Kapitel 9

 

9. KAPITEL 1958

 

Am Abgrund

 

 

Als ich mich durch die Kaufmannsgehilfenprüfung gewunden habe und am Ende bestehe, empfinde ich diesen scheinbaren Erfolg als Katastrophe. Solange ich ein versicherungswirtschaftlicher Lehrling war, bin ich vom ersten ins zweite und vom zweiten ins dritte Lehrjahr gewechselt. Mit bestandener Kaufmannsgehilfenprüfung könnte ich vom dritten Ausbildungsjahr zu meinem ersten Jahr als Versicherungskaufmann übergehen. Das habe ich mir aus der Sicht meiner Vorgesetzten und meiner Kollegen dringend zu wünschen. Würde ich sagen, dass mir das gleichgültig sei, tippte man sich an die Stirn. Diese Übergänge von einem Stand in den anderen, der sich von dem vorangegangenen in nichts unterscheidet, erwecken nicht einmal den Eindruck von Fortschritt und irgendwie doch. Aber sobald ich den Status eines Versicherungskaufmanns innehabe, wird es für mich bis zur Verrentung nicht einmal mehr eine scheinbare Veränderung geben.

 

Von Anfang an ahnte ich, wie traurig mich das Bestehen der Kaufmannsgehilfenprüfung machen würde. Deshalb erwog ich, dort durchzufallen. „Wie soll das gelingen?“ fragt Norbert Fabricius mich auf der Herrentoilette. „Die Industrie­ und Handelskammern senken seit Jahren ihre Anforderungen, um Leuten wie dir das Durchfallen zu erschweren. Man müsste die Türken ins Land lassen und sie entmutigen, die deutsche Sprache zu lernen, damit solches gelingen kann.“ „Ich könnte in der schriftlichen Prüfung ein leeres Blatt abgeben und betrunken in die mündliche Prüfung kommen“, überlege ich. Aber als die Kaufmannsgehilfenprüfung unmittelbar bevorsteht, packt mich der sportliche Ehrgeiz. Ich werfe in der Nacht davor einen längeren Blick in meine Bücher.

 

„War alles nur heiße Luft, wie?“ fragt Norbert Fabricius, als ich mein Versprechen nicht gehalten und die Kaufmannsgehilfenprüfung bestanden habe. Nachdem der Diplom­Handelslehrer Jakob Spran ger die Ergebnisse der Kaufmannsgehilfenprüfung bekannt gegeben hat, bin ich der einzige Schüler, auf den er namentlich zu sprechen kommt. „Herr Bredemeier stellt ein leuchtendes Beispiel dar, wie man mit großem Fleiß etwas erreichen kann, wenn man sonst nicht viel auf dem Kasten hat“, sagt er. Während die anderen Fast­nichtmehr­Lehrlinge den Klassenraum der Berufsschule auf Nimmerwiedersehen verlassen, schüttele ich dem Diplom­Handels lehrer  be wegt beide Hände. „Ich hätte nie gedacht, dass Sie mich derart durch schauten“, sage ich. „Sie müssen sich doppelt so viel wie die anderen anstrengen“, sagt Spranger. „Aber fleißig sind Sie ja. Tun Sie nur immer, was Ihnen Ihr Bürovorsteher sagt.“ „Gilt das auch für die Herren Abteilungsleiter?“ erkundige ich mich. „Die Abteilungsleiter auch“, bekräftigt der Lehrer.

 

Magda Borowski hat einen Blick in meine Zukunft geworfen. Sie be zweifelt, dass sie mich, selbst wenn ich Jahrzehnte bei ihr ausharren sollte, jemals befördern kann. „Einer, der immer Postminister sein will, hätte von vornherein in die Sonderschule gehört“, sagt sie. „Hätte er überhaupt bei uns anfangen sollen?“ „Immerhin hat er seine Kaufmannsgehilfenprüfung bestanden“, sagt der stellvertretende Abteilungsleiter. „Glauben Sie mir“, sagt die Borowski. „Selbst wenn er angestrebt hätte, dort durchzufallen, er hätte nicht einmal das geschafft.“

 

Ich werde mir einiges einfallen lassen müssen, um das nächste Jahr zu überstehen. An die Jahre danach denke ich nicht. Als erstes werde ich das Risiko, das ich mit meinem Wettlauf mit den zwei Zügen eingehe, erhöhen. Wenigstens einmal am Tag brauche ich einen Adre nalinschub, damit ich mich für den Rest des Tages an etwas, das anders war und keine unendliche Leere, erinnern kann.

 

Ich habe dieses Spiel im zweiten Lehrjahr erfunden und seitdem weiter verfeinert. Am frühen Morgen komme ich schlecht aus dem Bett. Das passt gut zu meinem Spiel. Wenn ich die Filialdirektion gegen

 

7.30 Uhr erreichen will, sollte ich gegen 6 Uhr aufstehen und um 6.30 Uhr aus dem Haus gehen. Wenn ich gegen 6.20 Uhr oder 6.25 Uhr mein Bett verlasse, wird es fast unmöglich, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Ginge ich gegen 6.35 Uhr aus dem Haus, wäre der Zug in die Innenstadt kaum zu erreichen. Bräche ich gegen 6.40 Uhr auf, wäre alles zu spät.

 

Oder doch nicht? Das macht meinen ersten und wahrscheinlich ein zigen Höhepunkt an einem meiner typischen Werktage aus: Ich finde heraus, über welche Kräfte ich verfüge, wenn ich meinen Zug im letztmöglichen Moment erreichen will. Spätestens wenn meine Straße vor dem Bahnhof einmündet und Straße und Schienen parallel zueinander laufen, falle ich ins Joggen. Wenn der Bahnhof in Sichtweise gekommen ist, spüre ich den Zug in meinem Rücken. Jetzt wird es Zeit, die Beine in die Hände zu nehmen. Ich fliege dahin. Für eine Weile bewege ich mich mit dem Zug auf gleicher Höhe. Dann fährt der Zug Abteil für Abteil an mir vorbei, obgleich er mittlerweile abbremst. Bald ist er vorübergefahren.

 

Ich gebe alle mir verbliebenen Kräfte in die Verfolgungsjagd. Allerdings habe ich nicht nur geradeaus zu laufen. Es gilt, wenn ich meinen Zug glücklich erreichen will, mehrere Hindernisse zu überwinden. Zunächst stellt sich mir die niedergelassene Bahnschranke in den Weg. Um sie zu umgehen, habe ich das Bahnhofsgebäude anzusteuern, es zu durcheilen, über den falschen Bahnsteig zu stolpern, die Schienen für die Züge in die Gegenrichtung zu überqueren und auf die falsche Seite des Zuges einzusteigen, während dieser anfahren mag. Der Zug, der mich in die Innenstadt bringt und der Zug in die Gegenrichtung sind nach dem Fahrplan meines Bahnhofes zwei Minuten voneinander entfernt. Da kommt es vor, dass ich im letzten Augenblick zurückschrecke und nicht auf die Schienen hinuntersteige, weil der Zug aus der Gegenrichtung herandonnert. Schon klar, denke ich, Überleben ist wichtiger, selbst wenn ich an diesem Tag zu spät komme und eine Predigt Heinrich Ludwigs über mich ergehen lassen muss.

