu erkennen und schätzen zu lernen. Ich beobachte, wie Stratmanns Art zu sprechen und sich zu bewegen, Nachahmer findet. Neuerdings wollen sogar männliche Lehrlinge über Mode reden.

 

 

Auch bei unseren Oberen kommt Stratmann gut an. „Bei Herrn Strat mann merkt man gleich, dass er aus einem guten Stall kommt“, sagt Magda Borowski. Kurz darauf glaubt sie, meinen Schritt erkannt zu haben. „Ist das Herr Bredemeier?“ erkundigt sie sich. „Da geht er her“, sagt der stellvertretende Abteilungsleiter. „Sie würden so gern aus einem guten Stall kommen und dennoch sieht jeder gleich, was Sie für einer sind, nicht wahr, Herr Bredemeier?“ fragt Magda Borowski. „Sie irren, Frau Borowski“, antworte. ich. „Ich habe nichts gegen Stil, wenngleich ich am Ende des Tages Substanzielleres vorziehe.“

 

 

Heinrich Ludwig schweigt, nachdem Ralf Stratmann auf dem Gang an ihm vorbeigeschritten ist und „Dominus vobiscum“ und „Quo vadis, Domine?“ zu ihm gesagt hat. Ich erkundige mich bei Stratmann, was diese Worte bedeuten. „Das weiß ich nicht, da ich wegen Latein vom Gymnasium geflogen bin“, sagt Ralf Stratmann. „Es ist auch nicht wichtig, das zu verstehen. Aber bislang habe ich in dieser Filialdirektion keinen gefunden, der sich durch Sprüchschen wie diese nicht aus dem Gleichgewicht bringen lässt. Noch möchte einer zugeben, mich nicht verstanden zu haben.“

 

 

„Ich gehe gleich zu Heinrich Ludwig und rede ihn mit „Quorum quarum“ an“, sage ich. „So einfach ist das nicht“, sagt Ralf Stratmann. „Es braucht nicht sinnvoll zu sein, was du sagst. Aber man muss es dir abnehmen.“

 

 

Stratmann realisiert, dass ausschließlich die Lehrlinge im ersten Lehrjahr Postminister sein dürfen. „Das finde ich nicht gut“, sagt er. „Ich würde dich gern bis in alle Ewigkeit ablösen“, sage ich, „aber ich darf nicht.“ „Warum gehen wir nicht zu Heinrich Ludwig und sprechen mit ihm?“ fragt Stratmann. „Darüber?“ frage ich und lache ungläubig. Ralf Stratmann steht auf und beginnt, sein Jäcklein zu knöpfen. „Gehen wir zu ihm“, sagt er.

 

Heinrich Ludwig zeigt sich ungeduldig, weil zwei Lehrlinge bei ihm vorz usprechen wagen. Erst versteht er uns nicht. Dann scheint er kurz vor einem Anfall zu stehen. „Seit wann befassen sich Lehrlinge damit, wie die Arbeitsabläufe in der Filialdirektion zu organisieren sind?“ fragt er drohend. „Gallia in tres partes divisa est“, sagt Ralf Stratmann. „Wie bitte?“ fragt Heinrich Ludwig. „Alia iacta sunt“, sagt Stratmann. „Das soll mir egal sein, wie Sie Ihre Arbeiten unter sich aufteilen“, sagt Heinrich Ludwig. „Aber die Post muss ordentlich und fehlerfrei versandt werden.“ „Das versprechen wir Ihnen, Herr Ludwig“, sage ich.

 

 

Ins Postministerium zurückgekehrt schlagen wir uns wechselseitig auf die Schulter und führen einen indianischen Regentanz auf. „Was machen wir jetzt?“ fragt Ralf Stratmann. „Wir laden alle Lehrlinge zu einer Sitzung, um sie von den Entscheidungen Heinrich Ludwigs in Kenntnis zu setzen“, sage ich. „Aber welche Entscheidung hat unser Bürovorsteher getroffen?“ fragt Stratmann. „Das bestimmen wir“, sage ich. „Soll ich einen bestimmten Part auf der Versammlung spielen?“ fragt Stratmann. „Ein paar lateinische Floskeln an den entscheidenden Stellen in unseren Erörterungen wären nicht schlecht“, sage ich. Kaum haben wir die Entscheidungen Heinrich Ludwigs auf der Vollversammlung der Lehrlinge bekannt gegeben, da laufen die Lehrlinge des zweiten und dritten Lehrjahrs dagegen Sturm. „Alle Lehrlinge durften das Postministerium abgeben, als sie vom ersten in das zweite Lehrjahr wechselten“, sagt Karl­Heinz Blackert, der sich wie ich im zweiten Ausbildungsjahr befindet. „Warum sollen wir schlechter als frühere Ausbildungsgenerationen gestellt werden?“ Ralf Stratmann breitet die Hände aus und sagt: „Weil es Heinrich Ludwigs Wille ist.“ „Wartet mal“, sage ich, während ich aufstehe. „Ich sehe ein, wir hätten härter mit unserem Bürovorsteher verhandeln und ihm sogar widersprechen sollen. Das kann ich nur wiedergutmachen, indem ich jeden Kollegen aus dem zweiten und dritten Lehrjahr das Postministerium abnehme.“ „Was würde unser Bürovorsteher dazu sagen?“ fragt Blackert. „Wie wir die Arbeiten im Einzelnen aufteilen, bleibt uns überlassen“, sage ich.

 

 

„Gilt dein Angebot für alle Lehrlinge aus dem zweiten und dritten Lehrjahr?“ fragt Gisela Schneider. „Wenn ihr das wünscht“, sage ich. „Selbstverständlich steht es jedem frei, mein Angebot abzulehnen. Ihr müsst selbst wissen, wie viel Arbeitsleid ihr auf euch laden wollt.“ „Wenn ich die Arbeiten an dich abgebe, bleibe ich dennoch ein Postminister?“ fragt Knut Rübesam. „Du behältst deinen Titel“, sage ich. „Gleichzeitig darfst du dich auf repräsentative Verpflichtungen eines Ministers beschränken und dich mit „Herr Postminister“ anreden lassen.“ „Woher soll ich wissen, dass du dich an deine Versprechen hältst?“ fragt Blackert. Ich werfe Ralf Stratmann einen Blick zu. Dieser versteht. „Sic tacuisses philosophus mansisses“, sagt er. „Das musste jetzt unbedingt gesagt werden“, sage ich.

 

 

„Wärest du gegebenenfalls zusätzlich bereit, den Postminister für die Lehrlinge des ersten Lehrjahres zu spielen?“ fragt Ralf Stratmann. Er hat erkannt, dass ich dazu bereit wäre, und er lehnt das Post ministerium für sich als nicht standesgemäß ab. Immerhin hat er das Einjährige erworben. „Darüber sollten wir ein andermal reden“, sage ich, während ich denke: Erstmal mit den heutigen Erfolgen zufrieden sein und nicht gleich alles wieder aufs Spiel setzen. Was Stratmann angeht, so hat er mir zwar geholfen. Aber mit ein paar lateinischen Sprüchschen kommt der sowieso überall durch.

 

 

Also lösen wir unsere Versammlung auf. Einige Lehrlinge werfen mir, während ich hinausgehe, hämische Blicke zu. Was bin ich für ein Doofkopp, der sich durch eigene Ungeschicklichkeit derart viel Arbeit aufladen lässt. Norbert Fabricius schenkt mir einen undefinierbaren Blick, sagt aber nichts.

 

 

Stratmann und ich stehen noch eine Weile herum. „Jetzt musst du mir erklären, warum du unbedingt immer Postminister sein willst“, verlangt er. „Ich halte mich mittlerweile für den am besten informierten Mitarbeiter der Filialdirektion“, sage ich. „Zwar weiß Heinrich Ludwig so viel wie ich, wenn wir uns auf die reinen Tatbestände beschränken. Aber anders als er bringe ich die nötige Distanz auf, um die Vorgänge in der Filialdirektion in größere Zusammenhänge einzuordnen.“ „Du liest die Briefe, bevor du sie wegschickst“, staunt Ralf Stratmann.

 

 

„Auf diese Idee ist unter uns Lehrlingen bislang keiner gekommen.“ „Mein Blick auf die Filialdirektion hat sich wesentlich verändert, seit ich besser informiert bin“, sage ich. „Weißt du zum Beispiel, dass unser Büroleiter einen Dreifrontenkrieg gegen Innendienst, Außendienst und Versicherungsnehmer führt? Allerdings kann er keinen dieser Kriege gewinnen.“ „Wenn er sie nicht gewinnen kann, warum führt er dann Krieg?“ fragt Ralf Stratmann. „Er glaubt, dass ihm die Hauptverwaltung dieses tragische Geschick auferlegt hat“, sage ich.

 

 

3.

 

Der Tisch für den Postminister bleibt in den meisten Stunden eines Werktages verwaist. Wenn ich mich gegen 15 Uhr an ihm niederlasse, vergesse ich die Blicke der Mitarbeiter der Organisationsabteilung in meinem Rücken. Das Postministerium und die Organisationsabteilung nehmen nie aufeinander Bezug. Kurz nach 15 Uhr kommt Heinrich Ludwig und legt einen größeren Berg an Briefen auf meinen Tisch. Bereits an meinem ersten Tag als Postminister entdecke ich, dass ich mich nicht darauf beschränken muss, die Briefe in Umschläge zu stecken und zu frankieren. Niemand kümmert es, wenn ich sie alle lese. Keiner merkt, dass ich Schlussfolgerungen ziehe.