 

Es ist 9.30 Uhr. Magda Borowski hat den Mitarbeitern ihrer „Ab teilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ nach etlichem Zögern gestattet, Tee zu kochen und ein Butterbrot in einer informell anberaumten Pause zu verzehren. Solange meine Abteilungsleiterin nicht ihre Brille aufsetzt und mich keiner verpetzt, lese ich die aktuelle Zeitung. Dieser entnehme ich, dass sich auf meiner Strecke ein tödlicher Unfall ereignet hat. Solches hat sich auf dem Bahnhof ereignet, der eine Station näher als der meinige zur Innenstadt liegt. Ein Reisender hat versucht, an der falschen Seite in den Zug einzusteigen. Er wurde von dem in die Gegenrichtung fahrenden Zug erwischt. Ich grüße meinen toten Bruder im Geiste. Zum ersten Mal in meinem Leben erwäge ich, freiwillig zu einer Beerdigung zu gehen. Während ich zuhöre, wie Frau Borowski Häme über ihre Mitarbeiter ausschüttet, schlage ich mir das aus dem Kopf. Was sollen die heroischen Gesten, wenn sie keiner bemerkt.

 

Axel Freising ist zur gleichen Zeit wie ich Versicherungskaufmann geworden. Er hat wie ich keine Zukunft und weiß es wie ich. Wir klatschen einander ab, als wir uns am Hauptbahnhof treffen. „Hallo, Laurence Olivier“, sage ich. „Hallo, William Shakespeare“, antwortet er. „Was machst du auf dem falschen Bahnsteig?“ erkundige ich mich. Axel erzählt, er habe sich, um den Mühseligkeiten in der Allgemeinen Braunlager Versicherungs AG zu entrinnen, an der Schauspielschule zu Düsseldorf beworben. Diese habe ihn eingeladen vorzusprechen. Jetzt fahre er dorthin. „Hals­ und Beinbruch“, wünsche ich ihm.

 

Es dauert seine Zeit, bis ich Axel Freising ein weiteres Mal treffe.

 

Ich entdecke ihn, wie er der Allgemeinen Braunlager Versicherungs AG entgegentrottet. „Bist du in der Schauspielschule durchgefallen?“ erkundige ich mich, sobald ich ihn eingeholt habe. „Ich kam zu früh in Düsseldorf an“, erinnert er sich. „Deshalb ging ich wiederholt um die Schule herum. Als es soweit war hineinzugehen, traute ich mich nicht und fuhr nach Dortmund zurück, um in die Allgemeine Braunlager Versicherungs AG zu gehen.“

 

Gegen 15 Uhr mache ich mich, wie ich dies als Lehrling gewohnt war, auf den Weg, um die „Abteilung für die Ausfertigung von Versicherungspolicen“ zu verlassen. „Ist das der Herr Bredemeier, der an uns vorübergeht?“ erkundigt sich Magda Borowski. „Da geht er her“, sagt der stellvertretende Abteilungsleiter. „Herr Bredemeier, Sie haben vergessen, dass Ihnen das Postministerium entzogen wurde“, sagt Magda Borowski und beginnt wie ein junges Mädchen zu kichern. Sie scheint zu ahnen, wie sehr mir das Ministerium fehlt. Wenn sich Heinrich Ludwig in seinem Büro auf die Zehenspitzen stellt, sieht er durch mehrere Glasscheiben hindurch auf meinen Arbeitsplatz. Habe ich mich für längere Zeit aus meiner Abteilung entfernt, macht er sich Sorgen um mich und sodann auf die Suche. Heinrich Ludwig geht glücklicherweise nicht oder nur zögerlich auf die Herrentoilette. Er glaubt, dass ich mich nicht auf dem Klo befinde. Aber sicher ist er sich nicht. Andererseits ist er sich zu schade, einen Mitarbeiter zu fragen, ob ich mich auf der Toilette aufhalte, als dieser gerade den Lokus verlässt. Ich habe mich mit Norbert Fabricius abgesprochen, der nach einem kurzen Abstecher im Außendienst in den Versicherungsinnendienst zurückgekehrt ist. Fabricius möchte mir zunächst nicht helfen, weil er das Vertrauen seines Abteilungsleiters nicht verlieren will. Als ob Baranowski einem Mitarbeiter jemals vertraut hätte.

 

„Merkst du nicht, dass sie dich wie ein Stück Scheiße behandeln?“ frage ich ihn. „Wenn du deine Selbstachtung nicht aufgeben willst, musst du mindestens einmal am Tag frontal gegen sie angehen. Das sollte freilich auf eine Weise geschehen, dass es keiner merkt.“ „Wenn es keiner bemerkt, bin ich dabei“, sagt Fabricius.

 

Von der hintersten Schreibtischreihe der „Abteilung für die Vor bereitung von Versicherungspolicen“ lässt sich der Arbeitsplatz von Heinrich Ludwig einsehen. Wenn der Bürovorsteher sein Büro verlässt und in Richtung Telefonzentrale schreitet, mag man mutmaßen, dass er in den Aktenkeller geht, um einen fehlgeleiteten Mitarbeiter zu suchen. Auch wenn ein Versicherungskaufmann keine Arbeit bekommt, ein Telefon hat er allemal. Das gilt sogar für Fabricius. Dieser nimmt den Hörer von der Gabel und wählt die Nummer des „Holzfällers“. Er lässt es dreimal läuten. Derweil schaut er ausdruckslos vor sich hin, wie dies Ludger Baranowski von ihm gewohnt ist. Ich gehe seit einiger Zeit jeden Nachmittag in den „Holzfäller“. Wenn es dort dreimal läutet, wird es Zeit für mich aufzubrechen. Das ist möglich, weil ich mein Bier vorher bezahlt und mit Anne, der Wirtin, vereinbart habe, dass sie meinen Platz im Würfelspiel einnimmt, sobald ich das Lokal verlassen muss. Wenn Heinrich Ludwig mit hochrotem Kopf aus dem Aktenkeller zurückgekehrt ist, sieht er mich an meinem Arbeitsplatz sitzen. „Maanchen, Maanchen“, sagt Heinrich Ludwig. „Das verstehe ich nicht.“ Aber er werde dahinterkommen, gibt er sich und uns körpersprachlich zu verstehen.

 

„Hast du gesehen, wie dich die Abteilungsleiter ansehen, wenn du auf dem Gang an ihnen vorübergehst?“ fragt mich Norbert Fabricius auf dem Herrenklo. „Sie ahnen, dass du etwas unternimmst, was sie wild machen würde, wenn sie es wüssten. Da sie bislang nicht darauf gekommen sind, was es sein könnte, macht sie das noch wilder. Gegenwärtig sind deine Oberen bestrebt, dich zu überführen. Aber ich habe die eine und andere Andeutung gehört. Frage mich nicht von wem. In wenigen Tagen mögen sie soweit sein, dir falsch gestempelte Versicherungspolicen unterzujubeln. Du wärest nicht der erste, den die Oberen mit Hilfe gefälschter Beweise aus der Filialdirektion treiben, wenn er es aus ihrer Sicht verdient hat und sich auf korrekten Wegen nicht überführen lässt.“

 

„Jetzt möchtest du mir einen Rat geben“, vermute ich. „Wenn du ihn hören willst“, sagt Norbert Fabricius. „Du solltest morgens pünktlich in die Filialdirektion kommen und abends so tun, als ob du Überstunden machtest. Du meidest fortan die Herrentoilette und verlässt deine Abteilung während der Arbeitsstunden nicht. Vielleicht solltest du zusätzlich eine optimale Stempelung deiner Versicherungspolicen anstreben und das allen sagen.“

 

„Mir scheint es mittlerweile für eine tätige Reue zu spät“, sage ich. „Es wäre den Versuch wert“, sagt Fabricius. „Deine kleinen Streiche, die dir Freude gemacht haben, wärmen dich nicht, wenn du als Obdachloser am Hauptbahnhof kampierst. Dann wirst du dich nach allem Wermut, den du in dich hineinschütten musstest, um nicht vor Kälte zu zittern, nach deiner Filialdirektion zurücksehnen.“ „In einem Punkt hast du recht“, sage ich. „Das ist albern, was ich tue.“ Also gehe ich zu Heinrich Ludwig und kündige meinen Arbeitsvertrag.

 

 

2.

 

Ich werde um sieben Ecken gefragt, was ich nach der Beendigung meiner Tätigkeit bei der Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG für das östliche Ruhrgebiet vorhabe. Dazu sage ich nichts. Auf der Herrentoilette und woanders kristallisiert sich die Meinung heraus, ich hätte mich entschieden, Bahnhofspenner zu werden. Ich gebe zu, diesen Wunsch scherzend geäußert zu ha ben, aber nur für den Fall, dass wir einen Klimawandel bekommen und die deutschen Winter wärmer werden als bislang. Ludger Baranowski betritt die Herrentoilette und charakterisiert mich ergänzend: „Ein Bahnhofspenner mit einem Buch.“ Alles lacht, weil sich ziemt zu lachen, wenn ein Abteilungsleiter auf dem Scheißhaus einen Scherz gemacht hat. „Vergessen Sie die Wermutflasche nicht, Herr Baranowski“, sage ich. „Die brauche ich unbedingt, um Sie zu vergessen.“

 

Mein letzter Tag in der Filialdirektion ist gekommen. Ich schlendere den Gang zwischen den diversen Abteilungen der Filialdirektion entlang, als mir Magda Borowski und ihr stellvertretender Abteilungsleiter begegnen. Sie befinden sich auf dem Wege zu Heinrich Ludwig, um neue Mitarbeiter zu beantragen. „Auf ein Wort, Herr Bredemeier“, sagt der stellvertretende Abteilungsleiter. „Herr Knapp, Sie werden nicht mehr mit diesem Bredemeier reden“, sagt Magda Borowski. „Haben Sie nicht seine Fahne gerochen?“

 

„Jetzt nicht, Frau Borowski“, sagt Artur Knapp und wendet sich mir zu. „Ich habe gehört, dass Sie soeben Ihr Zeugnis erhalten haben“, sagt er. „Das ist richtig“, sage ich. „Wenn das Zeugnis so ist, wie ich vermute, sollten Sie dagegen angehen und im Gespräch mit unserem Büroleiter auf Ihre Rechte pochen“, sagt Knapp. „Sie bekommen ein besseres Zeugnis, wenn Sie Widerstand leisten.“

 

„Damit kommen Sie zu spät“, sage ich. „Ich habe mir gerade mit meinem Zeugnis auf der Herrentoilette den Arsch abgeputzt.“

 

 

3.

 

Ich weiß genau, was ich tun werde, sobald ich mich aus den Ketten der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG befreit habe. Das habe ich mir gut überlegt. Dem Klappentext eines Buches entnehme ich, dass Raymond Chandler und Dashiell Hammet die besten Kriminalautoren der Welt sind. In jenen Jahren glaube ich an Rangordnungen, sofern sie gedruckt sind. Sobald mein letzter Arbeitstag vorbei ist und ich die Filialdirektion der Allgemeinen Südstern Versicherungs AG für das östliche Ruhrgebiet auf immer verlassen habe, hole ich mir am Hauptbahnhof von beiden Autoren jeweils ein Buch.

 

Am ersten Tag in Freiheit gehe ich zur gewohnten Zeit außer Haus. Ich erfülle mir meinen Herzenswunsch und lasse mich auf einer Wiese zwischen zwei Kokereien nieder. Ich beginne mit Raymond Chandlers „The Big Sleep“, weil dies das dickste Buch ist, das Chandler geschrieben hat.

 

Im Laufe des Tages kommt ein Wachmann mit Hund vorbei. Das Grundstück gehört wie alles hier unserer Zeche. Daran hat sich nichts geändert, seit die Zeche stillgelegt ist. Der Wachmann will mich von der Wiese vertreiben. Aber als er das Buch in meiner Hand sieht, hat er erkannt, dass ich ein harmloser Irrer bin. Er verschwindet wieder. Ich schaue auf die Uhr. Jetzt hätte ich Feierabend. Folglich kann ich es mir leisten, nach Hause zu gehen.

 

Sobald ich meine Bücher zu Ende gelesen habe, fahre ich zum Hauptbahnhof und hole mir Nachschub. Chandler überzeugt mich mit seiner Kritik an Dorothy Sayers. Zu dieser Zeit kenne ich Sayers noch nicht. Aber ich habe einige Kriminalromane von Agatha Christie gelesen. Ich verliere mein Interesse an Christie, als ich mit Chandlers Hilfe durchschaue, dass sie in ihren Texten wie eine Betrügerin agiert. Sie tut so, als ob der Leser den Mörder überführen könnte, wäre er intelligent genug und wüsste wie ihr Detektiv Hercule Poirot die von ihr gelegten Spuren richtig zu deuten. Dabei ist in ihren Büchern keine Spur von Logik zu finden und dient alles dem Zweck, den Leser irrezuführen.

 

Raymond Chandler hat es gleichfalls nicht mit der Logik. Er gibt zu, dass er einen Mann mit gezogener Pistole durch die Tür kommen lässt, wenn er nicht weiß, wie die Geschichte weitergehen soll. Aber Chandler stößt sich an den Manieren britischer Mörder. „Trinken wir noch einen Sherry, Mylord“, fragt der Verbrecher, als er verhaftet werden soll, „bevor Sie mich in ein anderes Etablissement geleiten?“ Chandler behauptet, dass die von den Briten geschaffenen Figuren lediglich Strichmännchen seien. In Los Angeles ereignen sich schmutzige Morde auf dreckigen Straßen. Die Gewalt lauert zwischen Leuten, die zu überleben versuchen, und will dauernd heraus. Nur seinem Detektiv Philip Marlowe gestattet Chandler ein romantisches Herz. Ich einige mich mit Chandler, dass die britische Variante des Kriminalromans einem Kreuzworträtsel gleicht und nichts mit dem wahren Leben zu tun hat. Überdies sind die Rätsel unfair gestrickt.

 

Chandler ehre ich, aber Dashiell Hammet liebe ich von der ersten Zeile. Die Kurzgeschichten von Hammet gibt es nicht in deutscher Sprache. Ich erfahre viel später, dass sie existieren, und warte ab, bis ich der englischen Sprache mächtig geworden bin. Als ich so weit zu sein glaube, habe ich Hammet nicht vergessen. Ich besorge mir die Kurzgeschichten und beginne zu lesen. Ich lasse alles andere liegen und lese nur sie. Chandler hat verlangt, auf die Straße zu gehen und vom prallen Leben zu schreiben. Hammet war auf der Straße und hat das Treiben dort zwischen zwei Buchdeckeln zu neuem Leben erweckt. Weltweit wird „Der Malteser Falke“ am meisten geschätzt. Ich mag die „Bluternte“ und den „Fluch des Hauses Dain“ lieber. Das letzte Buch von Hammet, „Der dünne Mann“, ist eine Enttäuschung. Der Verfasser hat sich von der Welt der Operatives in der Detektivagentur Pinkerton abgewandt und ein reiches Mädel geheiratet. Ich lerne, dass es Autoren nicht zu gut gehen darf und sie nicht zu erfolgreich sein dürfen, wenn sie gute Bücher schreiben sollen. Am besten, man verfolgt sie, womöglich politisch, damit sie weiterhin gute Texte schreiben, und nähme man dafür zu ihren Lebzeiten einen Diktator in Kauf. Mindestens sollte man sie periodisch in wirtschaftliche und persönliche Niederlagen stürzen. Das ist den Förderern und Feinden der Literatur häufig gelungen.