 

 

Als ich vom zweiten ins dritte Ausbildungsjahr wechsele, habe ichHeinrich Ludwig erzogen, dass er mich um sich duldet, weil ihn das in seiner Arbeit weiterbringt. Ich darf Briefe aus seinem Büro holen. In einem weiteren Schritt gewöhne ich ihn daran, dass ich die dazugehörigen Akten mitnehme. Dann braucht der Bürovorsteher die Kopien seiner Briefe nicht selbst in die Akten einzulegen und gewinnt Zeit für die strategische Entwicklung der Filialdirektion. Mithin habe ich mich in die Lage versetzt, bei Briefen, die mein besonderes Interesse geweckt haben, auf die dazugehörige Akte zuzugreifen. Oder ich wühle mich durch eine Akte, obgleich der dazu gehörende aktuelle Brief langweilig ist. Haben sich in einer Akte viele Schriftstücke angesammelt, reizt sie mich besonders, da sich dann eine Geschichte von hinten nach vorn entwickelt und ich viel zu lesen habe.

 

 

Je mehr ich mich durch den Schriftverkehr arbeite, desto mehr verliere ich meinen Sinn für den einzelnen Fall. Dafür schärfen sich meine Sinne für jene Zusammenhänge, die für viele Vorgänge und für längere Zeiten gelten. Ich nehme mir eine Akte nach der anderen vor und drösele sie nach der Fragestellung „Und was geschah dann?“ auf. Nach einiger Zeit nehme ich wahr, dass ein Fall dem anderen gleicht. So verfügt Heinrich Ludwig allenfalls über drei Möglichkeiten, Ersuchen der Versicherungsnehmer abzulehnen. Ich lerne Zusammenhänge verstehen, die der Versicherungsinnendienst nicht kennt oder an die er nicht zu rühren wagt, obgleich er sie täglich hervorbringt. Vor allem entdecke ich die versicherungspolitisch entscheidende Bedeutung des §38a des Versicherungskontraktgesetzes (VKG). Zusätzlich kommen mir Informationsfetzen zugute, die mir außerhalb des Postministeriums zufallen. Ein Außendienstmitarbeiter gibt ein lockeres Sprüchlein von sich, während er durch die Gänge der Filialdirektion schlendert und sich seine letzten Provisionen auszahlen lassen will. Mehrere Abteilungsleiter schreiten vorbei und belustigen sich über die Dummheit ihrer Mitarbeiter. Ich stehe am Rand und höre konzentriert zu. Aber ich verstehe alles erst, nachdem ich die Briefe Heinrich Ludwigs an seine jetzigen und früheren Außendienstmitarbeiter gelesen habe und mir die Frage stelle, was sie bedeuten.

Ich ordne die Briefe, mit denen die Filialdirektion mit ihrer Umwelt verkehrt, in drei Rubriken. Da sind erstens die Briefe, die sich an ehemalige oder künftige Mitarbeiter des Versicherungsinnendienstes richten. Diese interne Korrespondenz macht weniger als 15% des zu versendenden Aufkommens aus. Sie erscheint mir vergleichsweise uninteressant. Dann kommen zweitens die Briefe, mit denen die Versicherungsnehmer in die Versicherungsknechtschaft geführt und in ihr gehalten werden. Dazu gesellen sich drittens jene, mit denen Heinrich Ludwig die jetzigen und früheren Mitarbeiter des Außendienstes verfolgt. Das sind die spannendsten. Eine Zeitlang schreibe ich das, was ich entdecke, auf einen Zettel. Wollte ich allerdings einen Text drum herum schreiben, so brächte das nichts. Denn bliebe ich in meinem Manuskript bei den Fakten, glaubte mir keiner, am wenigsten die Mitarbeiter der Filialdirektion.

 

 

4.

 

Vielleicht ist die interne Korrespondenz doch nicht so langweilig wie ich zunächst glaubte. Oder ich beginne, sie interessant zu finden, weil ich mich längere Zeit mit ihr befasste. Briefe an Mitarbeiter des Innendienstes sind grundsätzlich unfreundlich formuliert. Das schließt jene ein, die man einstellen möchte oder mit einer Kündigung oder in die Rente nach Hause geschickt hat. Wenn ein Mitarbeiter des Versicherungsinnendienstes einen Brief seiner Filialdirektion nach Hause bekommt, beginnen ihm die Knie zu schlottern. Was mag das sein, was ihm nicht persönlich gesagt werden sollte? Dieser Brief muss wenigstens eine Abmahnung wenn nicht die letzte Verwarnung enthalten. Mit unfreundlichen Briefen meldet die Filialdirektion ihren Anspruch auf eine umfassende Instrumentalisierung künftiger Mitarbeiter nach dem Grundsatz an: Ob wir dich überfordern oder unterfordern, ist ohne Belang. Wichtig ist einzig, dass du uns immer gehorchst und dir jedes Rundschreiben der Hauptverwaltung der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG ein Evangelium bleibt. Briefe an frühere Mitarbeiter enthalten die Botschaft: Was willst du noch, da wir dich nach Hause geschickt haben? Wir denken nicht daran, dich anders als zu deinen beruflichen Lebzeiten zu behandeln. Wage es nicht, nun, da du tot bist, unseren Leerlauf noch einmal zu stören.

 

 

Rundschreiben, also Briefe, die sich an mehrere wenden, werden ausschließlich vom Hauptquartier an die Filialdirektion gerichtet. Die Filialdirektion hat nicht das Recht, sich an alle auf einmal zu wenden. Von den Rundschreiben weiß man häufig nicht, was sie eigentlich sollen. Manchmal lese ich einen Text mehrere Male hintereinander und verstehe immer noch nicht. Dennoch glaube ich, dass diese Schreiben nicht sinnlos sind, vielmehr einen verborgenen Sinn enthalten. Allerdings erschließt sich dieser nur, wenn der eigene Schreibtisch in Köln steht und man die internen Zusammenhänge und Hintergründe kennt, aus denen das Schriftstück erwachsen ist.

 

 

Bezieht sich der Schriftverkehr zwischen der Hauptverwaltung und der Filialdirektion auf einzelne Fälle, besteht er meistens aus unverständlichen Kürzeln. Mit der Zeit lerne ich, sie zu entschlüsseln. Als ich dieses Handwerk beherrsche, merke ich, dass sich der Aufwand für mich kaum gelohnt hat. Das Hauptquartier sagt: Tue dieses und jenes. Per Prokura, Krickel Krackel. Die Filialdirektion sagt: Wir haben dieses und jenes getan. Im Auftrage, Heinrich Ludwig. Es wird immer nur gesagt, was nach den geltenden internen Vorschriften selbstverständlich gewesen wäre. Wozu diese Korrespondenz, es sei denn, man möchte sich ein Alibi geben?

 

Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dass nichts Neues unter der Sonne zwischen Hauptquartier und Filialdirektion zu verhackstücken ist. Nicht alles, was sich zwischen den verschiedenen Ebenen der Allgemeinen Südstern Versicherung AG abspielt, kann aus eingespielten Routinen bestehen. Also folgere ich, dass alles Wichtige in den Beziehungen zwischen Hauptverwaltung und Filialdirektion mündlich wenn nicht nonverbal verbraten wird. Diese Vorgehensweise ist für unsere Hauptverwaltung eindeutig vorteilhaft. Da sie als vorgesetzte Ebene das Sagen hat, kann sie diese Praxis auch durchsetzen. Die Hauptverwaltung darf sich als vorgesetzte Ebene verschwiemelt ausdrücken und darauf vertrauen, dass die Filialdirektion in wohlverstandenem und vorauseilendem Gehorsam alles so richtet, wie Köln es will. Erweist sich ein Handeln der nach geordneten Ebene als Fehler, ist es immer die Filialdirektion und nicht die Hauptverwaltung, die Schuld auf sich geladen hat.

 

 

Ist das die vollständige Erklärung? Mir kommt noch eine Idee. Sie raubt mir den Atem. Ist das, was mündlich vereinbart oder schweigend erwartet wird, illegitim, vielleicht sogar illegal? Man darf es nur mündlich sagen, wenn es exekutiert werden soll? Es könnte in schriftlicher Form vor dem Gesetz, den Gerichten, der Öffentlichkeit, den Versicherungsnehmern und dem Versicherungsaufsichtsamt keinen Be stand haben? Wir alle sprängen empört auf, wenn wir das, was die Filialdirektion Tag für Tag anrichtet, in einer schriftlichen Form sähen, und riefen: „So, liebe Versicherungswirtschaft, geht das aber nicht!?“

 

 

5.

 

Es dauert Monate, bis ich erkenne, dass man die Briefe Heinrich Ludwigs sowohl an die Versicherungsnehmer als auch an die Vertreter zusammensehen muss. Sonst lässt sich weder der eine noch der andere Brieftyp verstehen. Es vergehen sogar Jahre, bis ich mir den vollständigen Durchblick aneigne. Nicht zu vergessen, ich bin Autodidakt. Aber im dritten Lehrjahr komme ich darauf, dass es eine Ursituation geben muss, auf die in der Versicherungswirtschaft alles zurückzuführen ist. In dieser Ursituation findet das Vertretergespräch statt.

 

Ich kann die Existenz und die Bedeutung des Vertretergespräches nur indirekt erschließen. Zuviel Wichtiges wird in diesen Briefen vorausgesetzt und bleibt ungesagt. Ich folgere, dass ich zusätzliche Informationen von unseren Außendienstmitarbeitern benötige. Die Filialdirektion verfügt über einen Konferenzraum. Die Außendienstmitarbeiter nutzen ihn als Aufenthaltsort. Ihre Besuche finden turnusmäßig am Montag statt und lassen sich um Besuche an weiteren Werktagen ergänzen. Das mag nötig werden, wenn es den Filialdirektor nach einem Gespräch mit einem Außendienstmitarbeiter außerhalb der Reihe verlangt. Dem Innendienstmitarbeiter wird nicht verboten, den Konferenzraum aufzusuchen. Vielmehr ist es selbstverständlich, dass er dort nicht hineingeht. Was für einen Versicherungskaufmann im Innendienst zutrifft, muss erst recht für einen Lehrling gelten.