 

Mittlerweile habe ich alles gelesen, was es von Chandler und Hammet in deutscher Sprache gibt. Glücklicherweise gibt es weitere Taschenbücher, die mich interessieren und die ich am Hauptbahnhof kaufe. Allerdings geht mir allmählich das Geld aus. Zu Hause wird mir mein monatlicher finanzieller Beitrag zur Haushaltsführung ab verlangt. Das muss man verstehen, weil man dort glaubt, ich bezöge nach wie vor ein Gehalt. Ich werde sie eine Weile hinhalten und meine Stiefmutter behandeln wie Agatha Christie ihre Leser. Was mache ich, wenn mir das Geld ausgegangen ist? Diese Frage schiebe ich weit von mir. Damit befasse ich mich, wenn es soweit kommen sollte. Aber im Grunde rechne ich zuvor mit einem Wunder, auch wenn eine Prinzessin, gefolgt von zwei Dienern, die eine Schatzruhe tragen, momentan nicht in Sicht ist.

 

4.

Das Arbeitsamt vermittelt nicht nur Stellen auf Dauer. Es vermittelt auch Tagelöhner. Dieser Service für Arbeitgeber wird „Schnelldienst“ genannt. Wenn ich den Schnelldienst betrete, nehme ich links den Warteraum für erwachsene Tagelöhner, rechts den für Schüler und Studenten wahr. Die beiden Gruppen müssen getrennt werden, um die jüngeren Menschen aus den gebildeten Schichten vor dem Lumpenproletariat zu schützen. Dieses Proletariat ist weniger denn je angesehen, seit die ewige Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik ausgebrochen ist. Das Lumpenproletariat provoziert alle Welt, indem es so tut, als ob die Vollbeschäftigung nicht existiere.

 

Ich darf mich weder in dem einen noch anderen Warteraum niederlassen, da ich kein Schüler und Student noch, da minderjährig, ein erwachsener Tagelöhner bin. Vielmehr gehöre ich überhaupt nicht hier hin. Wenn ich den Schnelldienst aufsuche, gibt mir der Arbeitsamtsbeamte zu verstehen, dass er mir keinen Job geben darf. Manchmal droht er mir, mit meinem Vater zu sprechen. Dennoch bleibe ich, weil ich das Geld, das ich heute verdienen könnte, dringend benötige. Wenn ich lange genug gewartet habe, schickt mich der Arbeitsamtsbeamte vielleicht zu einem Job. Oder ich schmuggele mich in eine größere Gruppe. Ein Arbeitgeber hat angerufen. Wir sollen uns in Bewegung setzen. Dalli, dalli. In der Eile geht unter, dass ich mittendrin bin.

 

Im Schnelldienst gibt es keine Stehplätze zwischen den Warteräumen. Ich lehne es ab, mich vor dem Schreibtisch des Arbeitsamtsbeamten zu stellen. Das könnte ihn auf die Idee bringen, gegen mich tätig zu werden. Lieber begebe ich mich unter die Schüler und Studenten. Es kommt vor, dass der Arbeitsamtsbeamte mich dort sitzen lässt. Ebenso häufig kommt er herein, packt mich am Schlafittchen und steckt mich zum Lumpenproletariat. Manchmal gebe ich von vornherein auf und gehe zu den Leuten von links. Einige Proletarier geben sich redliche Mühe, die Verachtung zu verdienen, die ihnen  von Arbeitgebern und dem Arbeitsamtsbeamten entgegengebracht wird. Sie haben nicht gelernt zusammenzuarbeiten. Sie drücken sich gern und stehen auffällig unauffällig herum. Sie werden leicht ausfällig, sobald in ihren Arbeitsvollzügen ein Problemchen auftritt. Sie nuscheln Unflätigkeiten so, dass sie keiner versteht. Sie kapitulieren, bevor sie eine Aufgabe in Angriff genommen haben. Ein paar von ihnen besitzen zwei linke Hände. Noch gehen sie solidarisch miteinander um. Mehrere Proletarier scheinen nur wenig älter als ich zu sein. Es kommt vor, dass ich mich mit einem von ihnen für einen Tag anfreunde. Wenn wir unseren Lohn bar auf die Hand bekommen haben, ziehen wir in eine Kneipe, um das Geld zu verballern. Unser täglicher Lohn heißt so, weil er am gleichen Tag ausgegeben werden muss. Wenn ich meine Einnahmen beinahe aufgebraucht habe, suche ich unsere gemeinsame Zeit in der Kneipe zu verlängern und frage: „Kennst du das Würfelspiel „Scheiße“?“

 

Am nächsten Morgen gehe ich gleich nach links, weil dort mein neuer Freund sitzt. Gerade ist ein größerer Schwung erwachsener Tagelöhner auf den Bau geschickt worden. Für wenige Augenblicke sind wir allein. Der Arbeitsamtsbeamte stellt sich in die Tür und winkt uns. Ein Arbeitgeber hat angerufen. Dalli, Dalli. Wir schleppen Schränke und weitere Möbelstücke die Treppen herauf. Wir wuchten an einem Klavier. Das geht in die Knochen. Unser Arbeitgeber für diesen Tag rastet aus, obgleich er es ist, der uns die falschen Anweisungen gab, wie wir das Klavier manövrieren sollten. Wir legen die Arbeit protestierend nieder und kehren, da unser Arbeitstag gerade erst angebrochen ist, zum Schnelldienst zurück. Dort erhalten wir keine Gelegenheit, uns zu erklären. Der Arbeitsamtsbeamte rastet gleichfalls aus, sobald er uns sieht. Unser Arbeitgeber hat angerufen und alles erzählt, was ihm an uns nicht gefiel. So weit kommt das noch, dass ich mich von diesen Polacken die Teppiche schmutzig machen lasse, sagt der Arbeitgeber. Wenn das noch mal passiert, braucht ihr nicht wiederzukommen, sagt der Arbeitsamtsbeamte zu uns. Ich sehe ihm an, dass er es ernst meint. An diesem Tag wird es mit dem Jobben nichts mehr. Der Beamte vom Schnelldienst muss sich erstmal beruhigen. Wir ziehen von dannen. „Hast du noch Geld für die Kneipe?“ fragt mein Freund. Ich habe Geld für ein Taschenbuch, aber das sage ich nicht. Mein Freund schlägt vor, in die „Mausefalle“ am Hauptbahnhof zu gehen und die Zeche zu prellen.

 

Ich habe von dieser Kneipe gehört. Alle Kellner sind vorbestraft und haben gesessen. Sie geben Kleinkriminellen auf Provisionsbasis einen Tipp, wenn ein Gast am Tresen einen größeren Schein zückt. Der Kleinkriminelle folgt dem Mann auf die Straße und schlägt ihn nieder, um ihm sein Geld abzunehmen. Will mein Freund die Brecher in der „Mausefalle“ abzocken? Der lacht. „Muskeln haben sie, aber klug sind sie nicht“, behauptet er. „Wenn mir einer was will, behaupte ich, dass meine Verwandtschaft im Strafvollzug tätig ist und ihn schikaniert, wenn er abermals eingebuchtet wird. Die haben es nicht gern, wenn mir was getan hat.“ „Ein anderes Mal“, sage ich.

 

Ich gewöhne mir an, nur jeden zweiten Tag zum Schnelldienst zu gehen. Wenn ich meinen Tageslohn erhalten habe, kaufe ich mir ein Taschenbuch für den nächsten Tag auf der Wiese zwischen Kokereien. Unter den Aufträgen, die beim Schnelldienst hereinkommen, befinden sich Ringeltauben. Diese vergibt der Arbeitsamtsbeamte ausschließlich an Schüler und Studenten. Das ist ein weiterer Grund, dass ich mich gern unter diese Leute begebe.

 

In der Versicherungswirtschaft habe ich Karl­Heinz Stratmann kennengelernt. Jetzt staune ich, dass es massenweise Stratmänner gibt. Sie dürften in den besseren Stadtteilen wohnen. Fast alle von ihnen sind Gymnasiasten. Sie verdienen sich in den Ferien etwas dazu. Studenten sind im Schnelldienst meiner Stadt Mangelware, weil es im Ruhrgebiet keine Hochschulen gibt.