 

 

Wenn ein Mitarbeiter dennoch den Konferenzraum besucht, trägt er eine Akte in der Hand. Flüsternd trägt er sein Ansinnen einem Versicherungsvertreter vor. Sobald der Außendienstmitarbeiter seinen Kommentar abgegeben hat, wäre eine Fortsetzung des sachbezogenen Austausches zwar grundsätzlich möglich. Allerdings ereignet sich dieser nur selten, da alle Vorgänge in der Filialdirektion weitgehend standardisiert sind. Folglich ist immer nur ganz wenig zu klären. Nachdem der Anlass nun mal im Konferenzraum erörtert worden ist, hat der Innendienstler den Konferenzraum zügig zu verlassen. Ein semi­privater Austausch zwischen Innendienstler und Außendienstmitarbeiter findet nicht statt. Ein solcher ist nicht einmal unter Mitarbeitern des Innendienstes vorgesehen. Innendienst und Außendienst sind einander in wechselseitiger Abneigung verbunden. Unterschwellig verachtet man die Mitglieder der jeweils anderen Gruppe, weil der Innendienst nichts auf der Tasche hat und der Außendienst auf fragwürdigen Wegen zu seinen Einkünften kommt. Demnach befürchte ich Schlimmes, als ich ein erstes Mal den Konferenzraum betrete. Doch die Außendienstmitarbeiter nehmen mich nicht wahr. Ich müsste schreien, wollte ich sie dazu bewegen, mir den Kopf zuzuwenden. Auch die Mitarbeiter des Innendienstes sehen mich nicht, wenn sie ausnahmsweise den Konferenzraum betreten. Da mir keiner gestattet hat, mich dort aufzuhalten, kann ich nicht dort sein und sieht man mich demzufolge nicht. Einmal geht Heinrich Ludwig so nahe an mir vorbei, dass er mich streift. Aber er kann mich nicht sehen. Bei Magda Borowski, träte sie auf, wäre ich weniger sicher. Sie könnte mich zwar gleichfalls nicht sehen, aber sie würde mich riechen. Glücklicherweise hat sie nur selten mit Vertretern zu tun und wenn doch, lässt sie sich diese Leute in ihre Abteilung kommen.

 

 

Bald sitze ich regelmäßig für längere Zeit im Konferenzraum. Ich habe es mir am Konferenztisch gemütlich gemacht. Ich esse Popcorn, sollte ich gerade in der Lage sein, mir Popcorn zu leisten. Gelegentlich komme ich in Versuchung, meine Beine auf den Konferenztisch zu legen.

 

 

Ich höre mir an, was die Versicherungsvertreter einander zu sagen haben. Das mache ich nicht nur, weil ich weitere Informationen benötige. Ich mache es auch, weil ich den Gestank, das Gedränge und das Geschwätz auf der Herrentoilette so was von leid bin und mir längere Aufenthalte im Aktenkeller zu gefährlich erscheinen. Hier wird mir zudem bestätigt, dass es die „versicherungswirtschaftliche Ursituation“ gibt.

 

Ja, es gibt sie. Ich finde die zentralen Zusammenhänge heraus, die für die versicherungswirtschaftliche Ursituation gelten und liste sie auf einem Zettel zu Beginn meines dritten Ausbildungsjahres auf. Den Zettel verliere ich alsbald. Aber ich behalte das, was ich niedergeschrieben habe, in meinem Gedächtnis:

 

 

„1. Für einen Vertreter, der halbwegs talentiert und geübt ist, ist es nicht schwer, eine versicherungswirtschaftliche Ursituation herzustellen.

 

2. Ungleich schwieriger ist es für einen Versicherungsvertreter, eine Ursituation zum Abschluss zu bringen. Dazu kommt es, wenn der Kunde seine Unterschrift unter einen Antrag auf Ausfertigung einer Ver sicherungspolice setzt.

 

 

3. In der Versicherungswirtschaft lassen sich alle Zusammenhänge letztlich darauf zurückführen, dass das Vertretergespräch so was von schwierig ist. Anders gesagt: Mit der Ursituation wird der Ver sicherungsw irtschaft die Existenzfrage gestellt. Gelingt es ihr nicht, diese Ursituation zu meistern, ist sie am Ende.“

 

Diese Zusammenhänge lassen sich weiter erörtern. Gehen wir sie in Ruhe und der Reihe nach durch, während wir unsere Beine nun doch auf den Konferenztisch legen."

 

 

6.

 

Wenn alle Menschen ein Bedürfnis nach Kommunikation haben und alle potenzielle Versicherungsnehmer sind, wer wollte sich nicht mit einem Versicherungsvertreter unterhalten, wenn dieser das folgende Angebot macht? Ein Versicherungsvertreter möchte sich alles anhören, was immer Sie sagen wollen. Er stimmt allem zu, was Sie sagen werden. Das macht er solange, bis Sie unterschrieben haben. Am Ende unterschreiben Sie alles, um den Jasager loszuwerden. Allerdings können Vertretergespräche scheitern. „Was erzählen Sie mir von Ihren vielen Gesprächen“, dröhnt Filialdirektor Dr. Harald Schnittberger, „wenn es keine unterschriebenen Anträge auf Ausfertigung einer Versicherungspolice gibt?“ Viele Menschen lassen sich als Versicherungsvertreter einstellen. In unserem Konferenzraum herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Die meisten geben nach wenigen Versuchen auf, weil an jeder Ecke eines Vertretergespräches der kommunikative Abbruch lauert und die ausdrückliche Verweigerung droht, auf keinen Fall eine Unterschrift zu leisten. Selbst wenn diese Leute Versicherungsvertreter bleiben möchten, sie schafften es nicht. Den Besseren mag gelingen, ihre Verwandten, Freunde und zu­ letzt sich selbst zu versichern. Dann wirft Filialdirektor Dr. Harald Schnittberger sie mit den Worten hinaus: „Wenn Sie meinen, dass die  Leistungsgesellschaft in der Bundesrepublik nicht existiert, bei uns  steht sie in Blüte. Wir weichen keinen Deut von ihr ab.“

 

 

Was sind die Merkmale eines auf Dauer erfolgreichen Versicherungsvertreters? Dieser muss von einem unstillbaren Hunger nach Provisionen verzehrt werden, um angesichts gigantischer Hürden weiterzumachen und nach Serien von Fehlschlägen und Niederlagen zu dem einen und anderen Abschluss zu kommen. Darüber hinaus hat er nicht zu knapp über kommunikative Talente sowie über Hartnäckigkeit, Schnelligkeit, Bedenkenlosigkeit und Bereitschaft und Fähigkeiten zum brutalen Angriff zu verfügen. Er muss unbedingt daran glauben, dass er die nächste versicherungswirtschaftliche Ursituation besteht. An mehr als ein Vertretergespräch im Voraus darf er nicht denken.

 

 

Vertreter agieren wenig systematisch. Wenn sie im richtigen Augenblick zuschlagen, hat sich unmittelbar dazu ihr Bauchgefühl geregt. Denken Versicherungsvertreter? Das sollten sie lieber nicht tun. Soll ten sie mit sowas beginnen, entwickelten sie womöglich Skrupel. Dann wäre es aus mit dem schönen Geschäft.

 

Die Außendienstmitarbeiter halten für ihre neuen Kollegen Tipps & Tricks bereit, wie diese die Ursituation abschließen sollten. Sie werfen sie freihändig um sich.

 

 

Der freundschaftliche persönliche Austausch zu Beginn eines Vertretergespräches ist wichtiger als alles andere, da der Gesprächs partner die versicherungstechnischen Einzelheiten sowieso nicht versteht.

 

Während der Einführungsrunde hat der Versicherungsvertreter auf jeden individuellen Gesprächswunsch seines Gegenübers einzugehen. Manchmal mag das Gegenüber wenig artikulationsfähig sein. Das kommt bei Aspiranten auf Kleinlebensversicherungen und Haus rat versicherungen häufiger vor. Dann hat der Versicherungsvertreter seinem Kunden die Wünsche, worüber der reden will, von den Augen abzulesen. Erfolgreiche Versicherungsvertreter sprechen gegebenenfalls über Nichts, als wäre es Alles. Sie würden ununterbrochen redend in eine Wohngemeinschaft mit ihrem Gesprächspartner ziehen, spornte sie nicht der Hunger nach Provisionen aus weiteren versicherungswirtschaftlichen Ursituationen an. Sollten Kommunikation und Konversation irgendwo zu einer Kunst veredelt worden sein, hätten sie solches dem Außendienst in der Versicherungs wirtschaft zu verdanken. Ein Vertretergespräch hat mindestens teilweise funktioniert, wenn ein Versicherungsnehmer beschließt, auf künftige Gespräche mit Freunden und Verwandten zu verzichten. Warum sollte er mit denen reden, die ihm fortlaufend Widerworte geben und seine Erörterungen wenig bemerkenswert finden? Da spricht er lieber mit seinem Vertreter. „Ich finde, dass alles, was Sie sagen, sehr bedenkenswert ist“, sagt der Vertreter, sobald er bei seinem Lieblingsversicherungsnehmer eingekehrt ist.