 

„Dominus vobiscum“, scherze ich mit ihnen. „Et cum spiritu tuo“, geben sie zurück. Der Arbeitgeber taut auf, wenn sich junge Menschen mit Umgangsformen um ihn versammeln. Er schmeißt eine Runde Limonade, wenn wir unsere Arbeit getan haben. Wäre noch etwas zu tun, der Arbeitgeber packte als erster mit an. Vertrauen gegen Vertrauen, sagt er. Kommen wir nicht alle aus Familien, die einander kennen? Manchmal rundet der Arbeitgeber unsere Arbeitsstunden für die Lohnabrechnung nach oben. Soll er sich lumpen lassen, wenn er mit dem Vater eines unserer Schüler Golf spielen geht? Mit der Zeit fallen mir Unterschiede zwischen dem abgebrochenen Gymnasiasten Stratmann und den Jungen auf, die Gymnasiasten geblieben sind. Stratmann hörte allmählich auf, mit unserem Bürovorsteher Latein zu reden und hielt seinen Stempel für längere Zeit in der Schwebe. Die Gymnasiasten sind optimistischer als Stratmann gestimmt. Das ist kein Wunder, da sie ihr Scheitern noch vor sich haben und es nicht wissen. Die Gymnasiasten könnten ein Leben wie im Schlaraffenland führen. Sie verfügen über einen freien Zugang zu Büchern. Was ich mir Stück für Stück mühsam beschaffen muss, wird ihnen frei Haus in den Rachen geworfen. Allerdings wissen die Gymnasiasten ihre Schätze wenig zu schätzen, weil sie nie darum kämpfen mussten. Während meiner Schnelldienstzeit treffe ich keinen Schüler, der sich für die an der Schule oder die in den Büchern erörterten Inhalte interessiert.

 

Gleichwohl ist der eine Gymnasiast nicht wie der andere. Ich unterscheide zwischen „Hedonisten“ und „Karrieristen“. Die Hedonisten lachen über alles, was ihnen an ihrer Schule vermittelt werden soll. Was immer ein Lehrer sagt, ist ätzend, weil es ein Lehrer gesagt hat. Für sie ist es eine Ehrensache, mindestens einmal in ihrer schulischen Laufbahn sitzen zu bleiben, das heißt in ihren Worten, eine „Ehrenrunde“ drehen. Wer bislang keine Ehrenrunde gedreht hat, muss sich fragen, ob er zu den Hedonisten gehört. Mich fragen sie wiederholt, von welchem Gymnasium ich komme und ob ich dort eine Ehrenrunde gedreht habe. Mittlerweile kenne ich alle Gymnasien meiner Stadt mit Namen, sodass ich mir meine schulische Herkunft aussuchen kann. Allerdings muss ich mich zurückziehen, wenn einer nach Einzelheiten in meiner schulischen Laufbahn zu graben versucht. Sollte ich besser in der Tertia oder in der Obersekunda sitzen geblieben sein? Oder in beiden? Im letzteren Fall hielte man mich womöglich für dumm. Wenn ich abends nach Hause fahre, schäme ich mich, weil ich zweimal auf die Frage, ob ich Gymnasiast bin und eine Ehrenrunde gedreht habe, mit „Selbstverständlich“ geantwortet habe.

 

Im Gegensatz zu den Hedonisten lernen die Karrieristen die In­ hal te, die man ihnen auf den Gymnasien abverlangt. Das tun sie, weil sie eines verinnerlicht haben: Wer die Inhalte beherrscht, die die Schule als bedeutend festgelegt hat, wird in seinem späteren Leben die geistig Minderbemittelten beherrschen und zu höheren Einkommen kommen. Also sehen die Karrieristen das Drehen einer Ehren runde als verlorene Zeit. Das würde zu einer Minderung ihrer Lebenseinkommen führen. Irgendwann werden die Hedonisten die Mitarbeiter der Karrieristen sein und ausführen, was ihnen die Kar rie risten gesagt haben. Einige Karrieristen kämpfen um bessere Zensuren. Im Vergleich zu ihnen bin ich ein Hedonist, den sie wie die anderen Hedonisten zunächst nicht beachten.

 

Die Hedonisten behaupten, die Karrieristen kröchen den Studienräten in den Hintern. Richtig ist, dass das Verhältnis der Karrieristen zu Bildung und Wissen ausschließlich instrumenteller Natur ist. So werden sie es später an den Hochschulen halten. Erneut lerne ich, dass man sich für Inhalte an sich nicht interessieren darf, wenn man nicht aus seiner Bezugsgruppe ausgeschlossen und auf ewig lächerlich gemacht werden will. Wenn ich in späteren Jahren Leute beeindrucken oder provozieren will, sage ich nicht, dass ich um Wissen und Bildung bemüht war. Das klänge nach Strebertum. Vielmehr kokettiere ich damit, dass es keine körperliche Arbeit gibt, die ich nicht verrichtete.

 

Das stimmt nicht. Aber ich habe Kohlen in die Keller geschippt und Umzüge bewerkstelligt. Ich habe Schiffe am Binnenhafen beladen und entladen. Das gleiche gilt für die Post­ und Gepäckzüge am Haupt bahnhof. Ich habe Holzgroßhandlungen umgeräumt, bis alles Holz in den Hallen anders gelagert war. Ich habe an Bändern gestanden und den Ausschuss aussortiert. Ich habe, weil ich mich heimlich unter die Schüler zu schmuggeln wusste, Arbeitsplätze erobert, die nur für Schüler bestimmt waren. So habe ich einen Tennisplatz nach dem anderen bespritzt. Kurz bevor die Spiele beginnen, lasse ich mich ein weiteres Mal einstellen. Ich fungiere als Balljunge und tausche Tennisbälle gegen Trinkgelder ein. Das war eine Ringeltaube. Die widerlichste Arbeit habe ich im Hafen verrichtet. Ich trage Eisenträger vom Kanal in die Lagerhalle. Entscheidend ist nicht, wie schwer die Träger sind. Vielmehr sind sie so eingefettet, dass sie meine Kleidung versauen. Die kann ich nie wieder anziehen. Ich wasche meine Hände an einem Kran unter freiem Himmel. Das Fett bleibt an meinen Angestelltenhänden haften. Am nächsten Tag kaufe ich mir Reinol vom eigenen Geld. Ich scheuere meine Hände mit einer Drahtbürste, bis sie aufspringen und zu bluten beginnen. Die Schmiere bleibt dennoch an den Händen. Das dauert, bis sie weniger verlottert sind.

 

Die Arbeit in der Brauerei ist nicht viel besser. Ich habe eine Sackkarre unter vier aufeinander gestapelten Kästen mit vollen Bierflaschen zu schieben, die Kisten mit Schmackes nach oben zu heben, mit der Sackgasse um einige Ecken zu gehen und sie am Ende zu entladen. Diese sich über Tage wiederholende Arbeit fällt allen schwer. Für mich wird sie fürchterlich, weil ich den richtigen Schwung manchmal nicht hinbekomme und ihn nie in Routine überführen kann. Wenn ich mich nicht im richtigen Schwung befinde, mögen die Kisten zu wackeln beginnen und am Ende von der Karre fallen. Das gäbe Krach mit dem Arbeitgeber, der von seinen Zeitarbeitskräften Gehorsam, Funktionieren und Geräuschlosigkeit erwartet und uns keinen Ausschuss gestatten will. Mehrere Male gerate ich in Versuchung, die Karre stehen zu lassen und nach Hause zu gehen. Ich scheiße auf den verdienten Lohn. Aber ich halte durch, weil meine Lage auf dem Schnelldienst dafür zu prekär ist. Mein Arbeitgeber könnte sich beim Arbeitsamtsbeamten beschweren.