 

 

Irgendwann allerdings hat der Außendienstmitarbeiter einen Übergang vom Thema „Gott & die Welt“ zu den Versicherungsangeboten zu vollziehen. Diesen elegant und erfolgreich zu gestalten, ist gleichfalls eine besondere Kunst. Noch schwieriger gerät das Reden über Versicherungsprodukte. Diese sind im Vergleich zu periodisch ers chei nenden Printmedien oder einem Staubsauger, für die andere Heer scharen aus Vertretern unterwegs sind, äußerst abstrakt. Sollte der Versicherungsfall nicht eintreten, hat der Versicherungsnehmer nichts von seiner Versicherung. Bestenfalls liegt der Versicherungsfall in grauer Zukunft. Sollte der Versicherungsfall eintreten, ärgert sich der Versicherungsnehmer trotzdem, und sei es nur, dass man mit den Jahren alt und grau geworden ist. Und kann man sicher sein, dass die Versicherung wirklich zahlen wird und auch so viel wie sie sollte? Selbst wenn der Gesprächspartner ein Versicherungsprodukt verstanden haben sollte, weil der Vertreter ihm alles erklärte, im nächsten Moment wird er es wieder vergessen. Häufig leuchtet dem Gesprächspartner nicht ein, dass er eine Versicherung benötigt. Wozu braucht er eine Lebensversicherung, wenn man den Versicherungsfall nicht erlebt und mit den auszuzahlenden Summen nichts mehr anstellen kann? „Das habe ich gleichfalls nie verstanden“, sagt der Ver sicherungsvertreter spontan, bevor er seine Kurve bekommt. Er sagt: „Sie wollen doch nicht Ihre engste Verwandtschaft auf den Kosten Ihrer Beerdigung sitzen lassen.“ „Warum eigentlich nicht?“ fragt der Gesprächspartner zurück. „Wenn ich tot bin, dürfte mir das gleichgültig sein. Und übrigens hätte meine Verwandtschaft nichts Besseres verdient.“ Mithin reicht häufig die flüssigste Führung eines Vertretergespräches nicht, um aus einer versicherungswirtschaftlichen Ursituation mit einem unterschriebenen Antrag zu kommen.

 

Unglücklicherweise benötigen die Vertreter aus anderen Branchen die Provisionen genauso dringend wie unsere Leute. Manche von ihnen wechseln gar die Seiten und kommen zu uns. Auch nehmen die Versicherungsunternehmen jeden, der in den Außendienst will. Bald haben wir so viele Versicherungsvertreter, dass man um einen Sitzplatz im Konferenzraum bangen und buhlen muss. Spätestens jetzt kann man sich allenfalls selbst versichern.

 

 

Auch gehen den Versicherungsvertretern ihre Kollegen mit ganz anderen Produkten so was auf den Keks. Unser Außendienst möchte mit den Drückerkolonnen nicht in einem Atem genannt werden. Aber wo immer die Repräsentanten der Versicherungswirtschaft klingeln, um zu einer versicherungswirtschaftlichen Ursituation zu gelangen und ihrem Kunden einen Gefallen zu tun, die Leute von der Zeitschriftenwerbung und der Mann mit dem Staubsauger sind bereits da.

 

 

„Das ist ein merkwürdiger Zufall“, sagt der Mann, der nominell der Hausherr geblieben ist, obgleich er der um ihn herumsitzenden Vertreters char längst nicht mehr Herr wird. „Sie sind heute schon der dritte, der sich für meine Briefmarkensammlung interessiert, obgleich diese sehr speziell geraten ist. Ich muss Sie leider in die Küche führen, da das Wohnzimmer und Schlafzimmer von Ihren Kollegen besetzt gehalten werden. Aber stolpern Sie nicht über die Staubsauger. Obgleich ich sie stapelte, finde ich keinen Platz für den nächsten.“ „Da kann ich nur hoffen, dass Sie Ihre Staubsauger gegen Elektroschrott versichert haben“, sagt der Vertreter. „Sie entschuldigen mich?“ fragt der nominelle Hausherr. „Ich komme später zu Ihnen. Bis dahin sollten Sie sich möglichst ein Risiko ausgedacht haben, dass für mich existiert.“ „Ich könnte jene Staubsauger bei Ihnen versichern, die Sie nicht kaufen“, sagt der Versicherungsvertreter. „Das hätte die Vorteile, dass Sie nicht noch mehr Platz für Staubsauger verschwenden und der Versicherungsfall niemals eintreten kann.“

 

 

Bürger nähmen auf sich gestellt versicherungswirtschaftliche Produkte nicht in Anspruch. Wäre es anders, gingen sie in einen versiche rungsw irtschaftlichen Laden und kauften sie ein. So etwas kommt jedoch nicht vor. Darf man daraus schließen, dass die Bürger versicherungswirtschaftliche Produkte nicht benötigen? Oder wissen sie nicht, was ihnen guttut? Gibt es Produkte, die man den Kunden in ihrem Interesse und im Interesse des Gemeinwohls aufschwatzen muss? Wenn ein Versicherungsvertreter den Kunden über den Tisch zieht, wird sein Vorstandsvorsitzender dafür stellvertretend für alle Außendienst­mitarbeiter vom Bundespräsidenten mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt? Jedenfalls folgere ich, muss es eine gigantische versicherungswirtschaftliche Überversorgung geben.

 

 

7.

 

Ich befinde mich mitten im dritten Ausbildungsjahr und sehe meiner Kaufmannsgehilfenprüfung entgegen. In der Filialdirektion glaubt man, dass ich mir deswegen Sorgen machen muss. Ich werde als leicht behindert eingeschätzt. Meine Noten aus der Berufsschule scheinen dies zu bestätigen, da sie gerade über dem Strich sind. „Hast du gehört, dass der Dieter freiwillig den Postminister spielt?“ fragt einer den anderen. Geier, Geier.

 

Während ich die Korrespondenzen der Filialdirektion um mich herum hochschichte, werden mir weitere Zusammenhänge zur versicherungswirtschaftlichen Ursituation klar. Ich schreibe sie auf einen Zettel, den ich später verbrenne:

 

 

„4. Versicherungsvertreter können nicht wissen, ob sie die nächste ver sicherungswirtschaftliche Ursituation überleben. Von einer existenziellen Not in die nächste getrieben, nehmen sie es mit ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden, aber auch gegenüber ihrer Versicherungsgesellschaft, nicht zu genau.

 

 

5. Die Versicherungswirtschaft kann durch die existenzielle Not ihrer Vertreter gefährdet werden. Muss sie nicht alles daransetzen, die Spiel regen, die für die versicherungswirtschaftliche Ursituation gelten, zu ihren Gunsten zu wenden?“

8.

 

Die Allgemeine Südstern Versicherungs AG treibt ihre Außendienstmitarbeiter unermüdlich in weitere Ursituationen. Der Filialdirektor marschiert an vorderster Front. Immer wieder verlangt er: Es müssen mehr versicherungswirtschaftliche Ursituationen eingegangen werden. Sie sollten alle bestanden sein. Für Dr. Harald Schnittberger zählt nur der Erfolg in der Ursituation, also die vollzogene Unterschrift des künftigen Versicherungsnehmers. Sonst nichts.

 

 

Die Versicherungsvertreter werden ausschließlich nach ihren Ab schlüssen bezahlt. Einige Versicherungsvertreter bemühen sich, den auf ihnen lastenden Druck zu lindern und mit ihrem Filialdirektor ein zusätzliches Fixum auszuhandeln. Solange sie zu vielen Abschlüssen kommen, schaffen sie das. Aber sobald die Erfolge ausbleiben, wackelt das Fixum. Jeden Montag wird eine Erfolgskontrolle durchgeführt. Der Filialdirektor empfängt seine Außendienstmitarbeiter zu Einzelgesprächen. Wenn er spricht, schaut er auf eine Liste. Darin sind alle Versicherungsverträge verzeichnet, die der Versicherungsvertreter in der vergangenen Woche geschlossen hat.  Dr. Harald Schnittberger ist niemals zufrieden. Sein häufigster Kom mentar zum Einstieg in ein Einzelgespräch lautet: „Das war ja wohl nichts.“ Sollte Dr. Harald Schnittberger unzufrieden sein, schwingt er die Keule. Fast ist er soweit, dass er den nächsten Außend ienstmitarbeiter entlässt.

 

 

Dem Versicherungsvertreter ist be wusst, dass die Filialdirektion er barmungslos unverdiente Pro vi sionsvorschüsse bei ihm eintreiben wird, sobald er gefeuert ist. Das heißt, dass er so gut wie bankrott ist, sofern er in dieser Woche nicht die Kurve bei den abzuschließenden Versicherungsverträgen kriegt. Andererseits muss er das Gespräch mit Dr. Schnittberger nur überstehen. Anschließend gerät er in eine heilere Welt. Kaum kommt der Außendienstmitarbeiter ohne abgeschnittenen Kopf und gebrochenen Beinen aus seinem Gespräch mit dem Filialdirektor, da geht er zur Kasse und lässt sich weitere Vorschüs se auf Provisionen auszahlen.

 

 

Letztlich wollen alle nur helfen. Solange die Ergebnisse stimmen, kann alles, was zu Erfolgen geführt hat, nur recht wenn nicht Recht gewesen sein. Wenn ein Außendienstmitarbeiter etwas falsch ge­ macht hat, was sich nicht beschwichtigen lässt, reagiert das gesam te  Versicherungsunternehmen wie die drei Affen. Die Frage, ob ein Außendienstmitarbeiter gegenüber dem Versicherungsnehmer etwas falsch machen kann, darf niemals gestellt werden. Die Haupt ver waltung schickt ihren Filialdirektionen Argumentations samm lungen zu, die diese an den Außendienst weiterleiten mögen. Da können die nächsten versicherungswirtschaftlichen Ursituationen nur fluppen, sofern der Vertreter befolgt, was sich der Praktikant im Kölner Marketing ausgedacht hat. Die sich abzeichnende Versicherungssumm e muss lediglich groß sein. Dann schwingt sich Dr. Harald Schnittberger in seinen Porsche und fährt gemeinsam mit dem Außen dienstrepräsentanten zum nächsten Gespräch.

 

 

Schnittberger hat mit seinen Außendienstlern vereinbart, dass diese ihn jederzeit anrufen dürfen, wenn es in einer versicherungswirtschaftlichen Ursituation haariger wird. Mehrere seiner Leute nutzen regelmäßig diese Chance. Wenn der Anruf in die Filialdirektion eingeht, nimmt die Sekretärin das Gespräch entgegen. Sobald sie merkt, dass der Anrufer aus dem Außendienst kommt, legt sie den Hörer beiseite, während der Versicherungsvertreter in Gegenwart seines Kunden weiterspricht. Am Ende legt der Ver sicherungs vertreter den Hörer auf die Gabel, um strahlend zu verkünden: „Haben Sie mitbekommen, wie hart ich mit meiner Verwaltung gerungen habe? So was von Rabatten, die ich Ihnen jetzt einräumen darf, sahen Sie nie.“

 

 

Auch die Versicherungswirtschaft als Branche stellt konzeptionelle Hilfen bereit. Die Allgemeine Südstern Versicherungs AG hat im Ver bund mit anderen Versicherungsgesellschaften die Versicherungsknechtschaft ersonnen. Mittlerweile wird dieses Konzept als die letzte versicherungswirtschaftliche Wahrheit an der Versicherungsakademie gelehrt. Auf diese Idee muss man letztlich kommen, weil die Bürger in einer Ursituation dazu tendieren, den Vertreter über ihre Zahlungsbereitschaft und ­fähigkeit sowie über die Höhe ihrer tatsächlichen Risiken im Unklaren zu lassen wenn nicht falsch zu informieren. Ist das nicht gut, sagen sie sich, dass die Prämien sinken, sobald man die eigenen Risiken unterschätzt? Auf die Dauer wird ein Versicherungsvertreter nur sein Auskommen finden, wenn er seine Versicherungsnehmer in die Versicherungs knechtschaft führt.

 

 

Den Begriff der Versicherungsknechtschaft finde ich in meinem Berufsschullehrbuch erklärt. Dort heißt es: „Unter Versicherungsknechtschaft werden kontinuierliche Zahlungsverpflichtungen des Versicherungsnehmers ausschließlich an die Versicherungsgesellschaft verstanden, die diesen in den Stand der Zahlungsfähigkeit belassen, ihn jedoch an den Rand derselbigen bringt.“ Knapp darunter stoße ich in meinem Buch auf moralische Erwägungen. Das ist einmalig und stellt im Grund satz einen Verstoß gegen den versicherungswirtschaftlichen Korpsg eist dar. Aber was macht man nicht alles, wenn man die eigene Branche von Drückerkolonnen abgrenzen will! Also lese ich: „Unsere Kunden können gegen die kontinuierlichen

 

 

Attacken aller Vertreter sowieso nicht bestehen und werden auf die Dauer in eine Zahlungsknechtschaft geführt. Da ist es besser für sie und für uns, es handele sich um eine Versicherungsknechtschaft. … Dabei unterscheiden wir uns von weniger seriösen Branchen, dass uns die längerfristige Zahlungsfähigkeit unserer Kunden nicht gleichgültig ist.“

 

 

Erfahrene Vertriebler empfehlen, Versicherungsnehmer in kleinen Schritten an die Versicherungsknechtschaft heranzuführen. Der Versicherungsnehmer lasse sich nur allmählich an den Ge danken gewöhnen, dass er große Teile seiner Einkünfte an die Versicherungsgesellschaft abzuführen hat. Grundsätzlich gilt, dass dem Versicherungs nehmer der Abschluss zusätzlicher Versicherungsv erträge subjektiv leichter, aber objektiv schwerer fällt, je mehr er die Bedin  gungen einer Versicherungsknechtschaft erfüllt.

 

 

Leider tendieren sogar gestandene Versicherungsvertreter dazu, einen Fehler zu machen und ihn zu wiederholen. Kaum hat der Gesprächspartner seine Unterschrift unter den Antrag auf Aus fer ­ ti gung einer Versicherungspolice gesetzt, wird der Außen dienstmit­ ar beiter unverschämt. Andererseits muss man verstehen. Das Ge­ spräch in der Ursituation zieht sich lange hin. Mehrere Male steht der Gesprächspartner davor, den Antrag zu unterschreiben. Aber im letzten Moment zuckt er zurück. Am Ende liegen die Nerven des Versicherungsvertreters blank. Gleichwohl darf er sich nach wie vor keine Blöße geben. Sonst käme der Abschluss nicht zustande. Aber kaum hat der Gesprächspartner einen Antrag unterschrieben, kann nichts mehr schiefgehen. Da sprudelt es dem Versicherungsvertreter spontan aus dem Mund: „Was haben Sie für einen Scheiß erzählt! Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Verstand auf ein Kleinhirn geschrumpft ist, sollten Sie je eines gehabt haben?“

 

 

Nach dem Konzept der Versicherungsknechtschaft war das ein Fehler. Das ist schlimmer, als wenn im Zeitmanagement des Innendienstes nach dem Motto „Nach der Arbeit die Sintflut“ verfahren wird. Wie soll der Versicherungsnehmer Schritt für Schritt in die Versicherungsknechtschaft geführt werden, wenn dieser vom Vertreter gekränkt worden ist und ihn nicht noch einmal empfangen will?

 

 

Hier empfiehlt mein Berufsschullehrbuch ein anderes Vorgehen als die üblichen Unverschämtheiten der Außendienstmitarbeiter zum bösen Schluss. Der Versicherungsvertreter möge dem Versicherungsnehmer nachweisen, dass es ihm von Police zu Police besser ergehe, obgleich er sich in finanzieller Hinsicht schlechter fühlen mag. „Das ist alles nur subjektiv“, versichert der Versicherungsvertreter dem Kunden. „Sie sind so lieb zu mir“, sollte der Versicherungsnehmer an dieser Stelle sagen, sobald er die versicherungswirtschaftliche Wahrheit für Versicherungsnehmer voll verinnerlicht hat.

 

 

2007 finde ich im Internet jene Dokumente, mit denen ich nachweisen kann, wie die Versicherungswirtschaft die Ursituation zu ihren Gunsten veränderte. Ich habe lange nach diesen Texten gesucht. Noch einmal schaue ich mir meine Quellen an. Kann das sein, dass sich die Versicherungswirtschaft derart entblößt und alles zugibt, was ich ihr vorwerfe? Ach nein, das sind ja meine Satiren. Das macht nichts. Ich weiß auch so, dass es nicht anders gewesen sein kann. Vor vielen Jahren hieß der große Mann im deutschen Versicherungswesen Ali Janz. Er redet seinen Kollegen zu, keinen Widerstand gegen ein mögliches Aufsichtsamt für die Versicherungswirtschaft zu leisten. Vielmehr müsse man sich an die Spitze der aktuellen Protestbewegung setzen. „Wie das?“ fragt Stephen H. Gehring, der in dieser Zeit der zweite große Mann in der deutschen Versicherungswirtschaft ist und in der Kölner Karnevalsszene beinahe der erste.

 

 

„Ich bin auch dafür, dass in der Versicherungswirtschaft Kontrollen stattfinden“, sagt Ali Janz. „Allerdings müssen wir es sein, die das Auf sichtsamt kontrollieren. Für die Öffentlichkeit lassen wir den Ein druck entstehen, dass das Versicherungsamt uns überwacht. Wir beschränken es jedoch auf formale Kontrollen und schließen ma terielle aus.“ „Ich verstehe immer noch nicht“, sagt Stephen H. Gehring. „Das Versicherungsamt prüft, ob unsere Allgemeinen Ge­ schäftsbedingungen mit dem geltendem Recht vereinbar sind“, sagt Ali Janz. „Warum sollten sie nicht, da wir unsere Justitiare gefragt haben? Aber das Versicherungsaufsichtsamt darf sich nie fragen, was bei einem Versicherungsprodukt für den Versicherungsnehmer herauskommt. Diese Möglichkeit weisen wir als unzulässige Einmischung in das Marktgeschehen und in die inneren Angelegenheiten der Versicherungskonzerne zurück.“ „Dazu verbieten wir den Beamten jeden persönlichen Kontakt mit Versicherungsnehmern“, sagt Stephen H. Gehring. „So verhindern wir, dass sie Mitleid mit den Würstchen bekommen.“

 

 

Einige Jahrzehnte später gibt das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen (BafVw) aus jubilierendem Anlass eine Festschrift heraus. Stolz merkt es an, dass es hundert Jahre lang keinen Kontakt zu einem Versicherungsnehmer aufgenommen habe. „Daher war die Objektivität unserer Überlegungen stets gewährleistet und sichergestellt“, heißt es. Der gleichnamige Urenkel von Ali Janz ist der gegenwärtige Präsident des Verbandes der Versicherungsunternehmen (VVU). In seinem Beitrag zur Festschrift hebt er hervor, dass die Versicherungswirtschaft viele Beiträge geleistet habe, um die Kompetenz und Professionalität des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen sicherzustellen. Als Beispiele nennt er die personelle Mobilität zwischen Bundesaufsichtsamt und Versicherungswirtschaft und die gelegentlichen gemeinsamen Urlaube mit dem Präsidenten des Bundesaufsichtsamtes auf den Kanarischen, neuerdings den Karibischen Inseln. Dabei kommen die Urlaube neuerdings fast ohne Briefings für den Präsidenten und inhaltliche Instruktionen aus. In den Versicherungsunternehmen wird kolportiert, dass sich Beamte des Berliner Versicherungsaufsichtsamtes kaum noch auf die Straße noch in öffentliche Verkehrsmitteln trauen, weil sie dort Versicherungsnehmern begegnen könnten. Wenn sie sich auf eine Fahrt mit der U2 zum Olympiastadion begeben haben, verweigern sie das Gespräch mit anderen Fahrgästen, sobald sich herausgestellt hat, dass diese versichert sind. Besonders eifrige Beamte antworten auf die Frage, ob die nächste Haltestelle der Ernst-­Reuter-­Platz sei, mit der Gegenfrage: „Sind Sie versichert?“ „Ich muss mit dem Präsidenten ein paar Worte wechseln“, sagt Stephen H. Gehring, als er das hört. „So rigide wollte ich meine Anweisungen an das Bundesaufsichtsamt nicht verstanden wissen.“

 

 

Ali Janz liefert sein Meisterstück ab, als er auf indirekten Wegen den §38a in das Versicherungskontraktgesetz schmuggelt. Das VKG wandert durch die Mühlen der Gesetzgebung, da bringt das Ver si cherungsa ufsichtsamt den Vorschlag an den Gesetzgeber ein, den §38a in das Versicherungskontraktgesetz einzufügen. Wozu hat man das Versicherungsaufsichtsamt gegründet, wenn man sich nicht seiner Dienste bedient? Der §38a besagt, den Versicherungsnehmern seien für den Fall, dass sie ihren Lebensversicherungsvertrag kündigen, 95% der angesparten Deckungsbeträge zurückzuzahlen.