 

Eine Brauerei hat Arbeitskräfte angefordert. Nicht schon wieder, denke ich, und bin dabei, mich zu verdrücken. Da wendet sich der Arbeitsamtsbeamte den Schülern und Studierenden zu. Das könnte eine Ringeltaube sein, schlussfolgere ich. Im letzten möglichen Moment schmuggele ich mich unter die Schüler. Wir sind aufgeräumt. Das kommt, weil der Arbeitstag damit begonnen hat, dass wir unser Deputat erhielten. Dieses besteht aus vier Flaschen Bier. Der Brauereiarbeiter, der die Deputate austeilt, kneift uns ein Auge zu. Damit signalisiert er, dass wir mehr Bier bekommen können. Wenn wir durstig geblieben sind, sollen wir uns bei ihm melden.

 

Ich bin – ich weiß nicht warum – der Manager eines Flaschenkellers geworden. Wenn mich die Schüler im Keller besuchen, bringen sie Geschichten mit, die die Brauereiarbeiter erzählt haben. Unsere Brauerei beliefert die ihr angeschlossenen Gaststätten über Pferde wagen. Das geschieht aus Tradition. Kürzlich wurden zwei Bierkutscher in einen Unfall verwickelt. Dieser ging glimpflich aus, weil die Geschwindigkeit eines Pferdewagens nicht besonders hoch ist. Aller dings waren die Kutscher volltrunken.

 

Die Kutscher kommen vor Gericht. Sie werden freigesprochen. Das Gericht argumentiert, dass Bierkutscher immer betrunken sind. Sie müssen es in Ausübung ihres Berufes sein. Würden sie zu den Lokalen in der Innenstadt in nüchternem Zustand fahren, fehlte ihnen die sichere Hand. Dann müssten sie zu einer Gefahr im Straßenverkehr werden. „Wir sind eine Bierstadt“, kommentiert ein Schüler. „Ein solches Urteil wäre anderswo nicht möglich.“

 

Da ahnt keiner, dass wir bald der größte Bierproduktionsstandort in Europa gewesen sind und die Brauereien ähnlich wie unsere Zechen vergehen. Wie die Bergassessoren haben die Brauer gelernt, ihre Produkte zu erstellen und zu verteilen, aber nicht zu verkaufen. Sie verschlafen den Trend zum Premium­Pils.

 

 

5.

Bei meinen Leuten im Kirchspiel ist das Unglück eingekehrt. Ich müsste weinen, wenn ich nur Zeit fände und mich kümmern könnte. Die älteste Tochter verlässt den Hof, ohne ein Wort zu sagen. So be­ ginnt es. Sie taucht bei uns auf und verlangt eine Stellung. Wir besorgen sie ihr und telegrafieren meinem Onkel und meiner Tante, es sei alles in Ordnung. Nach kurzer Zeit wirft die älteste Tochter die Brocken hin. Es gefällt ihr doch nicht in der Stadt. Sie kehrt auf den Hof zurück. Dort wird sie wahnsinnig. Danach lebt sie viele Jahre in einer geschlossenen Anstalt. Die jüngere Tochter beginnt ihre Pubertät hinter sich zu lassen, dann wird sie auch wahnsinnig. Sie wird in eine geschlossene Anstalt geliefert. Die Menschen im Kirchspiel Grotebühl beginnen, den Hof meines Onkels und meiner Tante zu meiden. Sie fürchten, sie würden dort angesteckt und am Ende mit in die Verrücktheit getrieben.

 

Mein Onkel lässt einen Wünschelrutengänger auf den Hof kommen. Der wandert mit einem Dreieck aus Zweigen auf dem Hof herum. An mehreren Stellen schlägt das Dreieck heftig aus. „Da sind die unterirdischen Ströme, die euch Unglück bringen“, ruft er.

 

Soll mein Onkel sein Haus niederreißen und an einer anderen Stelle errichten, die ihm der Wünschelrutengänger gewiesen hat? Mein On kel ist alt geworden. Sein halber Magen macht ihm zu schaffen. Einen Neuanfang wie vorgeschlagen schafft er nicht mehr. Meine Tante kann immer noch lachen. Aber wenn sie lacht, kommt es weniger frei als früher heraus. Ich fahre nicht mehr nach Grotebühl, weil ich mich fürchte. Sollte ich gleichfalls gefährdet sein? Auch will ich mich erst wiedersehen lassen, wenn sich meine Lage gebessert hat. Wie sollte sich meine gegenwärtige Situation verbessern? Das habe ich nur so daher gesagt. In Wahrheit wechsele von einem trüben Tag in den nächsten und denke besser nicht darüber nach.

 

Auch der Sohn auf dem Hof bekommt neuerdings Anfälle. Sie ereignen sich mitten in der Nacht. Da zuckt und schreit er. Die Eltern schaffen es nicht, ihn niederzuhalten. Die Nachbarn kommen zu Hilfe und binden den Sohn auf dem Bett fest. Der Sohn wird ins Krankenhaus eingeliefert. Dort wird er behandelt, obgleich es über seine Leiden keine Diagnose und für seine Krankheit keine Therapien gibt. Als er sich nicht mehr auffällig verhält, weil er mit Beruhigungstabletten vollgepumpt ist, wird er entlassen. Auf den Hof zurückgekehrt, ereignet sich einige Monate lang nichts. Die Verwandtschaft beginnt auf zuatmen. Wenigstens der Sohn ist meinem Onkel und meiner Tante geblieben.

 

Da bekommt der Sohn erneut seine Anfälle. Er wird in ein Krankenhaus eingewiesen und wieder entlassen. Nach etlichen diagnostischen und therapeutischen Versuchen, die viel kosten, aber nichts einbringen, wissen die Ärzte nicht wirklich, was der junge Mann für eine Krankheit hat. Einer von ihnen sagt ihm: „Sie sollten den Gedanken aufgeben, zu heiraten und Kinder zu zeugen.“ „Das können Sie keinem Menschen verbieten, sich sowas zu wünschen“, sagt der Sohn. Mein Onkel und meine Tante sind mit ihren Kindern nicht krankenversichert. Werden sie, sollte das mit den Kosten so weitergehen, ihren Hof halten können?

 

Einige Jahre später kommen die Ärzte darauf, dass mein Onkel und meine Tante nie hätten heiraten dürfen. Zumindest hätten sie keine Kinder bekommen sollen, weil ihre Genpools nicht kompatibel sind.

 

Hat es die entsprechenden Tests gegeben, als mein Onkel und meine Tante heiraten wollten? Das ist eine müßige Frage. Auch wenn es die Tests gegeben hätte, hätten mein Onkel und meine Tante nichts von ihnen gewusst. Wenn sie davon gehört hätten, würden sie die Tests nicht in Anspruch genommen haben, da sie nicht krankenversichert gewesen sind.

 

6.

Ein erstes Mal habe ich Hoffnung, meine Stiefmutter loszuwerden. Ausnahmsweise bin ich nicht der Stein des Anstoßes. Dabei hätte meine Stiefmutter Grund, ausfällig zu werden, da ich meine finanzielle Unterstützung des Haushaltes in Raten abstottern muss. In dieser Hinsicht zeigt sie sich schadenfroh. Willkommen im Lumpenproletariat, scheint sie sagen zu wollen. Habe ich nicht immer gesagt, dass du dort hingehörst? Der Stein des Anstoßes ist vielmehr meine Schwester. Diese hat einen Mann kennengelernt. Als ihre Beziehung eine festere wird, kommt er zu Besuch und bringt seinen Skatklub mit. Einer der Skatbrüder vermag in hohen Tönen zu singen. Deswegen wird er von den anderen Mitgliedern des Skatklubs aufgefordert, ein Lied anzustimmen. Der singende Skatbruder ziert sich. Dann singt er doch. Das kann nicht sein, sage ich mir, dass außer mir keiner protestieren möchte. Ich halte mir beide Ohren zu und nehme Reißaus. Als ich nach einer Weile zurückkehre, sage ich nichts, weil ich meiner Schwester den Tag nicht verderben möchte.