 

Die Beamten des Versicherungsaufsichtsamtes und die Lobbyisten der Versicherungswirtschaft wissen, was ein Deckungsbetrag ist.

 

 

Das kann nicht anders sein, da sie ihn erfunden haben. Hingegen weiß ein Versicherungsnehmer mit einem Deckungsbetrag nichts an zufangen. Allerdings ist wichtig, dass dieser Begriff in ihren Ohren einen guten Klang hat. Auf den Vorstandsetagen der Ver sicherungswirt schaft knallen die Korken der Champagnerflaschen, als das Versicherungskontraktgesetz unter Einschluss des §38a verabschiedet worden ist. Ali Janz sagt: „Damit führen wir den staatsmono polistischen Kapitalismus seiner Vollendung entgegen.“

 

Ich schaue auf die Dokumente im Internet und denke: Ali Janz, selbst wenn es dich als Person nie gegeben haben sollte, damit habe ich dich.

 

 

9.

 

Der mittlere Nachmittag ist angebrochen. Es wird Zeit für mich, das Postministerium zu besetzen. Ich verlasse die Außendienstmitarbeiter, die mir einiges zu erzählen hatten, und gehe bei Heinrich Ludwig vorbei. Der Bürovorsteher hat viele Briefe an Versicherungsnehmer unterschrieben. Das ist so wie an den anderen Tagen. Ich nehme die Briefe an mich, während Heinrich Ludwig nicht wirklich wahrnimmt, dass ich bei ihm bin. Sollte ich immer noch unsichtbar sein, weil ich im Konferenzraum Erdnüsse gegessen habe? Ich trage die Briefe ins Ministerium. Während ich die Briefe frankiere, kommen mir weitere Ergebnisse zur versicherungswirtschaftlichen Ursituation in den Sinn. Diesmal beziehe ich mich auf die längerfristigen Folgen des Ver tretergespräches:

 

 

„6. Alle Versicherungsnehmer kündigen früher oder später. Das geschieht, bevor der Versicherungsfall eintritt. Sie verlangen ihre Beiträge zurück.

 

 

7. Alle Ersuche der Versicherungsnehmer werden abgelehnt.“

 

Ich gebe die Ablehnungsbescheide in die Post. Derweil unterteile ich die Briefe der Filialdirektion an die Versicherungsnehmer in drei Grup pen. In der ersten werden die Versicherungsnehmer gebeutelt, weil sie entgegen den geltenden versicherungsvertraglichen Bestim mungen versuchen, vor Ablauf des ersten Versicherungsjahres auszusteigen. „Können Sie mir sagen, wie wir die Provisionen für unseren Außendienst bezahlen sollen, sollten wir Ihnen solches durchgehen lassen?“ schreibt Heinrich Ludwig.

 

 

In der zweiten Gruppe wird die Kündigung des Versicherungsnehmers zugelassen. Dies geschieht um den Preis, dass alle über die Jahre gezahlten Beiträge für den Versicherungsnehmer verfallen. „Sie irren, nähmen Sie an, wir müssten Ihre Beiträge zurückerstatten“, schreibt Heinrich Ludwig. „Richtig ist vielmehr, dass wir Ihnen 95% der angesparten Deckungsbeträge schuldig sind. Da bislang kein Deckungsbetrag angesammelt worden ist, schulden wir Ihnen nichts, da 95 Mal Null gleich Null ist.“

 

 

In der dritten Gruppe wird die Kündigung des Versicherungsnehmers nicht nur zugelassen. Vielmehr wird die Auszahlung der angesammelt en Deckungsbeträge einschließlich der Beteiligungen an den Gewinnen der Versicherungsgesellschaft avisiert. „Sie befinden sich im Irrtum, wenn Sie meinen, wir müssten Ihre eingezahlten Beiträge in Höhe von 39.785,25 Deutschmark zurückerstatten“, schreibt Heinrich Ludwig. „Vielmehr schulden wir Ihnen 95% des angesammelten Deckungsbetrages. Dieser beträgt 6,85 Deutsche Mark ohne und 7,03 Deutsche Mark mit Gewinnbeteiligung. Wir überweisen Ihnen 95% des zuletzt genannten Betrages in Kürze. Im Auftrag, Heinrich Ludwig.“

 

 

Auf diese Standardbriefe reagieren die Versicherungsnehmer ebenfalls in drei Varianten. Entweder sie antworten auf den Ablehnungsbe scheid nicht. Dann wissen sie, dass ihre Korrespondenz mit der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG an ihr Ende gekommen ist. Der Versuch eines Nachklapps führte lediglich zu einer Verschwendung der Kräfte der Versicherungsnehmer, die mittlerweile von ihrer Gesellschaft genügend geknechtet sind.

 

 

Oder Heinrich Ludwig hat die Versicherungsnehmer mit seinem Ablehnungsbescheid eingeschüchtert. Sie möchten nur mehr in Ruhe gelassen werden. Lediglich wenn ein Versicherungsvertreter an ihrer Tür klingelt, rufen sie nach ihrem Hund. Der zweiten Variante sind besonders viele Briefe zuzuordnen. Alle Versicherungsnehmer, die einen völligen oder teilweisen Ablehnungsbescheid Heinrich Ludwigs herausgefordert haben, sind sich in mehreren Punkten einig: Der Versicherungsvertreter hat ihnen gesagt, dass 95% der eingezahlten Beiträge zurückgezahlt werden. Er hat die Begriffe des Versicherungsbeitrages und des Deckungsbetrages absichtlich und systematisch verwechselt. Häufig werden diese Einlassungen in eine mehr oder minder epische Beschreibung des Ablaufes des seinerzeitigen Vertretergespräches eingebettet. Manch ein Versicherungsvertreter hat seinen Gesprächspartner das Kleingedruckte in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen gezeigt und gesagt: „Da sehen Sie, wie unsere Bedingungen lauten.“

 

Es gibt Versicherungsnehmer, die der Einladung des Ver si cherungsvertreters aus Höflichkeit Folge leisten. Sie schauen ins Kleingedruckte. „Sie haben recht, ich bekomme wirklich 95% meiner Beiträge zurück“, sagen sie frohlockend. „Na hören Sie mal, was Sie mir da anbieten, ist ja ein Schnäppchen.“ „Nicht wahr?“ entgegnet der Versicherungsvertreter. Jetzt, da sie ihre eingezahlten Beiträge nicht zurückbekommen, bekunden die Versicherungsnehmer in Erinnerung an ihr seinerzeitiges Vertretergespräch Reue. Sie schreiben: „Man sieht immer nur das, was man gezeigt bekommt.“ Oder sie schreiben: „Man hört immer nur das, was einem gesagt wird.“ Auf Briefe wie diese antwortet der Bürovorsteher nicht. Oder er zeigt sich ausnahmsweise kulant und antwortet doch. Dann schreibt er, dass mündliche Nebenabreden nicht gültig seien.

 

 

Abgesehen von Antworten wie diese kümmert Heinrich Ludwig das Schicksal der Versicherungsnehmer nicht. Noch ist es so, dass die Abteilungsleiter und die weiteren Mitarbeiter des Innendienstes von diesen Briefen nicht wüssten. Das reicht nicht für sie, den Mund aufzumachen, da sie sich, sagen wir mal, in der „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ befinden und für das Schicksal von Versicherungsnehmern nicht zuständig sind. Ich frage Axel Freising nach seinen Erfahrungen als Postminister derBraunlager Versicherungs AG. Mit Axel habe ich mich in die hinterste Reihe meiner Berufsschulklasse gesetzt. Dort werden wir in unseren Gesprächen nicht von unserem Klassenlehrer gestört. Axel Freising ist ein Verehrer von Laurence Olivier und dessen ShakespeareVerfilmungen. Er ist bereit, mir jede Szene des Films zu erzählen, den er vor kurzem gesehen hat. Ausnahmsweise schlage ich ein anderes Thema an. „Spielt in euren Briefen an die Versicherungsnehmer der § 38a VKG eine Rolle?“ erkundige ich mich. Axel Freising beginnt zu lachen. „Eine ausschließliche, würde ich sagen“, sagt er. „Wir bringen allen Versicherungsnehmern bei, dass sie ihre Beiträge nicht zurückbekommen, obgleich unsere Vertreter ihnen anderes versprochen haben.“ „Wird darüber in eurem Versicherungsinnendienst gesprochen?“ frage ich. Axel lacht lauter. „Das ginge nicht“, sagt er. „Nachher käme einer darauf, dass unsere Praktiken nicht koscher sein könnten.“ „Richard III. und Heinrich IV. mögen mit ihren Schwertern über sie kommen“, sage ich. „Und die Sippen von Romeo und Julia auch“, sagt Axel Freising.

 

 

In der dritten Variante schreiben die Versicherungsnehmer: „Um Himmels willen, wir haben fest mit der Rückzahlung unserer Beiträge gerechnet und sie in unseren Bestellungen bei Neckermann eingeplant. Wenn sie uns nicht zurückgezahlt werden, ergeht es uns schlecht. Wir möchten bitte, bitte unsere Beiträge zurück.“ Wenn das erste Versicherungsjahr nicht beendet ist und die Versicherungsnehmer weiterzahlen müssen, reagieren sie mit Heulen und Zähneklappern. Ein Versicherungsnehmer schreibt: „Mit uns spricht keiner, seit Sie uns den Gerichtsvollzieher ins Haus geschickt haben. Wir wagen uns nicht aus unserer Wohnung hinaus.“

 

Ihnen antwortet Heinrich Ludwig mit der Variante 3a seines Standardbriefes: „Alles, was Sie uns in Ihrem Brief vom 28. März mitgeteilt haben, ist aus versicherungswirtschaftlicher Sicht bedeutungslos. Zur Erinnerung fügen wir eine Kopie unseres Briefes vom 15. September bei. Wir setzen Ihnen nunmehr eine letzte Frist von acht Tagen. Sollte Ihre Zahlung bis dahin nicht auf unserem Konto eingegangen sein, sehen wir uns gezwungen, mit rechtlichen Schritten gegen Sie vorzugehen. Hochachtungsvoll, im Auftrage, Heinrich Ludwig.“

 

 

Wenn die Filialdirektion alle Forderungen eingetrieben hat und die Versicherungsnehmer mit dem Zähneklappern nicht aufhören mögen, werden ihre Briefe unmittelbar nach Eingang in ihre Akte gelegt. Die Filialdirektion wird den Briefen dieser Versicherungsnehmer nicht antworten. Es sei denn, sie gingen einen neuen Versicherungsvertrag ein. Gelegentlich gehe ich in den Aktenkeller und schaue mir einige Korrespondenzen an. Ich allein höre das Schreien gefolterter Vers icherungsnehmer.

 

 

10.

 

Die Versicherungsnehmer mögen verschieden sein. Aber die Situa­tionen, in die sie sich begeben haben und aus denen sie gegen den Willen ihrer Versicherungsgesellschaft nicht mehr herauskommen, unterscheiden sich kaum. Deshalb verfolgt Heinrich Ludwig die Versicherungsnehmer mit Standardbriefen. Man könnte sie selbst schreiben, wenn man wenige Wochen Postminister der Filial direktion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG für das östliche Ruhrgebiet gewesen ist. Oder man überantwortete sie einem Schreibautomaten. Hingegen läuft der Bürovorsteher in seinen Schrift sätzen zu unzähligen Varianten und Differenzierungen auf, wenn er sich an die Verfolgung der ehemaligen Mitarbeiter des Außendienstes macht. Hier wäre ein einfacher Schreibautomat überfordert. Um Hein rich Ludwig in diesem Korrespondenzbereich ersetzen zu können, bedürfte es hoch entwickelter Entscheidungsprogramme. Eine Vervielfachung versicherungswirtschaftlicher Textformate wäre nö­tig, weil sich die Außendienstmitarbeiter immer neue Wege einfallen las sen, um den Nachstellungen unseres Bürovorstehers zu entkommen.

 

 

Derweil lebt der Bürochef in seinen Verfolgungen den geballten Ingrimm des Innendienstes über den Versicherungsaußendienst mit immer wieder anders gesetzten Schlägen aus. Dieser hat sich in Jahr zehnten der Demütigung durch den Außendienst angesammelt. Andererseits verliert Heinrich Ludwig gegen Außendienstler immer. Allenfalls kommt er zu dem einen und anderen vorübergehenden Erfolg. Am Ende steht gleichwohl die Niederlage.

 

 

Nicht, dass es zwischen Mitgliedern des Innen­ und Außendienstes nicht gelegentlich zu Annäherungen käme. So gibt Gisela Schneider allen Versicherungsinnendienstlern einen Korb und lässt sich von einem Außendienstmitarbeiter zu Autotouren verführen. Als wir sie zur Rede stellen, antwortet sie: „Ich nähme es keinem von euch übel, wenn er den großzügigen Lebensstil der Außendienstrepräsentanten nicht übernehmen will. Dann ist er eben anders als mein Karl. Aber dass ihr euch ein Leben lang kein anspruchsvolleres Einkaufen leisten könnt und bei einem Spaziergang mit euch durch die Innenstadt nicht mal ein Paar Schuhe für mich drin wäre, gibt mir zu denken.“

 

 

Norbert Fabricius wird von Neid gepackt, wenn er eine Rolex am Arm eines neuen Außendienstmitarbeiters sieht, die sich dieser unmittelbar nach der Auszahlung seines ersten Provisionsvorschusses zugelegt hat. Kaum, dass Fabricius die Kaufmannsgehilfenprüfung bestanden hat, meldet er sich zu einem Gespräch bei Dr. Harald Schnittberger an. „Es ist selten, dass es einen Innendienstler in den Außendienst treibt“, sagt der Filialdirektor. „Andererseits geben wir jedem seine Chance.“ Allerdings dauert es nur zwei Wochen, bis Fabricius zu einem Einzelgespräch bei seinem Filialdirektor einbestellt wird. „Sie sind ausgebrannt, bevor Sie angefangen haben, den Vertreter zu spielen?“ fragt Dr. Harald Schnittberger. „Sie haben ja noch nicht mal Ihre Mutter versichert.“ „Aber ich hänge an meinem Mütterchen“, sagt Fabricius. „Ich will ihr nichts Böses.“ „Wissen Sie was“, sagt Dr. Harald Schnittberger, der ein erstes Mal in seinem Leben von Mitleid gepackt wird, „ich tue Sie in den Innendienst zurück. Dort mögen Sie fortan Versicherungsakten abstauben.“

 

 

Fabricius wird nach seiner Rückkehr in den Versicherungsinnendienst mit geschlossenen Armen in Empfang genommen. Wir sehen ihn als Ex-­Renegaten. Nach internen Beratungen tut ihn Heinrich Ludwig in die „Abteilung für die Vorbereitung von Versicherungspolicen“. Der Abteilungsleiter Baranowski richtet einzig für ihn eine neue Schreibtischreihe noch hinter den Schreibtischen der Lehrlinge ein. „Der kann lange warten, bis ich dem eine Arbeit gebe“, sagt er. In den folgenden Jahren sucht sich Norbert Fabricius beim Versicherungsinnendienst einzuschleimen, indem er radikale Posi tio nen gegen den Außendienst entwirft. Er versucht, sie uns auf der Herrentoilette zu vermitteln. Ich fasse seine Behauptungen zus ammen: Der Versicherungsinnendienst ist dem Versi che rungsaußen ­ dienst grundsätzlich überlegen. Während der Versicherungsaußendienst in demonstrativem Konsum verkommt, dürfen die Versicherungsinnendienstler ein Leben in rechtschaffener Armut führen. Sie konzentrieren sich auf die wahren und wirklichen und das sind vor allem die inneren Werte. Ich lege im Konferenzraum die Füße auf den Konferenztisch und beobachte die Außendienstmitarbeiter. Dabei wird mir wieder einiges klar. Ich lege einen neuen Zettel an:

 

„8. Solange die Vertreter versicherungswirtschaftliche Ursituationen meistern und viele Abschlüsse in die Filialdirektion bringen, schwellen ihre Provisionsvorschüsse an. Das heißt, sie können sich einen demonstrativen Konsum leisten.

 

 

9.   Die Versicherungsvertreter werden in versicherungswirtschaftlichen Ursituationen an den Rand ihrer Kapazitäten und darüber hinaus geführt. Das schaffen sie nur, wenn sie glauben und wissen, dass es im Leben um eines geht – Provisionen zu scheffeln und zu verballern.

 

 

10.  Der Versicherungsvertreter kann vor dem Versicherungsnehmer nur bestehen, wenn er was darstellt, beispielsweise einen teuren Schlitten fährt. Bei seinen Kollegen findet er allenfalls Akzeptanz, wenn er sein Outfit und die materiellen Gegenstände in seinem Besitz derart gestaltet, dass er für einen professionellen Vertreter durchgeht.

 

 

11.  Im Grunde weiß jeder Versicherungsvertreter, dass er in Kürze den Nachstellungen des Bürovorstehers Heinrich Ludwigs ausgesetzt wird. Dann kann er sich keinen demonstrativen Konsum mehr leisten. Also warum nicht dem Genuss des Augenblicks frönen und den flüchtigen Moment mit immer besseren Produkten vollkommener machen und koste es die Welt?!“

 

 

Der demonstrative Konsum der Vertreter eröffnet mir Chancen, als sie mich doch im Konferenzraum entdecken. Das scheint einfach zu sein, mich sehen zu können, wenn ich für etwas verwendungsfähig bin. „Hallo, hallo“, rufen die Außendienstmitarbeiter und zwinkern mir zu. „Hallo, hallo“, gebe ich zurück. „Das schaffen Sie gut, den Versicherungsnehmern den §38 a des Versicherungskontraktgesetzes überzuziehen.“

 

 

Die Außendienstmitarbeiter haben beschlossen, ein weiteres Gelage im Konferenzraum zu feiern, weil die Provisionsvorschüsse am heutigen Montag noch besser als die aus den vergangenen Wochen ausgefallen sind. Zu einem Gelage gehört, dass man die exquisitesten Speisen und Getränke beschafft und dekorativ ausstellt. Was gut ist, muss teuer sein, und was teuer ist, ist gut. Anschließend werden Mitarbeiter des Versicherungsinnendienstes unter Vorspiegelung etlicher Vorwände in den Konferenzraum gelockt und den Auslagen entlanggeführt. Zur späteren Stunde darf man nach Herzenslust essen und trinken, auch wenn solches nicht unbedingt erforderlich ist. Die Außendienstmitarbeiter verraten mir, dass mir eine große Ehre zuteil werde. Ich möge am heutigen Tage ihr Einkäufer sein. Zum demonstrativen Konsum gehört, hoffe ich, dass die Außendienstmitarbeiter mit Trinkgeldern um sich werfen. Für diese Aussicht verlasse ich gern die Filialdirektion. Während ich durch die Stadt schlendere und in diesem Feinkostgeschäft und in jener Weinhandlung einkehre, nehme ich Appetitmacher aus Einkaufstüten zu mir. Na ja, geht so. Aber das Trinkgeld, das ich nach meinem Einkauf bekomme, übertrifft meine Erwartungen. Allerdings wage ich nicht, an dem Gelage teilzunehmen. Meine Innendienstler sind an diesem Tage so stinkig, dass ich befürchte, sie könnten mich im Konferenzraum entdecken und nähmen mich als leicht zu bestrafenden Sündenbock vor.