 

Meine Stiefmutter nimmt in verbissener Wut hin, dass meine Schwester in naher Zukunft heiraten könnte. Der Bergwerksdirektor ist mit dieser Entwicklung gleichfalls nicht einverstanden. Er verspricht meiner Schwester ein Auto und mehr Geld auf die Hand. Sie darf auf immer das Faktotum der Familie bleiben, sofern sie nicht heiratet. Es ist das Kreuz meiner Schwester, nicht „Nein“ sagen zu können. Aber diesmal leistet sie Widerstand. Am Ende greift die Frau des Bergwerksdirektors ein. „Lass sie“, sagt sie. „Verstehst du nicht, dass sie ihre eigene Familie haben will?“ Der Direktor einigt sich mit meiner Schwester. Sie kommt aushilfsweise wieder, wenn in der Familie des Direktors Not am Mann ist.

 

Ich gehe über die Gärten nach Hause und betrete mein Haus nur noch von hinten durch den Keller. Ich möchte nicht, dass mich jemand sieht. Ich habe wieder im Hafen gearbeitet, nachdem meine Stelle als Manager eines Brauereikellers ausgelaufen ist. Als ich die Wohnung meines Vaters betreten habe, überkommt mich wütender Hunger. Ich schlinge das Essen in mich hinein. Seit einiger Zeit esse ich direkt aus dem Topf und scheine täglich um einen Zentimeter zu wachsen. Es klopft an der Tür. Die Bedienerin aus der Kneipe mit Dortmunder Kronen­Bier hat eine Nachricht zu überbringen. Mein Schwager hat angerufen und mitgeteilt, dass meine Schwester einen gesunden Jungen entbunden hat. Meine Stiefmutter wird kreidebleich. Dieses Glück kann sie meiner Schwester nicht gönnen. In den folgenden Tagen flippt sie aus, ohne zuvor nach einem Anlass zu suchen.

 

Mehrere Wochen vergehen, aber meine Stiefmutter schreit weiter. Mein Vater und ich sollen sich genieren, weil das ganze Haus mithören kann. Meine Stiefmutter merkt zunächst nicht, dass sie nichts durchsetzen kann, wenn sie keine Forderungen stellt. Dann stellt sie ersatzweise eine Forderung auf, die sich nicht auf meine Schwester bezieht. Ich soll, da ich mich nur noch herumtreibe, in ein Heim. Mein Vater beginnt zu schwächeln, sobald meine Stiefmutter zu schreien beginnt. Ihrer letzten Forderung kann er freilich nicht zu stimmen. Jetzt hat meine Stiefmutter ihren Grund, weiter zu schreien. Sie hat ähnliche Forderungen früher erhoben. Jetzt hätte sie bessere Begründungen dafür.

 

Mir wurde ein Job als Lagerverwalter zugesagt. Ich möge über einen Zeitraum von zwei Wochen kommen, sagt mein künftiger Meister. Danach sei der alte Lagerverwalter wohl wieder gesund. Da hat mir der Mann eine Ringeltaube geschenkt. Leider liegt das Lager in Holzwickede fast jenseits der Stadtgrenzen. Das dauert lange, bis ich meine Arbeit über öffentliche Verkehrsmittel erreiche.

 

Am ersten Tag meines Jobs als Lagerverwalter habe ich verschlafen. Ich will durch den Keller nach draußen, als ich sehe, dass vor einem der Kellereingänge ein Fahrrad steht. Ich nehme das Fahrrad und fahre zu meinem Job. Ich bekomme mehr im Lager zu tun, als ich erwartet habe. Als der Feierabend naht, fühle ich mich ganz schön kaputt. Auf meiner Rückfahrt platzt meinem Fahrrad ein Reifen. Ich versuche, es zu reparieren, ohne dass mir das gelingt. Ich lehne das Fahrrad an eine Laterne und mache mich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle.

 

Mein zweiter Tag als Lagerverwalter hat ein Ende genommen. Ich gehe zu meinem Fahrrad. Notfalls werde ich es zu Fuß nach Hause schieben müssen. Aber dort, wo ich es abgestellt habe, ist das Fahrrad nicht mehr. Der Wirt der Kneipe mit Dortmunder Kronen­Bier wird ausfällig, als er entdeckt, dass sein Fahrrad fehlt. Er glaubt, mich überführen zu können. Er will dieses oder ein anderes gleichwertiges Fahrrad haben, und zwar sofort. Sonst, droht er. „Geben Sie mir drei Tage Zeit“, sage ich dem Wirt. Mir macht der Zorn des Wirtes nichts aus, aber mein Vater tut mir leid. Er kommt jeden Tag kaputter vom Pütt. Zu Hause wird er nur angeschrien. Jetzt hat sein Sohn ein Fahrrad geklaut.

 

Am nächsten Tag spreche ich im Fundbüro der Stadtverwaltung vor. Der Beamte führt mich in einen riesigen Keller. Dort sind Hunderte gefundener und abgegebener Fahrräder abgestellt. Es wäre nicht möglich, das verlorene Fahrrad zu finden, selbst wenn es hier stünde. Der Beamte fragt mich nach Einzelheiten zum Fahrrad. Die kenne ich nicht. „Es ist wahrscheinlicher, dass es gestohlen wurde“, sagt er.

Was nun, frage ich mich.

 

Die Besitzer der „Mausefalle“ betreiben ein Pfandhaus gleich ne ben an. Vielleicht gibt es dort ein gebrauchtes Fahrrad zu kaufen. Als ich im Pfandhaus vorsprechen will, ist es geschlossen. Ich begebe mich in die Kneipe. An der Theke frage ich, ob der Chef da ist. Der Kellner vor dem Tresen deutet mit dem Daumen nach hinten. Um den Tisch mit dem Chef zu erreichen, muss ich an den Zuhältern für die älteren Bordsteinschwalben vorbei. Am Nebentisch sitzen die Huren, die in Rente gehen sollten. Für fünf Mark wichsen sie dir unter dem Tisch einen ab. „Hi, Süßer“, sagt eine zu mir, aber nur so zum Spaß.

 

Ich baue mich vor dem Tisch des Chefs auf. Er spricht mit seinen Kumpels. Sie beachten mich nicht. Ich lümmele mich herum. „Was willst du hier, Kurzer?“ fragt einer von ihnen. Ich bin länger als er, aber darauf gehe ich nicht ein. Stattdessen sage ich: „Ich möchte ein gebrauchtes Fahrrad kaufen.“ „Wir sind doch kein Fahrradgeschäft“, sagt der Kumpel und beginnt mit den anderen zu lachen.

 

Ich zucke mit den Achseln und setze mich in Bewegung. „He, warte“, sagt der Chef, während er seine Leute mit einer Handbewegung befriedet. Er beobachtet mich. „Wie viel willst du für das Fahrrad bezahlen?“ Ich überlege, was ich in den nächsten drei Tagen höchstens verdienen kann. Ich addiere die Summen und nenne ihm den gesamten Betrag.

 

„Komm morgen wieder“, sagt der Chef. „16 Uhr. Bis dahin haben wir dir ein Fahrrad organisiert.“ Die Kumpels am Tisch lachen. Ich vermute, dass sie sich darüber freuen, dass ich nicht weiß, was „organisieren“ heißt. Ich lasse sie in ihrem Glauben. „Kann ich auch Donnerstag kommen?“ frage ich. „Ich muss das Geld erst besorgen.“ „Das geht auch“, sagt der Chef. „Donnerstag, 16 Uhr“, sage ich und gehe nach draußen.

 

Ich gehe in die Kneipe mit Dortmunder Kronen­Bier. Der Wirt steht hinter der Theke. „Ein Bier“, sage ich. Aber dieser Wirt will mir kein Bier zapfen. „Das Fahrrad steht unten“, sage ich. Der Wirt nickt kaum merklich. In diese Gaststätte werde ich nie wieder gehen. Ich freue mich, als sie im Zuge der baldigen Zechenschließung kaputtgeht. Mein Vater hat ein Tonbandgerät angeschafft. Wenn meine Stiefmutter zu schreien beginnt, stellt er das Tonband an und zeigt meiner Stiefmutter, wie sich die Scheiben drehen. Er will das Band seinem Anwalt geben, damit dieser zu dem Geschrei meiner Stiefmutter einen Schriftsatz verfasst. Meine Stiefmutter gibt wenngleich nur vorläufig nach. Sie will in mein Zimmer ziehen. Ich verfüge seit mehreren Jahren über ein eigenes Zimmer, nachdem eine weitere Familie von unserer Etage weggezogen ist. In meinem Zimmer steht wenig mehr als ein Bett, ein Ofen, ein Tisch und mehrere Stühle. Dazu kommen einige Bücher, sofern ich sie nicht, weil ich unbedingt etwas Geld brauchte, den Antiquaren vermacht habe. Meine Stiefmutter zieht in mein Zimmer. Ich kehre in meine frühere Wohnung zurück. Das Gericht beraumt einen Scheidungstermin an. Der Richter schüttelt über die Eingaben des Anwaltes meines Vaters den Kopf. Der Anwalt meines Vaters sagt: „Wir unter Akademikern.“ Aber sein Versuch, den Richter zu umgarnen, verfängt nicht. Vielmehr fragt der in den Raum: „Wann hatten Sie das letzte Mal Verkehr?“ „Vorgestern“, sagt meine Stiefmutter ohne zu zögern. Die Verhandlung ist geschlossen. So ist das mit den Menschen aus den unteren Schichten. Sie müssen ficken, selbst wenn sie einander spinnefeind sind.

 

„Aber das stimmt nicht“, sagt mein Vater, als die Verhandlung ihr unschönes Ende genommen hat. „Warum sind Sie nicht eingeschritten?“ „Sie hätten selbst was sagen können und sollen“, sagt der An walt. „Sind Sie überhaupt für etwas gut?“ fragt mein Vater.

 

Am nächsten Tag geht mein Vater zu seinem Anwalt in die Kanzlei und macht ihm Vorwürfe. Der Anwalt habe ihm nicht zugehört und nichts aus seinen Erzählungen gemacht. Er habe auch sonst kaum etwas getan. Das komme, weil er wenig an ihm verdiene. Zur Rede gestellt, gelobt der Anwalt Besserung. Das ist immer noch besser, als meinen Vater in seinem rechtschaffenen Zorn ein weiteres Mal auf seiner Matte zu erleben und zusehen müssen, wie er andere Man danten vergrault.

 

Der Anwalt setzt für meinen Vater das Armenrecht durch. Jetzt soll mein Vater geschieden werden, weil meine Stiefmutter meinen Vater betrogen hat. Mehrere Nachbarinnen, denen das Geschrei meiner Stiefmutter auf den Wecker gefallen ist, wollen bezeugen, dass sie dem Rentner, dem sie früher den Haushalt geführt hat, in aller Öffentlichkeit geküsst hat. Sie hat sich von ihm befummeln lassen. In dieser Zeit schuftete mein Vater auf dem Pütt. Diesmal scheinen die Voraussetzungen für eine Scheidung besser zu sein. Meine Stiefmutter realisiert, dass sie einpacken kann, wenn sie schuldig geschieden wird. Dann ist nichts mit dem Unterhalt und auch nichts mit einer Beteiligung an der späteren Rente meines Vaters. Also holt sie zum großen Schlag aus. Sie schreibt einen Brief und schiebt ihn unter die Tür in unsere Wohnung. Darin steht, dass wieder alles gut werden soll. Wenn mein Vater nicht einverstanden ist, wird sie sich umbringen. Dann hat mein Vater zwei Frauen auf dem Gewissen. Mein Vater geht in das Zimmer meiner Stiefmutter und sagt, alles werde gut. Morgen wollen sie gemeinsam zu seinem Anwalt fahren und ihm sagen, dass sie zusammenbleiben wollen.

 

Meine Stiefmutter lächelt meinen Vater an. Sie wäre bereit, mit ihm ins Bett zu gehen. Jetzt gleich. Sie würde sogar mit mir „Mau Mau“ spielen, sobald ich von meiner Arbeit nach Hause zurückgekehrt bin. „Bis morgen dann“, sagt mein Vater und kehrt in seine Wohnung zurück.

 

Ich kehre von der Kokereiwiese über die Gärten zurück und möchte möglichst keinen sehen. Ich will unser Haus durch den Keller betreten, als ich von einer Nachbarin aufgehalten werde. „Weißt du das Neueste?“ fragt sie. „Nein“, sage ich. „Du weißt reineweg nichts, selbst wenn es dich angeht“, sagt sie. Meine Stiefmutter ist tratschend durch die Nachbarschaft gelaufen. Alle wissen, dass die alten Geschichten in unserem Haushalt von vorn beginnen. „Du kannst dich freuen, dass du dein eigenes Zimmer zurückbekommst“, sagt die Nachbarin hämisch.

 

Ich mache auf der Stelle kehrt und marschiere zum Bahnhof. Ich fahre zur Familie meiner Schwester. Auf meinem Weg schlage ich in hilfloser Wut einen Feuermelder ein. „Hallo, hallo“, krächzt es aus diesem. Ich beginne zu laufen. Meine Schwester und mein Schwager sind entsetzt. Gemeinsam fahren wir zu meinem Vater. „Das hast du missverstanden“, sagt mein Vater zu mir, als wir bei ihm angekommen sind.

 

Am nächsten Morgen fahren mein Vater und meine Stiefmutter zu dem Anwalt meines Vaters. Mein Vater legt den Brief meiner Stiefmutter vor. „Hier sehen Sie, sie will mich erpressen“, sagt er. Der Anwalt droht meiner Stiefmutter mit ernsten Konsequenzen für den Fall, dass sie sich umbringen wird.

 

Meine Schwester und mein Schwager sind am gestrigen Abend der Ansicht gewesen, es sei das Beste, wenn sie den ältesten Sohn meiner Schwester zu sich nehmen. Mein Vater findet das auch. Also nahmen sie den Jungen gleich mit. „Pass auf dich auf“, sage ich zu dem Jungen, der in den letzten Jahren zu dem Bruder herangewachsen ist, den ich nie gehabt habe. „So kommt alles auf die Reihe“, meint mein Vater. Ich frage mich, wie mein Vater derart blauäugig sein kann. Die nächste Katastrophe lauert vor unserer Tür. Wir wissen nur nicht, wie sie diesmal beschaffen ist.

 

Mein Vater und ich sitzen einander gegenüber. Ich bin verlegen, weil ich ihm Unrecht getan habe. „Was macht die Arbeit?“ fragt mein Vater. Während er fragt, sieht er mich nicht an. „Ich suche mir wieder einen Versicherungsjob“, sage ich.

 

Mein Vater findet diesen Plan gut, ich aber nicht. Das kommt, weil ich ungern kapituliere. Andererseits sollte man in einen Abgrund, vor dem man steht und in den man geschaut hat, möglichst nicht fallen.