 

Am Morgen nach dem Gelage ärgern sich die Mitarbeiter des Innendienstes noch mehr als am Vortage. Die Putzfrauen weigern sich, die vom Außendienst hinterlassenen Schweinereien zu entsorgen. Heinrich Ludwig stellt eine Arbeitsgruppe zusammen, die nicht nur aus Lehrlingen besteht. Soviel ist zu tun, um die Ordnung im Konferenzraum wiederherzustellen. Allerdings bricht bereits der Nachmittag an, als sich die Arbeitsgruppe konstituiert hat und arbeitsfähig geworden ist. „Nein, tut mir leid“, sage ich, als man mich rekrutieren will. „Ich muss spätestens jetzt ins Postministerium, um die Kunden abzuwimmeln und den Außendienst zu verfolgen.“

 

„Ich würde für Außendienstmitarbeiter nicht einkaufen, selbst wenn ich ein Lehrling wäre“, sagt Magda Borowski wenige Tage später. „Man muss auf das eigene Standing achten. Das sehen Sie genauso wie ich, nicht wahr, Herr Bredemeier?“ „Das sehe ich wie Sie, Frau Borowski, solange Ihre Trinkgelder höher ausfallen als jene des Außendienstes und ich mir von dem Geld aus Ihrer Schatulle mehrere Taschenbücher kaufen kann“, antworte ich.

 

 

Die Summen, die die Filialdirektion ihren Außendienstmitarbeitern montäglich zahlt, stellen Vorschüsse dar. Das wird von den Außen­ dienstmitarbeitern verdrängt, um sich für die anstehenden Herausforderungen in versicherungswirtschaftlichen Ursituationen nicht zu demotivieren. Die Außendienstmitarbeiter haben ihre Provision für einen abgeschlossenen Versicherungsvertrag verdient, wenn der Versicherungs nehmer ein Jahr lang seinen Zahlungsverpflichtungen nachgekommen ist. Die Provision beträgt 93,5% der Jahresprämie. Sobald ein Außendienstmitarbeiter der Filialdirektion einen formal korrekten Antrag auf Ausstellung einer Versicherungspolice beigebracht hat, wird ihm die Hälfte seiner Gesamtprovision vorgestreckt. Das sind 46,75% der Jahresprämie eines Versicherungsvertrages.

 

 

Unter dem ständigen Druck der Filialdirektion sehen sich dieAußendienstmitarbeiter gezwungen, die Zahlungswilligkeit und ­fähigkeit eines Antragstellers positiver zu bewerten als sie sind. Viele der Anträge, die der Außendienstmitarbeiter beibringt, gehen bald in den Storno. Demnach zahlen die Versicherungsnehmer ihre erste Jahresprämie nur teilweise, sollten sie überhaupt etwas zahlen. Das Konto des Außendienstmitarbeiters wird entsprechend belastet. Jede Bewegung auf dem Konto eines Außendienstmitarbeiters wird von der Buchhaltung erfasst und in einem Kontoauszug dargestellt. Diesen schickt das Postministerium dem Vertreter zu.

 

 

Ich reife zum bestinformierten Mitarbeiter der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG in Vertreterfragen heran.Während Dr. Harald Schnittberger in seinen Einzelgesprächen mit Außendienstmitarbeitern dröhnt, ohne große Ahnung zu haben, sehe ich, wie sich das Unheil über dem Kopf dieses und jenes Außendienstmitarbeiters zusammenbraut. Während die Schulden des Außendienstmitarbeiters ins Astronomische steigen, überlegt die Leiterin der Buchhaltung, ob dem Außendienstmitarbeiter die gelbe oder gar die rote Karte gezeigt werden muss. Solches kann und will sie nicht entscheiden. Also geht sie zu ihrem Bürovorsteher, um die Frage nach einer möglichen Verwarnung für den Außendienstler an ihn weiterzugeben. Heinrich Ludwig geht zum Filialdirektor und stellt ihm die gleiche Frage. Dr. Harald Schnittberger macht sich für das nächste Einzelgespräch mit diesem Außendienstmitarbeiter eine Notiz.

 

 

Der Außendienstmitarbeiter ist gut informiert, was die Filialdirektion gegen ihn unternehmen wird. Er beginnt sich zu ängstigen. Deshalb beginnt er in diversen versicherungswirtschaftlichen Ursituationen zu schwächeln, ja, um Fassung zu ringen. Er weiß, dass er dem auf ihm lastenden Druck nicht mehr lange standhalten wird. Nachdem er mehrere Male in versicherungswirtschaftlichen Ursituationen gescheitert ist, glaubt er, diese scheuen zu müssen. Jetzt sucht er jeden Morgen die Friedhöfe auf, um die Namen der neuen Versiche rungskunden von den Grabsteinen abzuschreiben. Die Toten wider sprechen den vom Außendienstmitarbeiter vorgeschlagenen Ver sicherungs summen nicht. Sie beginnen nicht zu bollern, wenn der Außendienstmitarbeiter ihre Unterschrift imitiert. Es ist ihnen gleichgültig, wenn der Außendienstmitarbeiter ihnen am nächsten Montag einen hohen Provisionsvorschuss verdankt. Auch haben sie alle Versicherungsfälle hinter sich gelassen. Leider unterschreiben die Toten keinen Dauerauftrag.

 

 

Wenn die Versicherungspolicen für diese Versicherungsnehmer von der Post als nicht zustellbar deklariert werden und in die Filialdirektion zurückgekehrt sind, ist es soweit. Heinrich Ludwig verfasst den Kündigungsbrief im Ton kältester Sachlichkeit, als ob es sich bei dem Adressaten um einen Angehörigen des Innendienstes handelte. In einem zweiten Brief wird der Außendienstmitarbeiter aufgefordert, alle Schulden an die Filialdirektion binnen acht Tagen zu rück zuzahlen. Der Außendienstmitarbeiter zahlt selbstverständlich  nicht. Er kann nicht zahlen, weil er seine Provisionsvorschüsse verballert hat. Noch sieht er ein, dass er zahlen muss. Warum soll er die Versicherungsgesellschaft besser als den Versicherungsnehmer be han deln, die er mit Wissen und Wollen seiner Filialdirektion über alle Tische gezogen hat? Wenn die Filiald irektion meint, dass der moralische Relativismus nur teilweise gelte und die Moral nur von ihr außer Kraft gesetzt werden kann, ist das nicht sein Bier.

 

 

Also macht sich der Außendienstmitarbeiter aus dem Staub. Wenn Heinrich Ludwig und ich so weit gekommen sind, werden die Kor res pondenzen, die wir gemeinsam diktieren, unterschreiben, fran kieren und versenden, spannend. Je häufiger der ehemalige Außendienstmitarbeiter seine Adressen und Arbeitgeber wechselt, desto mehr müht sich Heinrich Ludwig, den Schuldner zu finden. Am Ende schafft er meistens, ihm auf den Fersen zu bleiben. Nur zahlen tut der vermaledeite Ex­Außendienstmitarbeiter nicht.

 

 

Heinrich Ludwig schreckt nicht vor Versuchen zurück, Zahlungen einzutreiben, auch wenn das Risiko eines Scheiterns hoch ist. Noch scheut er sich, Privatdetektive anzuheuern. Solches macht er aus mehreren Gründen. Die Allgemeine Südstern Versicherungs AG hat ausreichend Geld, um frühere Außendienst­mitarbeiter zu verfolgen. Es gilt, ein Exempel zu statuieren. Dabei darf man bei der Verursachung von Kosten diesmal nicht kleinlich sein. Immerhin haben die Außendienstmitarbeiter einmal dazugehört. Sie haben sich gegenüber der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG als illoyal erwiesen. Alles, was der Versicherung bei der Verfolgung seines Außendienstmitarbeiters an Kosten entsteht, wird dem Konto des Außendienstmitarbeiters zugeschlagen. Mittlerweile haben die Schulden des ehemaligen Außendienstmitarbeiters einen Stand erreicht, dass dieser nicht hoffen kann, in ein normales Leben zurück­ zufinden. Nicht mal ein Lottogewinn könnte noch helfen.

 

Während die Verfolgungen der Außendienstmitarbeiter anhalten, beginne ich Sympathien für den einen und anderen von ihnen zu entwickeln. Hier und da stecke ich eine Anweisung von Heinrich Ludwig an einen Anwalt oder einen Detektiv in die Tasche und verschicke sie nicht. Dazu denke ich: Renne, mein Außendienstmitarbeiter, renne!